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Erweiterter Handlungsbedarf bei “FAS – Plus”

Im Rahmen der Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms tun sich immer wieder, und das sehr oft, zwei hochkomplexe Problemfelder auf.

Das betrifft zum einen die Differenzialdiagnostik im Zuge anderer psychiatrischer Erkrankungen wie beispielsweise bipolare Störung, psychotische Erkrankungen, ADHS oder Depressionen. Zum anderen betrifft es sogenannte Traumafolge-Erkrankungen. Denn auch das Umfeld, in dem sich ein FAS entwickelt, bietet oftmals eine Risikokonstellation für weitergehende Belastungen und Traumata. Auch können frühstrukturelle Störungen aufgrund eingeschränkter Sozialisierungsunterstützung in den ersten Lebensjahren eintreten.

Chefarzt Dr. Khalid Murafi* und Supporter der Kampagne (siehe Link “Team”), sieht bei dem sogenannten “FAS Plus” unbedingt erweiterten Handlungsbedarf: “Bei diesen Kindern und Jugendlichen hilft eine Reduktion allein auf das FAS oftmals nicht. Nach unseren Erfahrungen ist jenseits der üblichen Maßnahmen bei reinen FAS-Diagnosen weitergehende Unterstützung zwingend notwendig.”

FAS Plus war auch auf der FASD Fachtagung in Dortmund ein Thema, das Dr. Khalid Murafi im Rahmen einer Tagesdokumentation zusammengefasst hat:

FASD ist an sich schon eine komplexe Problematik mit vielen unterschiedlichen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Systemen der betroffenen Kinder.

Nicht nur, dass die Kinder durch verzögertes Wachstum und retardierende Reifung auffallen. Sie zeigen Organschädigungen, Stigmata, neurologische und motorische Entwicklungsverzögerungen, außerdem psychotische wie diverse andere Verhaltensauffälligkeiten.

Jenseits dieser schon äußerst komplexen Beeinträchtigungen, hervorgerufen durch Alkohol- und Drogenkonsum in der Schwangerschaft, sind diese Kinder prädestiniert für weitergehende Belastungsfaktoren.

Hintergrund hierfür ist eine vermehrte Neigung der Mütter, auch während der Schwangerschaft gegen besseres Wissen Alkohol zu konsumieren. Ursache dafür kann z.B. eine bestehende Abhängigkeitserkrankung sein und / oder eine mütterliche, nicht angemessene Einschätzung hinsichtlich der Wirkung des Alkoholkonsums. Beides wiederum kann einhergehen mit affektiven Erkrankungen wie z.B. Depressionen oder manisch-depressiven Erkrankungen sowie anderen psychiatrischen Erkrankungen – Psychosen, Angststörungen und unspezifische Affekt- und Impulsregulationsstörungen. Hierbei können genetische Komponenten eine Rolle spielen. Das wiederum führt dazu, dass hier ein erhöhtes Risiko besteht, dass die geborenen Kinder neben den alkoholbedingten Erkrankungen eigenständige psychiatrische Erkrankungen mit genetischen Komponenten entwickeln.

Bekanntlich ist die Zeit der Schwangerschaft mit einem höheren Risiko belastet, auch andere psychosoziale Stressoren aufzuweisen: Partnerschaftskonflikte, soziale Belastungen, Armut, keine ausreichende Gesundheitsfürsorge im Rahmen eines übermäßigen Alkoholkonsums, Partnergewalt, etc. All diese Bedingungsfaktoren führen zu erhöhter Stressauslösung im mütterlichen Organismus, der sich wiederum negativ auf die kindliche Entwicklung im Mutterleib auswirkt. Das bedeutet, dass auch sog. epigenetische Faktoren, also stressbedingte Umprogrammierung genetischer Voraussetzungen in der kindlichen Entwicklung, mit dann erhöhtem Risiko z.B. depressive Erkrankungen entwickeln können.

Die Aspekte der schwerwiegenden lebensgeschichtlichen Belastungsfaktoren während der Schwangerschaft, oder auch mütterlicherseits vor der Schwangerschaft, können einhergehen mit der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung der Mutter und einer komplexen Traumafolgeerkrankung. Diese Stressoren, die sich auch auf das Kind während der Schwangerschaft übertragen, können zu einer deutlichen Beeinträchtigung der frühen nachgeburtlichen Interaktion mit dem Säugling führen. Das wiederum kann die notwendige basale Versorgung des Neugeborenen, sowie die im besonderen emotionale dringend notwendige Resonanz in den ersten eineinhalb bis zwei Lebensjahren deutlich einschränken. Derlei Resonanzentziehungen können auch bei anderen, ebenso bestehenden psychiatrischen Erkrankungen mütterlicherseits ohne genetische Komponenten – so z.B. bei eigener mütterlicher frühstruktureller Störung (oftmals auch als Borderline-Störung benannt) – rederent sein.

Die eingeschränkte Resonanzfähigkeit mütterlicherseits führt zu einer desorganisierten chaotischen Entwicklung der emotionalen Selbstwahrnehmungs- und Selbstregulationsfähigkeit des Kindes. Das hat entsprechend weitreichende und tiefgreifende Folgen für die weitere emotionale und psychische Entwicklung des betroffenen Kindes; mit dann auch eben der Entwicklung einer sog. frühstrukturellen Störung (also früh entstehend und tief strukturell eingreifend). Das wiederum bedeutet einen sehr langfristigen negativen Effekt auf die Entwicklung des Kindes, zumeist einhergehend mit den schon frühen Verhaltensauffälligkeiten in der Affekt- und Impulsregulation. Mit dem Eintreten in die Pubertät stellt sich dies noch einmal mehr mit aller Deutlichkeit in der Symptomentwicklung dar.

Eine der schwierigen Aufgaben für die betroffenen Kinder ist die Regulation von Gefühlslagen; dies im besonderen in Beziehungen. Das offenbart sich mit dem Eintritt in die Pubertät oftmals ganz besonders durch Brüche mit den Adoptiv- und Pflegefamilien. Die Jugendlichen fallen mit massivem destruktivem Verhaltensweisen auf. Oft sind diese auch gegen sich selbst gerichtet, oder auch gegen innerhalb der bisher vielleicht gerade noch tragfähigen Familienkonstellation bedeutsame und relevante Bezugspersonen.

Nicht selten gibt es bei den von fetalen Alkoholschäden betroffenen Kindern einen Adoptiv- oder Pflegestatus. Allein das Wissen darum stellt für die Kinder eine psychodynamische Last dar, die für sie schwierig zu integrieren ist, wenn sie sich mit diesen Themen beschäftigen wollen oder müssen. Zur eingeschränkten Fähigkeit, mit solchen emotionalen Aspekten umzugehen, kommt auf der Ebene des FASD dann auch noch im Sinne der frühstrukturellen Störung oder anderen bestehenden affektiven Erkrankungen eine hohe Neigung zur Dysregulation.

Dies heißt nicht, dass hier eine grundsätzliche Unfähigkeit zur Psychotherapie besteht. Vielmehr müssen im Behandlungsgang sowohl diese biologisch psychiatrischen Aspekte, teilweise mit einer spezifischen Medikation ( z.B. antidepressiven Medikation oder neuroleptischen Medikation oder stimmungsstabilisierenden Medikation), angegangen werden, als auch psychotherapeutische Maßnahmen auf die jeweilige Gesamtsituation des Kindes oder Jugendlichen angepasst werden. All dies unter möglichst weitgehender Berücksichtigung der komplexen Zusammenhänge. Denn bei diesen Kindern kann es sein, dass eine isolierte Fokussierung auf die schon ausreichend komplexe Problematik der FASD-immanenten Folgen zu kurz greift und es eben zusätzlicher spezifischer Behandlungsangebote bedarf.

In diesem Kontext wurde das Konzept „FAS Plus“ in der Klinik Walstedde entwickelt: Eine weitergehende Diagnostik, sowohl bezogen auf biologische psychiatrische Erkrankungen, Traumafolgeerkrankungen, als auch frühstrukturelle Störungen mit dem Risiko der weitergehenden Persönlichkeitsentwicklungsstörung wird sichergestellt und damit einhergehend spezifische Behandlungsverfahren unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen entwickelt.

Bezogen auf eigene Traumafolgeerkrankung ist auffällig, dass das Milieu, in dem ein erhöhtes Risiko mit vermehrtem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft besteht, eben auch ein Risikomilieu sein kann für frühe Traumatisierung, miterlebter Partnergewalt, selbst erlebter Gewalt oder sexueller Grenzverletzungen.

Nicht zuletzt ist zu beobachten und zu berücksichtigen, dass vor allem bei den Mädchen die fehlende Selbstwirksamkeit der FASD-Kinder bei gleichzeitig ausgeprägtem Wunsch sozial erfolgreich zu sein dazuzugehören, anderen zu gefallen, zu einer leichten Beeinflussbarkeit führen kann, die dazu führt, dass sie selber niederschwellig Opfer von Traumatisierungen werden durch sexuelle Ausbeutung und sexuelle Grenzverletzung.

Hier erleben die Kinder und Jugendlichen über die einfachen Aspekte von sexueller Attraktivität eine hohe Selbstwirksamkeit und eine inadäquate zunehmende Bedeutung für eine andere Person, können dies aber leider nicht genau differenzieren. Dadurch können sie sich selbst nicht ausreichend schützen und werden so nur Objekt der Begierde, aber nicht um ihrer selbst Willen begehrt und geliebt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Risikostruktur über die eigentlichen unmittelbar durch den Alkoholkonsum ausgelösten Belastungen der betroffenen Kinder teilweise deutlich hinausgeht, diese differentialdiagnostisch zusätzlich einer Untersuchung bedarf, im besonderen dann, wenn die bisherigen FASD-orientierten Behandlungsmethoden nicht ausreichend erscheinen, um schließlich noch einmal weitergehende spezifische Behandlungsmethoden angepasst an die individuellen Möglichkeiten zu etablieren.

In der Klinik Walstedde wird in der institutseigenen Ambulanz im Verbund mit der renommierten benachbarten FAS*-Ambulanz unter dem Stichwort „FAS Plus“ der Fokus auf weitergehende Erkrankungen im Rahmen des Fetalen Alkoholsyndroms gesetzt: www.klinik-walstedde.de

Plötzlich die Schockdiagnose

Steht den Kindern nicht schon bei der Geburt ins Gesicht geschrieben, dass sie das Fetale Alkoholsyndrom haben, oder ist dem Arzt nicht bekannt, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat, dann bleiben alkoholbedingte Behinderungen oft genug bis ins Schulalter hinein unerkannt.

Den Kindern und ihren Eltern, sowie allen anderen Menschen in ihrem Umfeld ist zwar bewusst, dass sie beispielsweise Verhaltens- und Lernstörungen haben, manches nicht gut oder gar nicht können so wie andere. Dennoch führen die Kinder jahrelang ein “normales Leben unter normalen Menschen”. Als behindert gelten andere, eben jene, denen man ihr Handicap sofort ansieht oder anmerkt. Und dann kommt der Tag, an dem die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern plötzlich die Schockdiagnose ereilt: Ihr Kind hat das Fetale Alkoholsyndrom (FAS).

Weder Eltern noch ihren Sprößlingen war dieses Krankheitsbild in aller Regel besonders vertraut. Sie betreten ein Neuland, das obendrein sehr komplex und kompliziert ist. Zudem ist FAS eine Diagnose, die das Leben aller Beteiligten für die Zukunft komplett verändert. Ängste und Sorgen beherrschen die Gedanken aller.

Wie bereiten sie die Kinder und Jugendlichen auf die Diagnose vor? Und welche Reaktionen zeigen sie?

Dr. Murafi: Wir führen ein ausführliches Aufklärungsgespräch mit den Kindern und Jugendlichen, altersgemäß sprachlich angepasst an das Entwicklungsalter und die kognitiven Ressourcen der Betroffenen.

Teilweise nutzen wir dazu auch Videomaterial aus dem Internet, zum Beispiel das Video „Max und das Fetale Alkoholsyndrom (FAS)“https://www.youtube.com/watch?v=zzjxrROycmE.

Die Reaktionen sind zweischneidig. In den meisten Fällen sehen wir auf der einen Seite natürlich emotionale Betroffenheit, gepaart mit dem Gefühl, dass in einer frühen Phase des Lebens etwas schief gegangen ist, dass die Betroffenen keine ausreichende Fürsorge erfahren haben. Dies führt oftmals sowohl zu Kränkungen und Verletzungen, Enttäuschung, Wut und Ärger, als auch zu Schuldgefühlen. Das liegt darin begründet, dass die Kinder meist nicht gut aushalten können, dass andere für sie verantwortlich und sie somit abhängig, hilflos und ohnmächtig waren. Die Folge ist, dass sie das Gefühl haben, dass es nur an ihnen gelegen haben kann, dass die Mutter sie während der Schwangerschaft nicht ausreichend fürsorglich behandelt hat.

Auf der anderen Seite sind viele Kinder auch entlastet. Nach einer späten Diagnose haben die meisten von ihnen lange Jahre sehr mit sich gerungen ihre Defizite zu überwinden. Scham- und Schuldgefühle waren ihre ständigen Begleiter, da sie viele altersgemäße Entwicklungsziele nicht einfach erreichen konnten – zum Beispiel im schulischen Kontext oder durch ihr Verhalten. Dass sie den Ärger und die negative Bewertung ihrer sozialen Umwelt auf sich gezogen haben, gehörte zu ihrem täglichen Brot. Nun endlich erhalten sie erstmalig ein Erklärungsmodell, das für sie eben auch eine entlastende Wirkung hat.

Wie reagieren die Eltern auf die Diagnose?

Dr. MurafiIn den meisten Fällen haben ich in meinem klinischen Kontext mit Adoptiv- und Pflegeeltern zu tun. Diese reagieren zunächst entlastet, da ihnen das neue Verständnis auch die Möglichkeit gibt zu verstehen, warum viele ihrer gut gemeinten und intensiv eingebrachten Hilfestellungen nicht immer ausreichend Wirkung entfalten konnten.

Zumeist dominieren aber Traurigkeit und Verzweiflung die Gefühle. Immerhin wird allen Beteiligten klar, dass ein Teil der entstandenen Probleme hätte verhindert werden können, wenn man gewusst hätte, dass es sich bei den Verhaltensstörungen und -auffälligkeiten um das Ergebnis neurologischer Schäden handelt.

Darüber hinaus und im besonderen macht den Eltern zu schaffen, dass auch der weitere zu begleitende Weg mit Sicherheit nicht einfach sein wird. Hierbei kommt erschwerend hinzu, dass es für FAS keine einfache spezifische Behandlung gibt. Vielmehr ist es so, dass man lediglich versuchen kann, den komplexen individuellen Anforderungen gerecht zu werden, soweit dies eben möglich ist.

Was kann ihnen helfen mit der Diagnose umzugehen? Was raten Sie den Kindern und Jugendlichen persönlich? Was raten Sie den Eltern?

Dr. Murafi: Allen gemeinsam rate ich die vollständige Akzeptanz der Diagnose. Es ist ganz wichtig, dass mit der Diagnose frühzeitig Frieden geschlossen wird, dass akzeptiert wird, dass es eine Entwicklung gab, die eine solche Erkrankung hervorgerufen hat. Die durchaus nachvollziehbaren emotionalen Betroffenheiten und die sich immer wieder darstellenden Schuldthemen sind am Ende des Tages wenig förderlich für den therapeutischen Verlauf.

Das heißt im Klartext: Alle sollten möglichst pragmatisch mit der Diagnose umgehen. Das bedeutet, individuelle Förderpläne zu erstellen und immer wieder im besonderen die kleinen positiven Schritte der Entwicklung des Schützlings in den Vordergrund zu stellen. Dabei sollte sich natürlich immer angemessen an den Defiziten des Schützlings orientiert werden. Frühzeitiges Erkennen der Defizite ermöglicht frühzeitige Behandlung und damit Schutz vor unnötiger seelischer Qual.

Bei den Kindern und Jugendlichen werde ich oft mit dem Thema konfrontiert, dass sie sich die Frage stellen, ob man ihnen in der Öffentlichkeit, zum Beispiel aufgrund der Stigmata im Gesicht, das FAS ansehen könne. Hier kann ich zumeist beruhigend auf die Kinder eingehen und ihnen vermitteln, dass dies nur durch Experten erkannt werden kann. Ich kann wirklich beruhigen: Im allgemeinen ist niemand derartig auffällig und könnte durch die soziale Umgebung zugeordnet werden.

Im übrigen ist mir sehr positiv aufgefallen, dass die betroffenen Kinder in Gruppen sehr offen in den Austausch miteinander gehen, oftmals sogar relativ unbefangen einen Umgang mit dem Thema finden, sich gegenseitig befragen, ob man ihnen FAS ansehen kann.

Welche begleitenden Massnahmen halten sie nach der Diagnose und Erstbehandlung für die Betroffenen und ihre Familien für sinnvoll und erforderlich?

Dr. Murafi: Neben den spezifischen Maßnahmen – zum Beispiel bei Aufmerksamkeitsstörungen, motorischer Entwicklungsverzögerung, Sprachentwicklungsverzögerung, Zahnstatus, organischen Problemen (Herz, Niere, Augen, Ohren) etc., den spezifischen pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen – braucht es mit Sicherheit für die gesamte Familie eine gute stabile psychotherapeutische Begleitung auf dem gemeinsamen langen Weg. Psychotherapeutische Unterstützung hilft im besonderen, die immer wieder stark aufkommenden Emotionen, Frustrationen und Rückschläge einzuordnen. Wichtig ist darüber hinaus, dass alle Familienmitglieder gemeinsam auf einen, die positiven Beziehungsaspekte erhaltenden Weg, begleitet werden. Ein solche, vertrauensvolle langfristig angelegte Beziehung, erscheint mir eines der wirklich hilfreichen Interventionen in der Begleitung von Familien mit FAS-Kindern zu sein.

Autorin: Dagmar Elsen