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Der Rollstuhl der Seele und des Gewissens ist nun mal unsichtbar!

Der am 12. Dezember losgetretenen Petition, dass das Fetale Alkoholsyndrom dringend bundesweit anerkannt und in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersmedV) als solche gelistet werden muss, haben sich mehrere Verbände und Vereine angeschlossen. So auch der Bundesverband behinderter Pflegekinder unter dem Vorsitz von Kerstin Held. Hierzu ihr deutlicher Kommentar:

“Ich finde es fast dramatisch, dass es wiederholt eine Petition braucht, um das Fetale Alkoholsyndrom (FASD) in die VersmedV) aufnehmen zu lassen. Es wirkt surreal, dass die Prävention zur Vermeidung von Schäden durch Alkohol im Landwirtschaftsministerium verortet sind. Zwar gibt es eine staatliche Verpflichtung zum Schutz des ungeborenen Kindes, aber beim Konsum von Alkohol scheint diese legale Droge eine größere Lobby zu haben.

Es gibt keine unbedenkliche Menge Alkohol für ein ungeborenes Kind! Oder würde jemand einem Säugling einen Schluck Wein in die Flasche füllen, weil das Bisschen Alkohol nicht schadet? Bereits geringe Mengen Alkohol können das ungeborene Kind schädigen. In manchen Fällen sind die Kinder von schwerer Behinderung betroffen. Hier ist die Diagnose nicht schwierig. Das sogenannte Vollbild bringt so viele Diagnosen mit, dass die Kinder entsprechende Anerkennungen und Zugänge zu Rehabilitation bekommen. Wenn gleich die Ursache dafür ein legales Nervengift ist.

Die meisten Kinder mit einer „einfachen“ hirnorganischen Schädigung im Prefrontalcortex (Frontstirnlappen des Gehirns), denn hier liegen die häufigsten „Einschüsse“ des toxischen Einflusses durch Alkohol, werden nicht richtig oder gar nicht diagnostiziert. Ihre Behinderung scheint unsichtbar und die Mütter geben aus Angst vor Stigmatisierung den Alkoholkonsum nicht zu. Dabei ist die Anerkennung dieser Behinderung in jeder Form elementar, um den Kindern so früh wie möglich die richtige Begleitung und Förderung zu ermöglichen.

Fehldiagnosen wie ADHS, atypischer Autismus und andere entlasten zwar unsere Gesellschaft und vor allen Dingen die Mütter aus der „Schuld“, helfen dem Kind aber häufig nicht genug. Ich gebe einem Querschnittgelähmten auch keinen Tretroller – Räder sind eben nicht gleich Räder! ES BRAUCHT SICHTBARKEIT UND ANERKENNUNG!

Ich stehe jeden Tag mit meinen Pflegekindern mit FASD vor denselben Herausforderungen. Jeden Tag vor denselben Konflikten und Erklärungen in unserer Gesellschaft. Meine Kinder haben wundervolle Wegbegleiter gefunden und ich Entlastung durch Fachkräfte. Nur so ist Familie möglich.

Eine Anerkennung als Behinderung und somit Zugänge zu Förderung und Hilfen zu schaffen ist das Mindeste, wenn es uns schon nicht gelingt, verantwortungsbewusst mit dieser legalen Droge umzugehen. So lange Alkoholwerbung sportlich, sinnlich, prickelnd, herb, feierlich ist und den Regenwald rettet, werden mehrere tausend Kinder jährlich allein in Deutschland mit dieser vermeidbaren lebenslangen Behinderung geboren.”

Der Petition von HAPPY BABY INTERANTIONAL e.V. angeschlossen haben sich der Bundesveband behinderter Pflegekinder, Pfad Niedersachsen Landesverband Pflege- und Adoptivkinder, das Aktionsbündnis FASD Adult, PAUL Niedersachsen, das FASD-Fachzentrum Hamburg, die ups – unabhängiger Selbsthilfegruppe Dortmund

Fetale Alkoholschäden müssen als Behinderung anerkannt und festgeschrieben werden

Wir brauchen Deine Stimme !

Happy Baby International e.V. hat eine PETITION gestartet – für eine bundesweite ANERKENNUNG, dass fetale Alkoholschäden als BEHINDERUNG gelten und dies in der VERSORGUNGSMEDIZIN-VERORDNUNG festgeschrieben wird.

In unserem Link “Petition” kannst Du unterschreiben.

Das Fetale Alkoholsyndrom ist wenig sichtbar. Es sind vor allem geistige Behinderungen, verursacht durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Die Kinder, die mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommen, haben ein Leben lang unter diesen Behinderungen zu leiden. 1,6 Millionen Menschen* sind in Deutschland davon betroffen. Jedes Jahr wieder kommen über 10.000 betroffenen Babys dazu. Trotzdem gilt das Fetale Alkoholsyndrom nicht als Behinderung.

WARUM DAS ABER DRINGEND NOTWENDIG IST

Ohne die Anerkennung als Behinderung fehlt es allerorten an Verständnis, dass die betroffenen Menschen Hilfe und Unterstützung brauchen. Kaum einer von ihnen ist in der Lage, ein Leben in Selbständigkeit zu führen.

Schon als kleine Kinder brauchen sie Therapien, später Kindergarten- und Schulbegleiter, im Erwachsenenleben Hilfe im täglichen Leben, Begleitung bei der Ausbildung oder der Arbeit, Unterstützung bei Behördengängen, beim Arbeitsamt und bei Verhandlungen mit der Krankenkasse.

Denn Menschen mit fetalen Alkoholschäden sind vor allem kognitiv sowie im sozial-emotionalen Verhalten extrem eingeschränkt. Ihre Aufnahmefähigkeit ist begrenzt, ebenso wie die Gedächtnisfähigkeit. Fast allen fehlt das Zeitgefühl und der Orientierungssinn. Viele leiden unter ständiger innerer Unruhe, schwerem Impulskontrollverlust, gefolgt von ekzessiven Wutanfällen, die ihre Angehörigen an den Rand der Belastbarkeit bringen.

Und so brauchen auch die Eltern, Adoptiv- und Pflegeeltern Hilfe und Unterstützung, ohne die sie auszubrennen drohen.

Das Fetale Alkoholsyndrom ist gesellschaftlich bisher nicht anerkannt, Fakt ist:

80% der Betroffenen landen unbeachtet am Rande der Gesellschaft – in der Obdachlosigkeit, in der Psychiatrie, dem Gefängnis oder im Drogen- und Prostitutionsmilieu, viele begehen Suizid**

*Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen

**World Health Organization

Ohne klare Regelung herrscht überall die Willkür

Stellungnahme zur Ablehnung der Petition zur Aufnahme der Kriterien der Fetalen Alkoholspektrum-Störung in die VersMedV

Nevim Krüger , Pfad Niedersachen e. V., Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien:

Die Begründung für die Ablehnung der Petition, dass nicht jede Krankheit namentlich genannt werden muss, damit ihre Defizite und Teilhabeeinschränkungen mit den vorhandenen Bedarfsermittlungsinstrumenten ausreichend erfasst werden können, verursacht genau das, was Betroffenen in der alltäglichen und gängigen Praxis in Behörden entgegenschlägt: ebenso mannigfaltige Fehldeutungen und -einschätzungen wie es mannigfaltige Auswirkungen und Komorbiditäten von FASD gibt.

Ohne eine für alle verbindliche Definition dieser Störung werden sie in ihrer Fülle nicht als eine direkte Folge der strukturellen Hirnschädigung und des dysfunktionalen ZNS gesehen, die dieser Behinderung zugrunde liegen. Besonders hervorzuheben sind hier die fehlenden bzw. stark eingeschränkten sogenannten Exekutivfunktionen, die sich nur mit dem Wissen um die typischen Merkmale von FASD richtig einschätzen lassen. Alle anderen Deutungen führen zu größtenteils falschen, lückenhaften oder uneffektiven Maßnahmen und überfordernden Zielvereinbarungen. Diese belasten nicht nur Betroffene wie Angehörige zusätzlich, sondern auch die Ressourcen der helfenden Systeme verschwenden.

Viele der Folgen von FASD können durch eine annehmende, wissende und eine der Behinderung angemessene Unterstützung abgemildert werden. Leider führt das immer wieder dazu, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit FASD, denen dieses Glück zuteil wird, dann allerdings die Behinderung abgesprochen bzw. der Grad einer Behinderung zu gering eingeschätzt wird. Ein junger Erwachsener, der eine gute und stark unterstützende Anbindung an sein Elternhaus (Pflege- oder Adoptivfamilien/Bezugsperson) hat, erscheint nicht unbedingt hilflos. Fällt dieses tragende Gerüst auch nur kurz weg, wird die Hilflosigkeit sofort erlebbar. Sie führt relativ schnell zu zahlreichen Problemen bei der alltäglichen Lebensbewältigung, bis hin zum kompletten sozialen Absturz. Die relative Stabilität unter oft sehr aufwändiger familiärer Unterstützung ist also trügerisch.

FASD braucht unbedingt eine grundsätzliche Anerkennung als Behinderung aus folgenden Gründen:

  • Die Behinderung, die 1.000 Gesichter hat, und meist nur mit ein bis zwei Hauptsymptome als Spitze des Eisberges gesehen wird, muss behandelt und anerkannt werden.
  • Auch die Diagnosen pFASD und ARND müssen dringend als Behinderung mit einem Grad von mindestens 50 anerkannt und verankert werden, da gerade diese Menschen aufgrund der fehlenden äußerlichen Merkmale viel zu oft durchs Raster fallen. Außerdem drohen ihnen sowie den Bezugspersonen häufig Überforderungen und Fehldeutungen mit teilweise katastrophalen Folgen (Herausnahme der Kinder aus Familien, Einstellung der Hilfen usw., Fehldiagnosen besonders im psychiatrischen Bereich).
  • Wenn es eine grundsätzliche Anerkennung von FASD als Behinderung gibt, entfällt eine der größten Hürden in der Genehmigung und Gewährung von den so dringend nötigen Hilfen. Es würde somit auch eine konkrete Notwendigkeit des Wissens und der Fortbildung/Qualifizierung zu diesem Syndrom entstehen. Die müßigen Antrags- und Widerspruchsverfahren, mit wiederum katastrophalen Folgen, sollten diese negativ entschieden werden, würde es nicht mehr geben. Die von FASD betroffenen Menschen würden einen selbstverständlichen Zugang zu Hilfen zur Teilhabe erhalten. Das hätte positiv zur Folge, dass weder sie selbst noch ihr Bezugssystem einer Abhängigkeit von Wissensständen und der daraus resultierenden Willkür einzelner Sachbearbeiter in den Versorgungsämtern unterlägen.
  • Unserer Auffassung nach ist es geradezu unwürdig für Menschen mit FASD, immer wieder beweisen zu müssen, dass sie durch den vorgeburtlichen Alkoholkonsum eine Behinderung erlangt haben.
  • Allein die ewigen Kämpfe und Erklärungen behindern die Menschen noch zusätzlich und verursachen weitere Schäden der meistens sehr fragilen psychischen Gesundheit.

Im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzende des Landesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien erlebe ich seit Jahren täglich die Auswirkungen, die die Fehldeutung und die fehlende Akzeptanz der Behinderung von FASD auf die Betroffenen und deren Bezugspersonen haben. Der ohnehin schon schwer zu gestaltendem Alltag wird somit nur noch mehr belastet; Hilfen sind nie sicher und immer hängt die latente Ablehnung oder Fehleinschätzung als Damoklesschwert über den Betroffenen und ihren Angehörigen.

Die Menschen mit FASD brauchen Akzeptanz, Kontinuität und ein wissendes Umfeld, um ein würdiges Leben führen zu können. Die fehlenden bzw. stark eingeschränkten Exekutivfunktionen und die große Hilflosigkeit, wenn sie allein auf sich gestellt sind/wären, müssen durch eindeutige Definition eine für alle verbindliche Anerkennung erhalten.

Wir fordern die Verankerung von FASD in der VersMedV.

Udo Beissel: In den seltensten Fällen wird eine adäquate Leistung erbracht

Stellungnahme

Udo Beissel

FASD Peerberater

Vorstand des Fördervereins Aktionsbündnis FASD adult

In der Ablehnung einer bereits zu unserem Anliegen eingereichten Petition argumentierte der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags, „dass für die Feststellung einer Behinderung nicht die Diagnose und deren Einordnung in eine Klassifikation maßgeblich sei. Gemäß dem biopsychosozialen Modell des modernen Behindertenbegriffs seien vielmehr die Auswirkungen von Funktionsstörungen auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben relevant. Es sei deswegen nicht nötig, sämtliche der 36.00 möglichen Diagnosen aufzuführen. In der VersMedV sei festgelegt, dass alle Gesundheitsstörungen, die die Teilhabe beeinträchtigen, im Einzelfall zu berücksichtigen sind. Eine adäquate Beurteilung der vielfältigen Beeinträchtigungen bei FASD sei mit den vorhandenen Regelungen möglich.“

Die theoretische Möglichkeit einer adäquaten Beurteilung muss gar nicht in Frage gestellt werden. Diese wäre aufgrund der ICF-basierten Bedarfsfeststellungsinstrumente der Länder möglich. Allein die Praxis belegt eindeutig: In den seltensten Fällen kommt es zu einer adäquaten Leistungserbringung.

Als Vater von zwei erwachsenen Söhnen mit FASD und anderen komorbiden Erkrankungen, seit zwei Jahren ehrenamtlich tätiger Peerberater für betreuende Angehörige von adoleszenten bzw. erwachsenen Betroffenen, beratender Beistand einer EUTB-Stelle in Hamburg, kann ich mit Fug und Recht behaupten: Zu bedarfsgerechten Leistungen, die den Defiziten der Betroffenen vollumfänglich gerecht würden, kommt es selbst dann nicht, wenn sogar ein Grad der Behinderung von mind. 70%, sowie die Merkzeichen G, B und H korrekt vergeben wurden. 

Das hat folgende Gründe:

  • FASD wird auch ´die unsichtbare Behinderung´ genannt. Nur in ca. 20% der Fälle zeigen die Betroffenen die typischen facialen und physischen Merkmale, nach denen nötigenfalls auch ohne Bestätigung des Alkoholkonsums der Mutter eine FASD-Diagnose gestellt wird.  
  • Es gibt eine hohe Dunkelziffer an Betroffenen – die sich ihrer fetalen Alkoholschäden noch nicht einmal bewusst sind – und zahlreiche falsch diagnostizierte Fälle. Typische Fehldiagnosen mit dementsprechend falsche Behandlungszielen sind z.B. AD(H)S oder Borderline. Typische Verhaltensauffälligkeiten werden oft mit dissozialen Gewohnheiten erklärt. Als Erklärung dafür wird vorzugsweise das Elternhaus herangezogen.
  • Viele, z.T. erhebliche Defizite, z.B. bei den sog. Exekutiven Funktionen, werden nicht als Behinderung, sondern als therapierbare Dysfunktionalitäten eingestuft. Ihnen wird sodann mit Maßnahmen begegnet, deren Weiterbewilligung vom Erfolg der Zielvereinbarungen abhängig ist. Das hat fatale Konsequenzen:            
  • a) ist die hirnorganische Schädigung bei FASD grundsätzlich nicht therapierbar – ergo bleiben die Erfolge aus
  • b) führen die folgerichtig häufigen Abbrüche zu sekundären Störungen, die sich mit Traumatisierungen vergleichen lassen. Nicht als das wahrgenommen zu werden, was man ist, würde auch Menschen ohne Handicaps auf die Dauer zerrütten und demotivieren. Aber gemäß der Redewendung: wer nicht will, der hat … halt selber schuld, gilt mangelnde Compliance in den helfenden Systemen als Begründung dafür, keinen weiteren Bemühungen mehr nachgehen zu müssen. Es gilt das Recht der Selbstbestimmung und die folgende Verwahrlosung ist demnach ein freiwillig gewähltes Schicksal. Obwohl in den Leitlinien zur Inklusion nirgendwo steht, dass Inklusionsbemühungen aufgrund mangelnder Compliance aufgegeben werden dürfen, ist genau das der Grund, warum Betroffen bald unter dem Radar laufen – sie landen auf der Straße, im Strafvollzug oder gar in der Forensik. Bestenfalls belasten sie das Gesundheitssystem – sozusagen notfallbetreut – als sog. Drehtürpatienten in den Psychiatrien. Inwieweit hier das Selbstbestimmungsrecht als Ausrede für unterlassene Hilfeleistung mit schweren Folgeschäden für die Betroffenen herhalten muss, wäre eine interessante Aufgabe für den BGH. 
  • FASD wird in allen Ausbildungen relevanter Berufe so gut wie gar nicht berücksichtigt. Das führt zu grundlegenden Fehleinschätzungen und dadurch zu keinen oder nicht ausreichenden Leistungen. Die Unkenntnis ist natürlich auch unter den Personen verbreitet, die Widerspruchsfälle prüfen: Fachärzte, Gutachter, der MDK, die Krankenkassen, Vertreter von Kostenträger, Richter. Zudem fehlt es an korrekten Definitionen, zu denen die beklagten Fehleinschätzungen ins Verhältnis gesetzt werden könnten. Der ICD wird erst in der kommenden 11. Überarbeitung den Begriff FASD überhaupt als solchen erwähnen. 
  • Die allseits fehlenden akademischen Zertifizierungen nehmen viele Entscheidungsträger zum Anlass, die Relevanz von FASD zu unterschätzen, zu ignorieren oder gleich ganz in Frage zu stellen. Allein die Unterschiede bei diesem verbreiteten Verhalten lässt die Schlussfolgerung zu, dass ICF-orientierte Instrumente zur Bedarfsfeststellung alleine nicht reichen, um faktische Leitlinien zu ersetzen. Könnte jeder darauf zugreifen, könnte es dadurch zu objektiven Ergebnissen zu kommen. Eine Aufnahme von Leitlinien zu FASD in die VersMed würde sämtliche Diskussionen, ob es FASD überhaupt gibt, überflüssig machen. Ich möchte daran erinnern, dass es bei AD(H)S und Autismus anfänglich die gleichen Diskussionen gab, die sich mit der Anerkennung dann sofort erledigt haben.
  • Es mangelt allseits an Fachkräften und Sachbearbeitern mit Fachwissen zu FASD. Ohne die Kenntnisse und Tatkraft von Fachleuten können die Ansprüche von Menschen mit Beeinträchtigungen nicht adäquat umgesetzt werden. In allen anderen Gewerken würde man sich wundern, wenn es durch einen Mangel an ausgebildetem Personal laufend zu Fehleinschätzungen käme, weil sie nicht wüssten, wie die „Instrumente“, die ihnen zur Verfügung ständen, angewendet werden. Warum das in den sozialen Berufen anders sein soll, leuchtet mir nicht ein, scheint aber absurderweise Common Sense zu sein.
  • Fachleute zu FASD sind sich unisono einig, dass FASD eine Art von Rundumbetreuung erfordert. Diese unterscheidet sich jedoch von der allgemeinen Vorstellung einer Rundumbetreuung bei schwerer Mehrfachbehinderung. FASD ist aber leider in den allermeisten Fällen ein schwere Mehrfachbehinderung, auch wenn diese Menschen sich in der Regel alleine anziehen, pflegen und ernähren können. Ohne dass es Leitlinien gibt, die das bestätigen, ist es sehr herausfordernd bis unmöglich, den durchschnittlichen Sachbearbeiter einer Behörde davon zu überzeugen. Man könnte es auch reine Glückssache nennen, die nötigen Bewilligungen zu bekommen. 

Wie bei vielen anderen innovativen gesellschaftlichen Projekten, hinkt die Praxis der Gesetzgebung hinterher. Das ist auch im Fall der durchaus visionären Reformen des SGB IX durch das vorübergehend gedachte BTHG so. Dem Gesetzgeber ist durchaus bewusst, dass vieles erst nach zahlreichen Auseinandersetzungen, inklusive den juristischen Möglichkeiten, zu gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit wird. Das wird sich auch nicht ganz verhindern lassen. Aber der im Verhältnis geringe Aufwand, für FASD die wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse als Leitlinien in die VersMedV aufzunehmen, würde diese Auseinandersetzung erheblich vereinfachen, vieles verhindern und es würde Betroffenen wie Angehörigen sehr viele zermürbendes Elend ersparen. 

Prof. Spohr: Unzulängliche VersMedV führt zu Fehlentscheidungen

Wir von HAPPY BABY INTERNATIONAL e.V., die wir unter anderem die Aufklärungskampagne Happy Baby No Alcohol vorantreiben, hatten dem Petitionsausschuss im Deutschen Bundestag angetragen, ein Petitionsverfahren zuzulassen, um zu erreichen, dass das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) bundesweit einheitlich als Behinderung anerkannt wird.

Dafür ist es erforderlich, dass das Fetale Alkoholsyndrom bzw. die Fetalen Alkoholspektrumsstörungen (FASD) in die Versorgungsmedizin-Verordnung aufgenommen werden. Damit soll gewährleistet werden, dass bei der Feststellung einer Behinderung diese Rechtsverordnung von den Behörden verbindlich angewendet werden muss. Die nerven- und kräftezehrenden Einzelfallkämpfe aller Betroffenen und ihrer Familien landauf landab hätten dann endlich ein Ende.

Dieses Begehren wurde abgelehnt.

Auf drei Seiten wird in dem Antwortschreiben des Petitionsausschusses erläutert:

“Für die Feststellung einer Behinderung ist aber nicht eine Diagnose oder deren Einordnung in eine Klassifikation maßgeblich. Gemäß dem biopsychosozialen Modell des modernen Behinderungsbegriffs sind vielmehr die Auswirkungen von Funktionsstörungen auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben relevant. So ist es auch nicht Aufgabe der Rechtsverordnung, sämtliche der ca. 36.000 medizinisch möglichen Diagnosen aufzuführen. In der VersMedV ist festgelegt, dass alle Gesundheitsstörungen, die die Teilhabe beeinträchtigen, im Einzelfall zu berücksichtigen sind. Bei Gesundheitsstörungen, die nicht namentlich aufgeführt sind, ist der GdB in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen.

Die Berücksichtigung sämtlicher bei FASD im Einzelfall vorliegender Beeinträchtigungen und Auswirkungen auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist somit nicht nur möglich, sondern nach dem Wortlaut der Verordnung geboten. Dieses Vorgehen setzt die Benennung einzelnder Diagnosebezeichnungen in der Rechtsverordnung nicht voraus.

Eine adäquate Beurteilung der vielfältigen Beeinträchtigungen bei FASD ist mit den allgemeinen Regelungen möglich.”

Professor Spohr widerspricht: Unzulängliche VersMedV führt zu Fehlentscheidungen

Dieser Entscheidung kann der international renomierte FAS-Experte, Professor Hans-Ludwig Spohr aus Berlin und Unterstützer unserer Kampage, nicht folgen. Bereits im März hatte er im Deutschen Bundestag dazu schriftlich Stellung bezogen und möchte diese seine Forderungen nun im Kontext zur abscheidigen Antwort des Petitionsausschusses erneuert wissen:

“Viele öffentliche Einrichtungen (vom Jugendamt bis zum Sozialgericht, von der Erwachsenenpsychiatrie bis zum Gesetzgeber) kennen das FASD nicht oder sprechen dem Syndrom kategorisch den Krankheitsstatus ab!

In der „Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD),WHO 10. Revision, Version 2019 findet sich aber ganz eindeutig die Diagnose einer Fetalen Alkohol-Spektrum-Störung (FASD: FAS; partielles FAS, ARND)2. Sie ist dokumentiert in der ICD 10:Q 86.0

Die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten der WHO ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Das FAS ist somit medizinisch eine anerkannte Erkrankung mit einer unterschiedlich intensiv ausgeprägten Behinderung. Dies muss auch in Deutschland gesetzgeberisch abgebildet werden und auch in der Rechtsprechung der Sozialgerichte Akzeptanz finden.

Die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)

7,8 Mio. Menschen in Deutschland sind schwerbehindert. Die VersMedV ist für sie von zentraler Bedeutung. Denn erst die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) und besonders die Zuerkennung des Merkzeichens Buchstabe H= Hilflosigkeit ermöglicht einen Zugang zu vielen Nachteilsausgleichen für behinderte Menschen und stärkt so deren gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung.

Der Grad der Behinderung (GdB) bei einem FAS wird heute von den Versorgungsämtern und Sozialgerichten noch immer unterschiedlich und teilweise nicht nachvollziehbar ermessen und beurteilt; Grundlage dieser Beurteilung ist eben diese Versorgungsmedizin -Verordnung (VersMedV), genauer die Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“. Diese enthält neben allgemeinen Grundsätzen eine Tabelle mit dezidierten Auflistungen von Schädigungen und einer Zahl, die den Grad ihrer Anerkennung beziffert. Die Fetalen Alkohol-Spektrumstörungen sind bisher in dieser Tabelle nicht benannt.

Die VersMedV ist vor diesem Hintergrund bei der Beurteilung der Grad der Behinderung (GdB) der FAS-Betroffenen und ihrer Hilflosigkeit unzureichend.

Mit der VersMedV kann zwar die Hilflosigkeit eines bleibend neurologisch physisch-organisch geschädigten und hilflosen Menschen gemessen werden (wie lange dauert das Füttern, wie lange die hygienische Versorgung, wie intensiv die Begleitung beim Treppensteigen, Laufen etc.). Dies ist aber bei einem dynamischen Krankheitsbild eines FAS mit plötzlichen Exekutiv-Funktionsstörugen oder Impulskontrollstörungen schlicht nicht möglich.

Versorgungsämter erkennen mit Hilfe der insofern unzulänglichen VersMedV in der Regel einen zu geringen Grad der Behinderung (GdB) und kein zusätzliches Merkzeichen H (Hilflosigkeit) an. Das ist beim FASD häufig falsch und führt zu Widerspruch und gerichtlichen Auseinandersetzungen.

Es wäre an der Zeit, dass die Versorgungsämter und Gerichte die Diagnose eines FAS endlich zur Kenntnis nehmen und als Behinderung mit Hilflosigkeit akzeptieren würden. Eine modernisierte Fassung der VersMedV könnte hierfür eine tragfähigere Grundlage bilden. Die VersMedV ist für Menschen mit Behinderung von zentraler Bedeutung, da erst durch sie der Zugang zu vielen Nachteilsausgleichen ermöglicht wird.”

“Ich durfte Schmiere stehen”

Als Dörte K., Mutter von drei Söhnen im Alter von 27, 25 und 14 Jahren, im Jahr 2016 mit ihrem Jüngsten zu einer Untersuchung in die Berliner Charité ging, wurde sie sofort gefragt, ob sie Alkohol in der Schwangerschaft getrunken habe. Ihrem Sohn fehlt nämlich ein Gehörgang, klassisches Indiz für fetale Alkoholschäden. Völlig überrascht wehrte Dörte, die in keiner ihrer Schwangerschaften Alkohol konsumiert hatte, die Vermutung ab. Und völlig überrascht ging sie anschließend mit Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom für sich selbst nach Hause.

Einige Zeit später sollte der Berliner FAS-Experte Professor Hans-Ludwig Spohr diesen Verdacht bestätigen. Da war die Brandenburgerin schon 44 Jahre alt und hatte bis dato immer nur gedacht, dass sie “eben dumm” sei. “Wie soll man sich seine Defizite denn auch sonst erklären?”, fragt sie. Ihrer Seele habe das nicht gut getan, konstatiert Dörte: “Ich habe wenig Selbstwertgefühl. Immer noch. Nicht mehr so schlimm. Es ist besser geworden.”

Was hat die Ärzte veranlasst, den Verdacht auf FAS zu äußern?

Dörte: Sie fragten mich über meine Vergangenheit aus. Ich erzählte ihnen von meinen Gefühlsausbrüchen, meinen Ängsten und Depressionen, von meiner Vergesslichkeit, der Unordentlichkeit und meiner Überforderung. Und ich erzählte von dem Alkoholproblem meiner Mutter.

In welcher Form hatte sie ein Alkoholproblem?

Dörte: Sie hat heimlich getrunken. Sie war unauffällig, weil sie ja alles geschafft hat – den Haushalt, alles familiäre, sich gut um mich zu kümmern.

Wie hast Du es gemerkt?

Dörte: Da war ich zwölf Jahre alt. Eine Freundin hat mich darauf gebracht, als sie sagte, dass meine Mutter immer nach Alkohol rieche. Und dann habe ich zufällig mitbekommen, dass sie Alkohol in Schraubgläser und andere Gefäße in der Küche abgefüllt hat. Als ich sie darauf angesprochen habe, meinte sie. Das ist jetzt unser großes Geheimnis. Auch der Papa darf davon nichts wissen.

Wie war Deine Reaktion?

Dörte: Meine erste Reaktion war positiv. Wie toll, ich habe ein Geheimnis mit meiner Mutter. Im Urlaub durfte ich dann Schmiere stehen auf der Toilette, wo sie Alkohol abgefüllt hat.

Dein Vater muss das doch mitbekommen haben?

Dörte: Ja schon, aber er war Musiker und sehr viel unterwegs. Ich erinnere mich aber, dass er viel mit ihr geschimpft hat. Und er hat mich geschimpft. Er meinte, ich hätte mich zur Co-Alkoholikerin gemacht.

Wann hast Du gemerkt, dass der Alkoholkonsum Deiner Mutter ein großes Problem ist?

Dörte: Sie war morgens, wenn sie nüchtern war, ganz anders als am Abend. Das war eine völlige Wesensveränderung. Das hat mir Angst gemacht.

Trotz Deiner persönlichen Schwierigkeiten und der Situation zu Hause hast Du die Schule geschafft und eine Ausbildung zur Wirtschaftspflegerin gemacht.

Dörte: Weil meine Mutter mich bei allem immer unterstützt hat. Und dann gab es noch meinen Großvater. Da hatte ich immer einen festen Halt.

Wie hast Du die Diagnose aufgenommen?

Dörte: Ich war erst einmal erleichtert. Aha, jetzt weiß ich wenigstens, warum ich so bin. Jetzt weiß ich, dass ich nicht einfach nur dumm bin. Es war gleichzeitig aber auch beschämend. Eine zeitlang hatte ich große Wut auf meine Mutter. Jetzt habe ich ihr aber vergeben. Ich habe meine Mutter ja auch geliebt. Ich hatte einen Jenseitskontakt und das war sehr schön und da kam viel Liebe rüber. Außerdem ist Alkoholsucht eine Krankheit. Noch dazu herrschte in den 70er Jahren noch große Unwissenheit über die Folgen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.

Wie hat Dein persönliches Umfeld auf die Diagnose reagiert?

Dörte: Meine Eltern sind beide schon verstorben. Meine Söhne haben total unterschiedlich reagiert. Am liebevollsten war der Jüngste. Der interessiert sich sehr dafür. Mama, wenn das so ist, ich hätte Dir früher schon viel mehr geholfen und helfe Dir jetzt auf jeden Fall mehr. Mein Ex-Mann, der Vater von den drei Söhnen, sagte: Ach deshalb warst Du so.

Zu meinem jetzigen Mann war ich ganz ehrlich gewesen als wir uns kennen lernten. Er hatte nichts besseres zu tun, als es allen seinen Freunden zu erzählen. Ich habe mich dann gewundert, als eine Frau auf mich zukam und sagte, ich solle doch mal meine Lippen zeigen. Mein Mann und ich hatten daraufhin einen Riesenkrach, weil ich ihm vorwarf, dass er mich doch nicht als behinderte Anschauungspuppe darstellen könne. Für ihn bin ich abgestempelt. Wenn ich mal wütend bin, dann sagt er immer, na siehste, bist halt bekloppt.

Wirst Du ärztlich versorgt?

Dörte: Ich habe eine Neurologin. Die hat auch die Diagnose von Spohr. Aber die glaubt mir nicht. Sie sagt immer, Sie können mehr – weil ich ja auch die Rente beantragt habe. Sie sagt immer, Sie trauen sich zu wenig zu, sie sehen immer so gut und gesund aus. Das kann nicht sein, dass sie krank sind. Ich denke mir, das hat doch nichts mit dem Aussehen zu tun. Das Problem liegt doch innen.

Das Interview führte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Studien-Reise Fetales Alkoholsyndrom – Was gibt’s Neues 2021?

Unsere Botschafterin, die Diplom-Psychologin Annika Rötters, hat sich auf Studien-Reise begeben zu erkunden, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse im Jahr 2021 zum Thema fetale Alkoholschäden veröffentlicht worden sind. Dabei ist sie auf drei große Themenkomplexe gestoßen. Der erste Komplex widmet sich den Fragen, welche Bereiche, wie, durch Alkohol-Exponation in der Schwangerschaft geschädigt werden. Der zweite Themenblock beschäftigt sich mit den Besonderheiten bei der Diagnose fetaler Alkoholschäden. Im dritten Teil geht es um die Herausforderungen und Strategien für Eltern, seien es leibliche, Pflege- oder Adoptiveltern von Kindern, die fetale Alkoholschäden haben.

Die wichtigsten Erkenntnisse nach heutigem Wissensstand:

+ Nach wie vor gilt: Es gibt keine sichere Menge Alkohol in der Schwangerschaft, die unschädlich wäre für das Kind

+ Die aktuelle Diagnostik wird dem breiten Spektrum alkoholbedingter Schädigungen noch nicht gerecht

+ Eine frühe Förderung von Sprache und Sprachverstehen kann definitiv auch andere Entwicklungsbereiche positiv beeinflussen

+ Eine frühzeitige Diagnose fördert die Entwicklungsmöglichkeiten Betroffener und macht sie selbständiger

+ Bei der Diagnostik von kognitiven Beeinträchtigungen sollte auch das Schlafverhalten in die Behandlung miteingeschlossen werden

+ Auch im Erwachsenenalter kann eine Diagnose noch von Vorteil sein, da sie besseren Zugang zu Unterstützungsleistungen ermöglicht, sowie das persönliche Verständnis und die Anpassungsfähigkeit fördern können.

+ Interventionen stärken das soziale Umfeld eines betroffenen Menschen. Dazu zählt, die Betreuungspersonen darin zu unterstützen, ressourcenorientiert den eigenen Alltag so zu gestalten, dass eine selbstfürsorgliche Haltung nicht vor lauter Terminen, Stress und Hindernissen untergeht. Das kann sich positiv auf die gesamte Familie und auch auf die Entwicklung betroffener Kinder auswirken.

Wie schädigt der Alkohol und kann sich das wieder erholen?

Zu den konkreten Wegen, auf denen der Alkohol die Entwicklung des Ungeboreren beeinträchtigt und nachhaltige Schäden durchführt, gibt es neue Erkenntnisse. Sullivan und Kollegen untersuchten 2020 die MRT-Daten von 115 betroffenen und 59 nicht betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Im Fokus stand der Volumen der „lobulären grauen Substanz“ – also quasi die „grauen Zellen“ im Kleinhirn.

In ihrer Analyse fanden sie abgestufte Defizite, die ein Spektrum von Schweregraden fetaler alkoholbedingter Schädigungen unterstützen. Bei weiteren neuroradiologischen Messungen wurden insgesamt zwanzig Anomalien festgestellt, von denen acht das Kleinhirn betrafen. Sullivan und Kollegen schlussfolgern daraus, dass die diagnostisch charakteristischen funktionellen Beeinträchtigungen der emotionalen Kontrolle, der visuomotorischen Koordination und der Haltungsstabilität über diesen Schädigungsweg erklärt werden könnten. Offensichtlich ist das Kleinhirn nicht nur an allen diesen Handlungen beteiligt, sondern ist auch durch seine ausgedehnte pränatale Wachstumsphase besonders empfindlich gegenüber schädlichen Umwelteinflüssen.

Auch Inkelis, Moore, Bischoff-Grethe & Riley untersuchten 2020 altersbedingte Unterschiede im Volumen verschiedener Gehirn-Strukturen (Corpus callosum, Basalganglien und Kleinhirn) im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Die Unterschiede führen sie auf die Empfindlichkeit dieser Regionen gegenüber pränataler Alkoholexposition zurück. Die Forscher fanden deutliche Unterschiede in Größe und Volumen einiger Hirnregionen: Alle Subregionen waren in der FASD-Gruppe im Vergleich zu den Kontrollen signifikant kleiner. Außerdem unterschieden sich die FASD- und Kontrollgruppen in ihrer Beziehung zwischen Alter und Gesamtvolumen des Corpus callosum, des Caudatus und des Kleinhirns. Ältere FASD-Personen hatten ein kleineres Gesamtvolumen in diesen Regionen. In der Kontrollgruppe wurden keine altersbedingten Unterschiede im Volumen gefunden.

Wichtig ist bei der Betrachtung der Veränderungen zudem das biologische Geschlecht: So wiesen männliche Kontrollpersonen vor allem im Pallidum und im Kleinhirn größere Volumina auf als die weiblichen Kontrollpersonen. Die Geschlechtsunterschiede wurden in der FASD-Gruppe abgeschwächt, blieben jedoch bestehen.

Auch zu möglichen Schutzfaktoren vor Alkoholschädigungen gibt es neue Erkenntnisse – zumeist aus der Tierforschung. Hier möchte ich auf die Experimente von Bottom et al. und Cadena et al. aus dem Jahr 2020 eingehen. Beide Studien befassen sich mit möglichen Schutzfaktoren gegen starke Auswirkungen des Alkohols. In beiden Studien wird betont, dass die Schädigungen des Nervensystems durch Alkohol permanent sind und es keine Heilung gibt.

Gleichzeitig fanden beide Forschungsgruppen Hinweise darauf, dass das Ausmaß der verursachten Schädigung reduziert werden könnte. Cadena und Kollegen untersuchten die mütterliche Versorgung mit Folsäure im Zusammenhang mit Schädigungen durch Alkohol bei Zebrafischlarven. In der Experimentalgruppe wurden die durch Alkohol verursachten Defekte durch die zusätzliche Gabe von Folsäure bei den Larven reduziert (wenn auch nicht vollständig verhindert).

In einem anderen Versuch setzten Bottom und Kollegen trächtige Mäuse während der gesamten Trächtigkeit 25 % Ethanol (Alkohol) und zusätzlich 642 mg/L Cholinchlorid (Cholin) aus. Sie wollten die Auswirkungen der Cholin-Supplementierung auf die Entwicklung des Gehirns, Nervensystems, sowie auf das Verhalten des Nachwuchses messen.

Resultat:

+ Eine gleichzeitige Cholin-Supplementierung neben dem Alkoholeinfluss verhinderte grobe Entwicklungsanomalien (die mit Alkohol in Verbindung gebracht wurden), wie zum Beispiel das verringerte Körpergewicht und Hirngewicht.

+ Die Schädigung von bestimmten (intraneokortikalen) Schaltkreisen war in der Experimentalgruppe mit Cholin geringer.

+ Auf genetischer Ebene sowie der Wirkweise bestimmter Gene, die durch Alkohol verändert wird, beobachteten Bottom und Kollegen Verbesserungen.

+ Die Verbesserung sensomotorischer Verhaltensstörung

+ Verbessert war das teilweise erhöhte Angstverhalten, das bei trächtigen Mäusen durch Alkohol-Exponation entstanden war.

Inwieweit diese Daten auf Menschen zu übertragen sind, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erforscht.

Zunehmend gibt es Hinweise, die darauf deuten, dass die Umweltbedingungen, unter denen Menschen mit fetalen Alkoholschäden leben, für ihre Entwicklung ein wichtiger Faktor sind.

Die Analysen der Canadian National FASD Database von Burns und Kollegen (2021) zeigen, dass Kinder, die von der Sozialhilfe betreut werden, deutlich häufiger sexuell und körperlich missbraucht werden als Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern oder bei Pflege-, Adoptiv- oder anderen Familienmitgliedern leben. Auch der Anteil der Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Gesetz hatten, war bei denjenigen, die in der Kinderfürsorge leben, höher als bei denjenigen, die bei Adoptiv- oder anderen Familienmitgliedern leben. Umgekehrt war die Rate der diagnostizierten Stimmungsstörungen bei Kindern, die bei Pflege-, Adoptiv- oder anderen Familienmitgliedern lebten, deutlich höher als bei Kindern, die von der Sozialhilfe betreut wurden.

Auch Vega-Rodriguez und Kollegen (2020) kommen zu dem Schluss, dass Umweltfaktoren häufig für Menschen mit fetalen Alkoholschäden nachteilig sind – nämlich dann, wenn sie entweder nicht frühzeitig diagnostiziert werden, oder die Betroffenen keine angemessene Unterstützung erfahren. Vega-Rodriguez und Kollegen beschreiben einen symptomatischen Einzelfall: Ein 9-jähriges Kind, bei dem sie alle zum jetzigen Zeitpunkt bekannten relevanten Variablen, die seine Entwicklung beeinflussen (FASD-Diagnose und sozio-ökologische Bedingungen), beobachtet und analysiert haben.

Beschrieben werden seine frühe Kindheit in Heimen, der Umzug in eine Pflegefamilie im Alter von sechs Jahren und verschiedene Bewertungsmaßnahmen von der Pflegefamilie bis heute. Festgestellt wurden Schwierigkeiten in den Bereichen Wortschatz, Zugang zum Wortschatz, Morphologie, Syntax, Grammatik, mündliche Erzählung, Pragmatik, Sprache und Kommunikation. Kognitive Schwierigkeiten fielen auf in den Bereichen Gedächtnis und Wahrnehmung. Bei den exekutiven Funktionen gab es Probleme in der sozialen Anpassung, beim Lernen und dem Sozialverhalten.

Die Forschenden kommen zu dem Schluss, dass eine frühzeitige Diagnose und ein frühzeitiger Ansatz es Betroffenen ermöglichen kann, trotz ihrer neurologischen und verhaltensbedingten Einschränkungen Fähigkeiten in verschiedenen Dimensionen zu entwickeln, um frühe Widrigkeiten zu bewältigen. Auch wenn fetale Alkoholschäden nach wie vor als nicht heilbar gelten, kann ein unterstützendes Umfeld betroffene Kinder sehr wohl dazu befähigen, im Laufe ihrer Entwicklung Bewältigungsstrategien zu erwerben und aufzubauen, mit ihrer Diagnose so eigenständig und selbstbestimmt wie möglich zu leben.

Gibt es neue Empfehlungen zur Diagnose und Behandlung?

In vielen Ländern ist man der Überzeugung, dass eine frühzeitige Diagnostik für Kinder von Vorteil ist, da sie frühzeitig Zugang zu Unterstützung durch frühe Hilfen, Förderung der Entwicklung sowie eine bessere psychosoziale Versorgung auch der Betreuungspersonen bekommen können. Es gibt aber auch Länder, die das vollkommen anders sehen und nur Vollbild-Diagnosen stellen. So in Schweden.

Karin Heimdahl Vepsä befasst sich (2020) in ihrem Paper mit der pragmatischen, der ethischen und der wissenschaftlichen Perspektive. Und sie sagt: Eine Diagnose, etwa durch Stigmatisierung der Mütter aufgrund des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft, kann auch mit Risiken verbunden sein, die möglicherweise im Einzelfall die Vorteile einer Diagnostik nicht überwiegen. In Schweden ist das Vorgehen daher bisher klar begrenzt: Es wird nicht das gesamte Spektrum diagnostiziert.

Andernorts gewinnt zunehmend die Frage an Bedeutung, ob es sinnvoll sein kann, auch noch im Erwachsenenalter zu diagnostizieren:

Temple, Prasad, Popova, & Lindsay befassten sich im Jahr 2020 mit der Frage, ob auch eine Diagnose von fetalen Alkoholschäden im Erwachsenenalter Betroffenen Vorteile bringt. Sie befragten zwanzig Erwachsene, die zum Zeitpunkt ihrer Diagnose zwischen 18 und 45 Jahren alt waren. Insgesamt fanden sie deutlich erhöhte Raten von klinisch relevanten psychischen Störungen (mehr als die Hälfte der Befragten) und eine Arbeitslosenquote von 85 % (17 von 20) – vor der Diagnose bezogen zwei der Befragten ein Erwerbsunfähigkeitseinkommen und drei von ihnen hatten Anspruch auf Leistungen für geistig Behinderte (ID).

Bei der Nachuntersuchung erhielten 90 % der Teilnehmer (18 von 20) ein Erwerbseinkommen und 85 % (17 von 20) hatten Anspruch auf ID-Leistungen. Alle zwanzig befolgten mindestens eine Beurteilungsempfehlung und fünfzehn der Befragten befolgten sogar zwei. Die meisten (15) gaben an, dass eine Diagnose von Vorteil war, da sie eine bessere Anpassung und ein besseres Selbstverständnis ermöglichte.

Temple et al. kommen somit zu dem Schluss, dass auch im Erwachsenenalter eine Diagnose noch von Vorteil für Betroffen sein kann, da sie besseren Zugang zu Unterstützungsleistungen ermöglicht, sowie das persönliche Verständnis und die Anpassungsfähigkeit fördern könne.

Und auch bezüglich der Diagnostik selbst gibt es neue Daten: Pei und Kollegen haben einen Datensatz von Entwicklungsfragebögen aus Kindergärten untersucht. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Prävalenz der fetalen Alkoholspektrumsstörung (FASD) möglicherweise unterschätzt werde, da sie in der frühen Kindheit schwer zu diagnostizieren sei. Sie fanden eine Prävalenz (Anteil von erkrankten Kindern im Vergleich zur Gesamtpopulation von Kindern im gleichen Alter), die von 0,01 bis 0,31 % reichte. Ein größerer Prozentsatz der Kinder mit FASD hatte nach Angaben der Lehrer häusliche Probleme, die sich auf ihr Verhalten auswirkten.

Auch May und Kollegen befassen sich in ihrem Papier (2021) mit der Prävalenz fetaler Alkohol-Spektrum-Störungen und untersuchten eine Zufallsstichprobe auf kindliche Merkmale und mütterliches Risiko für fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) in einem Bezirk im Südosten der Vereinigten Staaten. Alle 231 freiwillig an der Studie teilnehmenden Kinder wurden auf Dysmorphologie und Wachstum untersucht, 84 wurden auf ihr Neuroverhalten getestet und bewertet, und 72 Mütter wurden auf ihr mütterliches Risiko hin befragt.

Es gab signifikante Unterschiede zwischen den Kindern, bei denen FASD diagnostiziert wurde gegenüber der Gesamtstichprobe bei Größe, Gewicht, Kopfumfang, Body-Mass-Index und den Gesamtwerten für die Dysmorphologie sowie bei allen drei Hauptmerkmalen des fetalen Alkoholsyndroms: Länge der Lidspalte, glattes Philtrum und schmales Zinnoberrot. Die intellektuellen Funktionen und die Hemmungsfähigkeit unterschieden sich nicht signifikant innerhalb der Stichprobe. Aber zwei Messungen der exekutiven Funktionen und eine Messung der visuellen/räumlichen Fähigkeiten näherten sich der Signifikanz. Insgesamt sechs Verhaltensmessungen waren in der FASD-Gruppe signifikant schlechter: von den Lehrern bewertetes aggressives Verhalten, oppositionelles Trotzverhalten und Verhaltensprobleme sowie von den Eltern bewertete Probleme bei der Kommunikation, dem täglichen Leben und der Sozialisierung.

Als signifikante mütterliche Risikofaktoren wurden postpartale Depressionen, die Häufigkeit des Alkoholkonsums und die Erholung vom problematischen Alkoholkonsum angegeben. Die Prävalenz von FASD betrug 71,4 pro 1.000 oder 7,1 %. Das bedeutet, dass jedes 14. Kind fetale Alkohol-Spektrum-Schädigungen aufweist. Diese Rate liegt innerhalb des Prävalenzbereichs, der in acht größeren Stichproben anderer Gemeinden im Rahmen der Collaboration on FASD Prevalence (CoFASP)-Studie in vier Regionen der Vereinigten Staaten ermittelt wurde. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine sorgfältige und detaillierte klinische Bewertung von Kindern aus kleinen Zufallsstichproben für die Schätzung der Prävalenz und der Merkmale von FASD in einer Gemeinde nützlich sein kann.

Dass hierbei gleichzeitig möglichst auf eine breite Diagnostik zu achten ist, zeigen die Ergebnisse von Mattson et al. Sie befassen sich mit fehlenden Zusammenhängen zwischen elterlichen Berichten und aufgabenbasierten Leistungsmessungen bei Kindern mit FASD in bisherigen Studien und vergleichen die Ergebnisse längerer Aufgaben mit elterlichen Leistungseinschätzungen ihrer Kinder. Sie untersuchten, ob Veränderungen in der Leistung im Laufe der Zeit innerhalb einer Aufgabe (d.h. erste Hälfte versus zweite Hälfte) besser mit den elterlichen Berichten über exekutive Funktionen und Temperament bei Kindern mit FASD übereinstimmen. Sie interpretieren ihre Ergebnisse so, dass Leistungsunterschiede innerhalb einer Aufgabe individuelle Unterschiede in der exekutiven Funktion und im Temperament, wie sie von den Eltern berichtet werden, genauer widerspiegeln und dazu beitragen, die Art und Weise, wie kognitive Prozesse bei Kindern mit FASD gemessen werden, zu verbessern. Insgesamt deuten auch diese Daten darauf hin, dass die Diagnostik dem weiten Spektrum von alkoholbedingen Schädigungen noch nicht gerecht wird.

Die Daten von Dylag und Kollegen aus dem Italian Journal of Pediatrics (2021) zeigen auf, dass auch Schlafstörungen bei Personen mit fetalen Alkoholschäden ein wichtiges Gesundheitsproblem zu sein scheinen. Sie untersuchten vierzig diagnostizierte Patienten (Durchschnittsalter acht Jahre), und vierzig normal entwickelte Kinder (Durchschnittsalter zehn Jahre) mittels eines Screening von Schlafproblemen über einen Fragebogen, der von einer Betreuungsperson ausgefüllt wurde. Diejenigen aus der FASD-Gruppe, die mehr als 41 Punkte erreichten, qualifizierten sich für die zweite Phase der Studie und ließen eine Polysomnographie im Labor durchführen. Die Messungen umfassten ein Elektroenzephalogramm, Elektrookulogramme, ein Kinn- und Schienbein-Elektromyogramm, ein Elektrokardiogramm, Beatmungsüberwachung, Atemanstrengung, Pulsoxymetrie, Schnarchen und Körperposition. Die Ergebnisse wurden mit den Referenzdaten des PSG-Labors verglichen.

Die Zahl der Teilnehmer mit Schlafstörungen war in der FASD-Gruppe deutlich höher als bei Kindern mit normaler Entwicklung (55 % gegenüber 20 %). Auf den folgenden Subskalen fanden sich signifikante Unterschiede zwischen der Gruppe von Kindern mit der Diagnose FASD im Vergleich zur Kontrollgruppe: Verzögerung des Einschlafens, nächtliches Aufwachen, Parasomnien, schlafbezogene Atmungsstörungen und Tagesschläfrigkeit. Kinder aus der FASD-Gruppe, die sich einer PSG unterzogen, erlebten im Vergleich zu den PSG-Laborreferenzdaten mehr Arousals (Wachheitszustände) während des Schlafs. Die Atmungsindizes in der FASD-Gruppe scheinen höher zu sein als die zuvor veröffentlichten Daten von Kindern mit normaler Entwicklung. Dylag und Kollegen fordern auf der Basis ihrer Ergebnisse mehr Aufmerksamkeit für Schlafstörungen bei Menschen mit FASD.

Dies bringen Mughall und Kollegen in Zusammenhang mit anderen Merkmalen von Kindern mit FASD: Sie untersuchten Schlaf und seinen Zusammenhang mit der Kognition, also der Funktionsweise des Denkens bei Personen mit FASD. Dazu verglichen sie den Schlaf bei Kindern mit fetalen Alkoholspektrumstörungen mit dem Schlaf von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen. Alle Kinder wiesen eine signifikant kürzere Gesamtschlafdauer, eine geringere Schlafeffizienz und mehr nächtliches Aufwachen auf als die Kinder der altersgerecht entwickelten Kontrollgruppe. Der Schlaf stand bei allen drei Gruppen in signifikantem Zusammenhang mit den Ergebnissen der kognitiven Tests. Diese Ergebnisse unterstützen die These, dass Schlaf für die kognitiven Funktionen bedeutsam ist – für genaue Aussagen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind jedoch weitere Untersuchungen notwendig.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Sprache und Denken nicht unabhängig voneinander sind – ebenso weisen die Studien auf Zusammenhänge zwischen Schlaf und Denken hin.

Vega-Rodríguez und Kollegen (2020) kommen in ihrer bereits erwähnten Einzelfallstudie zu dem Schluss, dass es für die Diagnose und Behandlung der für dieses Syndrom charakteristischen Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten der Unterstützung durch Sprachpathologen bedarf und diese gar „von entscheidender Bedeutung“ sei. Dem aktuellen Stand der Forschung nach ist eine Frühförderung im Bereich Sprache und Kommunikation also definitiv eine wichtige Säule in der Begleitung von Kindern mit fetalen Alkohol-Spektrum-Störungen.

Was sind die größten Herausforderungen – sowohl für Betroffene als auch (Pflege-, Adoptiv-)Eltern und Angehörige?

In der medizinischen Forschungsliteratur wird zunehmend über ein hohes Maß an Stress bei Betreuern von Kindern mit fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) berichtet (Mohamed, Carlisle, Livesey & Mukherjee, 2020). Während es jedoch weltweit eine wachsende Anzahl von evidenzbasierten Interventionen und Trainingsprogrammen für den Stress von Betreuern im Allgemeinen gibt, gibt es nur wenige – in einigen Ländern sogar keine Programme für diejenigen, die sich um Kinder mit FASD kümmern.

Mohamed et al. haben in ihrem Paper ein aktuelles Stress-Profil von Betreuungspersonen von Kindern mit FASD erstellt, auf der Basis einer Befragung von 71 Betreuungspersonen und den von ihnen betreuten Kindern. Untersucht wurden sowohl das elterliche Stressniveau, als auch das Verhalten der Kinder; hier hinsichtlich Kognition, adaptivem Verhalten, sensorischer Verarbeitung und externalisierenden Verhaltensfunktionen.

Bei der Messung des Stressniveaus in den Familien zeigte sich in den Kinder-Skalen des Fragebogens zum elterlichen Stressniveau (PSI – Parental Stress Index) ein Stresswert, der deutlich über dem klinisch signifikanten Grenzwert für hohen Stress lag. Insgesamt fanden Mohamed et al. gleichzeitig aber keine Zusammenhänge zwischen Elternbereichen und Verhaltensweisen der Kinder.

Eine Regressionsanalyse ergab, dass Schwierigkeiten im Bereich der exekutiven Funktionen bei den Kindern die wichtigsten Prädiktoren für den Stress der Betreuungspersonen sind. Nicht signifikant waren dagegen sensorische Schwierigkeiten, obwohl 83 % der Kinder erhöhte Probleme dieser Art hatten. Die Gesamtstresswerte der Betreuer von Kindern mit fetalen Alkoholschäden waren erhöht und überstiegen bei weitem den Schwellenwert des PSI. Das lässt auf einen Bedarf an “weiterer professioneller Beratung” schließen. Mohamend et al. fordern deshalb eine verstärkte Berücksichtigung der elterlichen Bedürfnisse und eine Entwicklung von evidenzbasierten Interventionen, die auf diesen Personenkreis zugeschnitten ist.

Auch Kautz, Parr & Petrenko befragten im Jahr 2020 Betreuungspersonen von Kindern mit fetalen Alkoholspektrumstörungen. Im Fokus der 46 Befragten stand die Betrachtung: Kann sich erhöhter Stress der Betreuungspersonen negativ auf die physische und psychische Gesundheit der Betreuungspersonen und auch das Familienklima auswirken? In der Studie wurden Strategien und Hindernisse im Zusammenhang mit der Selbstfürsorge beschrieben. Untersucht wurde, wie die wahrgenommene Selbstfürsorge, deren Häufigkeit und das Vertrauen in die Selbstpflege im Zusammenhang mit Stress, Einstellung der Eltern und familiären Bedürfnissen stehen.

Ergebnis: Die konkreten Strategien und Hindernisse für Selbstfürsorge waren sehr unterschiedlich. Größeres Selbstvertrauen in die Selbstfürsorge zog weniger elterliche Belastung nach sich und brachte mehr Zufriedenheit in der Elternrolle. Die Häufigkeit der Selbstfürsorge stand hier in einem positiven Zusammenhang mit dem Vertrauen in die Selbstfürsorge, jedoch nicht mit anderen Messgrößen für das Funktionieren der Familie. Daraus lässt sich die Bedeutung von Wissen um die Wirkung von Selbstfürsorge und Selbstfürsorge-Strategien für die erlebte Selbstwirksamkeit der Betreuungspersonen ableiten. Das kann sich nicht nur positiv auf die psychische Gesundheit der Betreuungspersonen auswirken, sondern auf das gesamte Familienklima.

Autorin: Annika Rötters, Diplom-Psychologin

Quellen:

Bottom, R. T., Abbott III, C. W., & Huffman, K. J. (2020). Rescue of ethanol-induced FASD-like phenotypes via prenatal co-administration of choline. Neuropharmacology, 168, 107990.

Burns, J., Badry, D. E., Harding, K. D., Roberts, N., Unsworth, K., & Cook, J. L. (2021). Comparing outcomes of children and youth with fetal alcohol spectrum disorder (FASD) in the child welfare system to those in other living situations in Canada: Results from the Canadian National FASD Database. Child: Care, Health and Development, 47(1), 77-84.

Cadena, P. G., Cadena, M. R. S., Sarmah, S., & Marrs, J. A. (2020). Folic acid reduces the ethanol-induced morphological and behavioral defects in embryonic and larval zebrafish (Danio rerio) as a model for fetal alcohol spectrum disorder (FASD). Reproductive Toxicology, 96, 249-257.

Dylag, K. A., Bando, B., Baran, Z., Dumnicka, P., Kowalska, K., Kulaga, P., … & Curfs, L. (2021). Sleep problems among children with Fetal Alcohol Spectrum Disorders (FASD)-an explorative study. Italian Journal of Pediatrics, 47(1), 1-11.

Heimdahl Vepsä, K. (2020). Is it FASD? And does it matter? Swedish perspectives on diagnosing fetal alcohol spectrum disorders. Drugs: Education, Prevention and Policy, 1-11.

Inkelis, S. M., Moore, E. M., Bischoff-Grethe, A., & Riley, E. P. (2020). Neurodevelopment in adolescents and adults with fetal alcohol spectrum disorders (FASD): a magnetic resonance region of interest analysis. Brain research, 1732, 146654.

Kautz, C., Parr, J., & Petrenko, C. L. (2020). Self-care in caregivers of children with FASD: How do caregivers care for themselves, and what are the benefits and obstacles for doing so?. Research in developmental disabilities, 99, 103578.

Mattson, J. T., Thorne, J. C., & Kover, S. T. (2020). Relationship between task-based and parent report-based measures of attention and executive function in children with Fetal Alcohol Spectrum Disorders (FASD). Journal of Pediatric Neuropsychology, 6(3), 176-188.

May, P. A., Hasken, J. M., Hooper, S. R., Hedrick, D. M., Jackson-Newsom, J., Mullis, C. E., … & Hoyme, H. E. (2021). Estimating the community prevalence, child traits, and maternal risk factors of fetal alcohol spectrum disorders (FASD) from a random sample of school children. Drug and Alcohol Dependence, 108918.

Mohamed, Z., Carlisle, A. C., Livesey, A. C., & Mukherjee, R. A. (2020). Carer stress in Fetal Alcohol Spectrum Disorders: the implications of data from the UK national specialist FASD clinic for training carers. Adoption & Fostering, 44(3), 242-254.

Pei, J., Reid-Westoby, C., Siddiqua, A., Elshamy, Y., Rorem, D., Bennett, T., … & Janus, M. (2021). Teacher-Reported Prevalence of FASD in Kindergarten in Canada: Association with Child Development and Problems at Home. Journal of autism and developmental disorders, 51, 433-443.

Sullivan, E. V., Moore, E. M., Lane, B., Pohl, K. M., Riley, E. P., & Pfefferbaum, A. (2020). Graded Cerebellar Lobular Volume Deficits in Adolescents and Young Adults with Fetal Alcohol Spectrum Disorders (FASD). Cerebral Cortex, 30(9), 4729-4746.

Temple, V. K., Prasad, S., Popova, S., & Lindsay, A. (2020). Long-term outcomes following Fetal Alcohol Spectrum Disorder (FASD) diagnosis in adulthood. Journal of Intellectual & Developmental Disability, 1-9.

Vega-Rodríguez, Y. E., Garayzabal-Heinze, E., & Moraleda-Sepúlveda, E. (2020). Language development disorder in fetal alcohol spectrum disorders (FASD), a case study. Languages, 5(4), 37.

Erste Flugreise alleine ins Trainingslager – Aufregung pur

Eine Challenge der besonderen Art war Luise’s erste Reise ganz allein im Flieger von Berlin nach Düsseldorf, die sie trotz Flugangst, Sorgen und großer Aufregung ohne Nebenwirkungen überstand. Im Gegenteil: “Das hat mir viel Selbstvertrauen gegeben, was mir für die nächsten Herausforderungen eine Hilfe sein wird”, sagt Luise, die, ebenso wie ihre Zwillingsschwester Clara vom Fetalen Alkoholsyndrom betroffen ist. Luise, die seit vielen Jahren auf hohem Niveau Tischtennis spielt, wollte sich bestmöglich auf die nächste Saison vorbereiten. “Ich habe den Verein spontan gewechselt und möchte meiner neuen Mannschaft helfen, indem ich bestmögliches Tischtennis spiele”, erklärt die 28jährige, “da ich zeitlich durch meine Arbeit sehr eingeschränkt bin, musste ich schauen, wie ich das alles hinbekomme.” Und so entschied sich die ausgebildete Heilerziehungspflegerin für ein Wochenende Trainingslager in Düsseldorf. Luise, die für Happy Baby No Alcohol als engagierte Botschafterin unterwegs ist, und zeigen möchte, dass vieles trotz fetalen Alkoholschäden möglich ist, hat uns zu ihrer Challenge ein paar Fragen beantwortet:

Hast Du alles alleine geplant und organisiert?

Luise: Ich habe die ganze Reise alleine geplant. Erst habe ich mir den Lehrgang rausgesucht und dann die Flüge gebucht. Im Vorfeld habe ich mir das Wochenende frei gekreuzt, damit ich dann da auch keinen Dienst habe.

Welche Gefühle gingen Dir dabei durch den Kopf?

Luise: Mein Gefühl war, oh, ob ich das wirklich schaffe, diesen Lehrgang, trotz Arbeit und allem, was sonst noch so ansteht?! Aber da ich schon von vergangenen Jahren als ich da war gute Erinnerungen hatte, habe ich mich eigentlich nur gefreut. Und ich wollte noch einmal kurz vor der Saison ein intensives Training haben, um bestmöglich in die Saison zu starten.

Welche Bedenken hattest Du im Vorfeld? Wenn ja, wie bist Du damit umgegangen?

Luise: Ich hatte nur eine Sorge, nämlich was ist, wenn ich mich im Training verletze?! Denn dann müsste ich alleine ins Krankenhaus und ich müsste verletzt zurück fliegen. Diese Gedanken waren echt zermürbend. Ich sagte mir dann aber, durch Sport können Verletzungen entstehen und das ist normal. Aber deshalb nicht zu fliegen und nicht den Lehrgang mit zu machen, ist Quatsch. Ich möchte besser werden, also musst du auch Risiko eingehen. Schon war der Gedanke viel milder und ich habe mir gesagt, wenn etwas passiert, dann soll es so sein!

Wie war der Flug für Dich?

Luise: Der Flug war tatsächlich für mich sehr aufregend und nervzerreißend. Das lag daran, dass ich vor der ganzen Situation Respekt hatte: Wie ist es mit dem Einchecken?Werde ich gleich mein Gate finden? Wie läuft generell das Einchecken ab? Außerdem habe ich wirklich Flugangst. So war es für mich doppelt schwer, dass ich ganz auf mich alleine gestellt war, wohl wissend, dass ich im Flugzeug niemand haben würde, an den ich mich würde anlehnen könne, wenn ich Angst bekomme. Aber wie es oft bei mir ist, mache mir mega die Gedanken und Sorgen. Am Ende war der Flug an sich gar nicht schlimm, viel aufregender war das einchecken auf dem großen neuen Berliner Flughafen.

Wie war die Ankunft in der fremden Stadt?

Luise: Am Flughafen Düsseldorf kannte ich mich gar nicht aus. Ich bin dann einfach nach den Schildern gelaufen und zum Glück bin ich auch gleich zu meinem Laufband gekommen, wo auch mein Koffer ankam. Dann bin ich direkt zum Taxistand und habe mir ein Taxi zum Sport Hotel genommen.

Was ist super gelaufen, was nicht?

Luise: Super ist gelaufen, dass die ganze Reise sehr schnell ging dank dem Flug. Vor Ort konnte ich nicht gleich in mein Zimmer, so musste ich noch zwei Stunden warten. Diese habe ich dann zum Einkaufen genutzt, um vor der ersten Trainingseinheit noch was zu essen.

Wie ist Dein Fazit?

Luise: Ich weiß, dass Fliegen und auf sich alleine gestellt zu sein, gar nichts Schlimmes ist. Man lernt sich selbst nochmal von einer ganz anderen Seite kennen und man lernt zu reagieren, wenn Situationen aufkommen ,die man so noch nicht kennt.

Was willst Du anderen mit auf den Weg geben?

Luise: Ich möchte mit dem Bericht zeigen, das man Ängste, Zweifel, Aufregung und innere Unruhe mit sich selbst ausmachen kann. Wenn man neuen Dingen offen gegenüber steht und sich dem annimmt, dann lernt man sich selbst ganz neu kennen und bekommt Selbstbewusstsein. Dieses Selbstbewusstsein stärkt einen für viele weitere Aufgaben im Leben.

Die Fragen stellte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Für mich brach mit der Diagnose eine Welt zusammen”

“Die Arroganz und die Ignoranz, die uns von allen Seiten immer wieder entgegenschlägt, macht wütend”, gesteht und klagt Thomas S. , Vater eines leiblichen Kindes und eines zehn Jahre alten Pflegesohnes. Daran erkenne man, dass es immer noch viel zu wenig Aufklärung über das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) gebe – trotz all der Kampagnen, die bislang schon gestartet worden seien. Wie könne es sein, dass immer noch der Glaube vorherrsche, dass ein Gläschen Wein nicht schade, vielmehr den Kreislauf anrege und dem Herzinfarkt vorbeuge? Alles Gründe für den Bundespolizisten, die Stimme zu erheben und seine persönliche Geschichte in einem Gastbeitrag zu erzählen. Denn: “Was uns persönlich sehr weitergeholfen hat, ist der Kontakt zu Gleichgesinnten – seien es Eltern mit FAS-Kindern oder selbst Betroffenen. Da muss man sich nicht erklären, wenn man am Ende ist oder warum man wie reagiert hat. Und man fühlt sich nicht so alleine, wenn man die Geschichten der anderen hört.”

Am 20.01.2012 kam unser Pflegesohn Jonas* im Alter von drei Monaten zu uns in die Familie. Meine Frau und ich hatten Ende 2011 ein Pflegeseminar besucht. Als dies Mitte Dezember 2011 zu Ende ging, sollten wir uns über die Feiertage Gedanken machen, ob wir uns vorstellen könnten, ein Pflegekind aufzunehmen. Leider hielt sich das Jugendamt selbst nicht an die zeitlichen Vorgaben und fragte bereits kurz vor Weihnachten an.

Ein Foto des Säuglings wurde uns umgehend überlassen – ein total süßer Junge mit großen, blauen Augen und einem „Engelchengesicht“. Die Entscheidung fiel in Sekundenschnelle. Er hat uns einfach verzaubert. Zwischen den Feiertagen besuchten wir den Jungen bei seinen Bereitschaftspflegeeltern, nach den Ferien stand schon der Termin im Jugendamt an.

Jonas wurde uns als ‘soweit gesundes Kind’ dargestellt. Er hätte zwar direkt nach seiner Geburt einen Entzug durchgemacht, da seine leibliche Mutter drogenabhängig gewesen sei. Aber den Entzug hätte er gut verkraftet und somit wäre alles in Ordnung. Gegebenenfalls könnten sich im Laufe der Jahre AD(H)S-Symptome zeigen. Das war die einzige Prognose.

Jonas entwickelte sich im Vergleich zu unserem damals 5-jährigen anderen Sohn deutlich zeitverzögert. Das sei normal, hieß es vom Kinderarzt und auch vom Jugendamt. Mit den Jahren wurde Jonas immer wilder und lauter. Seit dem Kindergartenalter ist er ein richtiger Adrenalin-Junkie, dem es nie zu gefährlich sein kann. Einerseits. Andererseits ist er sehr unsicher in einer ihm unbekannten Umgebung. Jonas wollte nie Dinge lernen, er wollte es sofort können. Wenn nicht, hatte er explosionsartige Wutanfälle. Er entwickelte sich weiterhin sehr zeitverzögert und wurde bezüglich Schule ein Jahr zurückgestellt. Im Kindergarten fiel immer deutlicher auf, dass er unter anderem Schwierigkeiten hatte sich zu konzentrieren und aufmerksam bei der Sache zu bleiben. Er brauchte eigentlich immer eine extra Anleitung, eine extra Aufforderung und eine extra Begleitung.

In dieser Zeit hatte meine Frau angefangen, sich über das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) schlau zu machen. Unser Kinderarzt meinte weiterhin, dass das Kind es schon lernen werde, er brauche „einfach nur viel Mama, nach allem, was er schon erlebt hat“. Im Frühsommer 2017 hatten wir dann einen Termin bei Frau Dr. Hoff-Emden in Leipzig. Dort fühlten wir uns zum ersten Mal verstanden und geborgen. Frau Hoff-Emden diagnostizierte schon beim ersten Sehen und den nachfolgend durchgeführten Testungen partielles FAS. Alleine Jonas’ Aussehen sei typisch prägnant für Kinder mit fetalen Alkoholschäden. Da Jonas’ leibliche Mutter in der Zwischenzeit verstorben war, konnte der Alkoholkonsum in der Schwangerschaft nicht endgültig bestätigt werden.

Für mich brach mit der Diagnose eine Welt zusammen. Bis zu diesem Tag hatte ich mich nie ernsthaft mit dem Thema Fetales Alkoholsyndrom auseinandergesetzt. Und jetzt sollte mein kleiner Junge, der so süß aussieht, eine Behinderung haben, von der ich noch nie zuvor etwas gehört hatte? Ich hatte immer noch die Haltung: Es ist nichts! Die Tränen flossen nur so. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und geheult und geheult. Mir wurde auch klar, dass der kleine Zwerg sein ganzes Leben Hilfe brauchen würde. Ohne Aufsicht gehen selbst banale Dinge wie Anziehen und Zähne putzen nicht. Er braucht permanent eine Eins-zu-Eins-Betreuung.

Ein halbes Jahr lang ging es mir richtig schlecht, haderte ich mit dem Schicksal. Dann dachte ich, ich muss es jetzt annehmen. Er kann nichts dafür. Ich würde ihn nicht mehr hergeben wollen. Es ist mein Sohn, ein charming boy, der alle um den Finger wickelt. Mir war und ist aber auch klar, dass es passieren kann, dass ich ihm in vielleicht fünf Jahren gegenübersitze und ich ihn, der ich Polizist bin, festnehmen muss. Er ist jetzt schon so leicht beeinflussbar. Aber, am Ende des Tages bin ich Optimist. Wir werden sehen.

Als ich mich dank Hilfe des Internets, eines Curriculums des Sozialpädiatrischen Zentrums Leipzig und einschlägigen Heften einigermaßen auf Stand gebracht hatte, was es heißt fetale Alkoholschäden zu haben, und was für Auswirkungen es auf Eltern und Kind hat, ging der „Kampf“ mit den Behörden los.

Unser Kinderarzt hat bis heute nicht verstanden, was es bedeutet fetale Alkoholschäden zu haben. Für ihn war Jonas immer ein Kandidat für ADHS mit einer Tendenz in Richtung Autismus. Jonas sei ja so niedlich, zurückhaltend (in fremden Situation, also z. B. beim Arzt) und hätte nicht die an das Down Syndrom erinnernde Gesichtszüge. Jeder Arztbesuch wurde zu einem Gewaltakt an Aufklärung. Entweder wurde unser Anliegen klein geredet oder aufgebauscht und in eine andere Richtung gelenkt.

Mittlerweile haben wir einen Kinderarzt gefunden, dem FAS nicht unbekannt ist und der sich auch weiter aufklären ließ. Es folgten Kämpfe mit der Pflegekasse um den Pflegegrad und Kämpfe mit dem Versorgungsamt um den Grad der Behinderung. Dank hartnäckiger Gespräche hat Jonas einen Pflegegrad 3 und einen Grad der Behinderung von 70 %.

Es ist aber leider so, dass man immer wieder schief angesehen wird, wenn man sagt, dass Jonas behindert ist, denn äußerlich wirkt er nicht so. Dieses Problem hatten wir auch bei der Wahl der Schule. Jonas wurde im Vorfeld von Schulpsychologen getestet und für eine Schule mit dem Förderschwerpunk sozial-emotional (SE) als geeignet angesehen. Im Vorfeld des Schulbeginns wurde Jonas durch Frau Dr. Hoff-Emden medikamentös eingestellt. Dieses Medikament verträgt er bis heute sehr gut.

Wir kommen aus Süddeutschland. Hier scheint das Fetale Alkoholsyndrom nicht zu existieren. Selbst unsere Kinder- und Jugendpsychiatrie wusste am Anfang nichts mit der Diagnose anzufangen und musste durch uns aufgeklärt werden. In der Förderschule ging die Aufklärung wieder von vorne los. Teilweise hatten wir das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Jonas wurde immer wieder aus der Klasse genommen, wenn er nicht so wollte wie er sollte. Dass es eine Überforderung für ihn war, wurde trotz mehrfacher Hinweise von uns an die Schule ignoriert. Erst durch einen von uns Eltern angestoßenen Schulwechsel noch während des ersten Schuljahres auf eine Schule für geistige Entwicklung wurde es besser.

Der Schulleiter kannte und verstand die Diagnose. Auch ließen sich die Lehrer von uns aufklären und nahmen Tipps und Anregungen an. Ein Problem in der Schule ist allerdings der jährliche Wechsel des Schulbegleiters, denn für Jonas ist eine konstante und damit vertraute Bezugsperson sehr wichtig. Leider mussten wir auch in diesem Punkt feststellen, dass nicht jeder Schulbegleiter unsere Aufklärung ernst genommen hat. Es hat dadurch immer wieder viel Kraft gekostet, bis alles seinen gewohnten Gang lief.

In den mittlerweile knapp zehn Jahren, in denen Jonas in unserer Familie ist, haben wir aktuell die vierte Sachbearbeiterin beim Jugendamt. Bis auf die vorletzte wusste keine etwas mit der Diagnose FAS anzufangen. Jedoch muss ich sagen, dass die Mitarbeiterinnen sich aufklären ließen und sich auch erkundigen, was es für Möglichkeiten zur Weiterbildung gibt. Hürden gab es dann allerdings wieder innerhalb der Behörde – Unterstützung für Kinder mit ADHS und ASS sei kein Problem und gängige Praxis, aber FAS? Das sei bisher nicht vorgekommen und daher gäbe es hier keine Unterstützung. Allein schon eine Schulbegleitung zu erhalten, war ein langer, harter Kraftakt.

*Name geändert

Luise: “Beziehung kann man lernen”

Menschen, die unter fetalen Alkoholschäden leiden, wird oft nachgesagt, dass sie nicht in der Lage sind, eine langfristige Beziehung einzugehen, weil sie unter Bindungssstörungen leiden. Unsere vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) betroffene Botschafterin Luise Andrees aus Berlin und Zwillingsschwester von Clara, die ebenso FAS hat, sagt: „Doch, das kann man schaffen!“ Seit über drei Jahren ist sie glücklich mit ihrem zweiten festen Freund, mit dem sie im Januar diesen Jahres zusammengezogen ist. Wie das kam, das wollte die 27jährige unbedingt erzählen, um anderen Mut zu machen.

Der Weg zu einer guten Beziehung sei natürlich nicht einfach gewesen, gibt sie zu. Es sei zu vielen Missverständnissen und Konflikten gekommen. „Meine ersten Erfahrungen mit einer guten Freundschaft, die dann zu meiner ersten Beziehung geführt hat, waren für mich aus jetziger Sicht Gold wert. Ich habe viel daraus gelernt“, sagt Luise. Kennengelernt hatte sie ihn als 24jährige bei ihrem geliebten Sport, dem Tischtennis spielen. 

„Damals war ich sehr vorsichtig und zurückhaltend“, erinnert sich die Heilerziehungspflegerin, „ich habe meine Gefühle nicht zeigen können, was bei ihm auf großes Unverständnis stieß. Ich konnte ihm nicht sagen, warum ich so kalt bin.“ Außerdem konnte Luise sich nicht wirklich auf ihn einlassen, weil sie viel Freiraum beansprucht. Auch Kommunikation war für die Berlinerin ein Fremdwort.

Luise wusste nur allzugut selbst, dass all das aber wichtig ist in einer Beziehung. Dennoch sie schaffte es nicht, die Probleme offen anzusprechen. „Die ganze Situation führte dann früher oder später zur Trennung“, erzählt sie. Es habe aber nicht lange gedauert, da lernte sie ihren jetzigen Freund kennen. 

Und, jetzt endlich, öffneten sich die Schleusen: „Ich habe sofort mit offenen Karten gespielt und gesagt, dass ich das Fetale Alkoholsyndrom habe und dass ich schlecht Gefühle zeigen kann. Und dass ich viel mit mir selbst ausmache. Und dass es schwer ist, Konflikte zu lösen, die eventuell auftreten könnten.“ Luise hat außerdem gelernt, dass die Grundlage für eine gute Beziehung sein muss, dass man mit sich im reinen ist. Das ist sie: „Jetzt kann ich Gefühle zeigen, spreche Situationen sofort an, wenn ich feststelle, dass Redebedarf besteht.“ Und noch etwas ist für sie elementar: „Er nimmt mich so, wie ich bin. Er unterstützt mich in allem und das gibt mir sehr viel Kraft. Er kennt mich so gut, dass er, wenn ich einen bestimmten Gesichtausdruck habe, sofort weiß, was los ist.“

Luise fasst die wesentlichen Punkte aus ihrer Erfahrung zusammen:

+ Offenheit

+ Kommunikation

+ Gefühle zeigen

+ mit sich selbst im reinen sein

+ Empathie

Luise’s Fazit: „Wenn alle diese Punkte stimmen, dürfte es einer guten Beziehung an nichts mehr fehlen.“

Wir wollten noch ein bisschen mehr von Luise wissen und haben ihr ein paar Fragen gestellt:

Wie hast Du an Dir selbst gemerkt, dass Du Gefühle für Deinen ersten Freund hegst?

Luise: Bei meinem ersten Freund kamen die Gefühle erst nach und nach schleichend. Ich habe immer mehr gemerkt, dass ich oft an ihn denken muss und dass mir Bilder und Situationen, die wir zusammen erlebt haben, nicht mehr aus dem Kopf gehen. Irgendwann habe ich gedacht, na ob das dann nur noch eine normale Freundschaft ist, weiß ich nicht. Und so kam es dann, dass ich das offen angesprochen habe. Wir waren dann beide der Meinung, dass wir uns eine Beziehung vorstellen können.

War er die treibende Kraft, dass Ihr zusammen gekommen seid?

Luise: Meine treibende Kraft war, dass ich immer und immer wieder auch von seiner Seite aus gefragt wurde, ob ich nicht mal langsam über eine Beziehung nachdenken möchte. Ich war wirklich oft bei ihm und wir wollten uns eigentlich gar nicht mehr räumlich trennen.

Welche Art von Gefühlen hast Du nicht zeigen können?

Luise: Ich bin ein Mensch, der generell seine Gefühle kaum zeigt. Für mich war es schon immer unangenehm, meine Gefühle offen zu zeigen. Dass musste mein erster Freund ja leider auch feststellen. Ich konnte ihm nur sehr selten ins Gesicht sagen, dass ich ihn liebe, oder einfach offen mit ihm reden. Ich habe es eher in Schriftform oder mit einem Smiley gemacht. Ich konnte ihm auch nicht zeigen, ob ich traurig bin und weinen vor ihm schon gar nicht.

Was meinst Du mit „mit mir im reinen sein“? Mit was warst Du im unreinen?

Luise: Als ich mich gegen die Beziehung nach ungefähr einem Jahr entschieden habe, war ich mir im reinen. Ich merkte, dass ich mich davor dazu gezwungen hatte, mit ihm zusammen zu sein.

Mein Bauchgefühl hatte ich nicht ernst genommen. Obwohl ich recht früh gemerkt hatte, dass ich mich eingeengt fühle und noch einige Dinge mehr. Ich fühlte, so kann ich mich nicht weiterentwickeln. Als ich Schluss gemacht habe, fiel eine Riesen Last von mir und ich konnte endlich wieder atmen Das zeigte mir, dass ich alles richtig gemacht habe.

Kannst Du Dich denn jetzt vollständig einlassen? Oder gibt es bestimmte Grenzen, auf die Ihr Euch geeinigt habt?

Luise: Bei meinem jetzigen Freund kann ich mich voll auf ihn einlassen und er auf mich. Ich habe von Anfang an mit offenen Karten gespielt und habe ihm gesagt, wo meine Probleme sind und wie man in solch einer Situation mit mir umgehen soll. Dadurch konnten wir gleich eine Basis aufbauen, die für uns beide optimal war und immer noch ist.

Grenzen gibt es insofern, dass ich ihm gesagt habe, dass ich draußen nicht unbedingt küssen möchte und ein auf so mega verliebt spielen möchte. Für mich soll das einfach privat bleiben. Auch bei meinem unseren Sport möchte ich nicht, dass die anderen wissen, dass wir zusammen sind.

Dein Freund nimmt Dich so wie Du bist – bei was nimmt er sich zurück?

Luise: Ja, mein Freund nimmt mich mit all meinen Ecken und Kanten. Darüber bin ich sehr froh. Er nimmt sich oftmals zurück für mich, indem er meine Wünsche akzeptiert. Und er lässt mir den Freiraum, den ich brauche. Ich darf zu meinen Tischtennis-Turnieren fahren am Wochenende und einfach meine Freizeit so gestalten, wie ich das möchte.

Du hast mit Deiner Zwillingsschwester Clara eine sehr enge, innige und vertraute Verbindung. Hast Du bestimmte Dinge (Offenheit, Kommunikation, etc.) daraus für die Beziehung zu Deinem Freund ableiten können?

Luise: Ich bin schon immer ein emphatischer Mensch gewesen und das ist, denke ich, der Tatsache geschuldet, dass ich eben von klein auf eine Schwester habe, die eine geistige Behinderung hat. Deshalb habe ich von Anfang an gelernt, wie ich mit ihr umzugehen habe. Das hat mich sehr geprägt und beeinflusst mich immer noch, da ich mich nach wie vor viel mich um sie kümmere. Hinzu kommt mein Beruf als Heilerziehungspflegerin. Dafür muss man auch unbedingt emphatisch sein.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne