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Verdammt, im Abgrund zu verenden? Oder schaffen sie den Absprung?

Alle Eltern von Kindern im pubertären Alter leben mit der Sorge: Hoffentlich wird mein Kind nicht eines Tages drogensüchtig – weil es an die falschen Freunde gerät, oder weil es einfach nur neugierig ist und wissen will, wie es sich denn so anfühlt, wenn die Drogen die Welt in bunte Farben taucht und alles andere vergessen lässt.

Eltern von Kindern mit fetalen Alkoholschäden umtreibt diese Sorge einmal mehr, scheinen doch ihre Schützlinge auf den ersten Blick weit größere Affinitäten zu haben sich zu Drogen verleiten zu lassen, um sich dann im Sumpf der Drogenszene zu verlieren. Schließlich gelten viele von ihnen als leichtgläubig, sind sich der Tragweite und Konsequenzen ihres Handelns nicht bewusst, lassen sich nur allzu leicht zu allem möglichen verführen. Und, es stellt sich die Frage: Haben sie eine genetische Veranlagung dazu? Und heißt das dann, dass diese Kinder verdammt sind, im Abgrund zu verenden? Oder sind sie in der Lage, den Absprung wieder zu schaffen?

Wir haben Kevin, der vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) betroffen und unser Botschafter ist, dazu passend seine persönliche Geschichte erzählen lassen. Im Anschluss haben wir dem FAS-Experten aus der Klinik Walstedde bei Münster, Philipp Wenzel, einige Fragen zu dieser Thematik gestellt.

Kevin:

Ach, ich wollte das mal ausprobieren, aber irgendwie auch nicht. Und da meinte ein Kollege dann, komm ich führ’ Dich mal ran, und der hat mich dann immer wieder ziehen lassen. Irgendwann war es dann soweit, dass ich einen kompletten Joint alleine geraucht habe ohne Probleme. Ja, ich muss sagen, dass ich schon überredet worden bin. Ich war auch nicht betrunken. Ich war auf jeden Fall neugierig, wie es auf mich wirkt. 

Wie gesagt, alles fing, da war ich 18 Jahre alt, mit ein paar Zügen von einem Joint an. Die Wirkung kam sofort: Ich merkte, dass es mir besser geht und ich nicht mehr so “anders“ bin, auch mal entspannen kann. Aber aus ein paar Zügen wurden irgendwann 0,5 Gramm, und aus 0,5 Gramm wurde 1 Gramm täglich, um mich selbst zu ertragen. Die Spirale ging weiter. 

Es blieb nicht bei Cannabis. Ich fing an Koks zu ziehen. Schnell stellte ich fest, dass ich auch hier immer mehr davon haben wollte. Anfangs konnte ich noch widerstehen und blieb bei Cannabis. Als ich dann aber mal wieder feiern war, ist es passiert: Ich zog wieder Koks. Von da an habe ich mir zwischendurch immer mal wieder ‘was geholt. Ab dem Zeitpunkt war mir plötzlich alles egal, mein Leben zog einfach so an mir vorbei.

Mein ganzes Gespartes? Weg! Ausgegeben für Drogen! Eigentlich war das Geld für meinen Führerschein und evtl. noch ein Auto geplant. Daran könnt ihr erkennen, wie hoch mein Drogenkonsum ausgesehen hat. 

Eines Tages landete ich in der Psychiatrie. Hier lernte ich auch, ohne die ganzen Drogen zu leben. Hat es gehalten? Nein! Ich machte weiter. Es kam sogar noch Speed hinzu. Und ich nutzte die Wirkung von meinen Schlaftabletten aus, weil ich alles vergessen, keinen Schmerz mehr fühlen wollte. 

Unglaublich, aber wahr: Ich habe es irgendwann alleine geschafft mit fast allem aufzuhören. Es machte einfach keinen Sinn mehr so zu leben. Cannabis habe ich allerdings weiter konsumiert. Und verdammt, dann passierte der Rückfall mit Speed. Mit Freunden chillend rauchte ich erst einen Joint, zog dann Speed, woraufhin ich über 24 Stunden wach blieb. 

Am nächsten Tag traf ich mich wieder mit Freunden, rauchte gleich wieder einen Joint und da passierte es: Ich kollabierte, ich krampfte, etc. Ich selbst realisierte gar nichts, Freunde und Bekannte erzählten es mir später. Ich musste mit dem Rettungswagen abgeholt werden.

Von diesem Tag an kann ich stolz sagen: ICH BIN CLEAN VON ALLEM! 

Ich hatte Angst, Angst zu sterben. Drogen sind scheiße!

Wenn Sie das lesen, Herr Wenzel, wie deckt sich das mit den Erfahrungswerten, die Sie durch Ihre Patienten erworben haben? Ist dieser Fall ein Klassiker?

Philipp Wenzel: 

Der Fall von Kevin ist leider ein typischer Fallverlauf für Klienten, welche von FAS betroffen sind. Die Klienten werden im Rahmen der Alkoholschädigung ja schon früh mit einem Suchtstoff im Mutterleib angespielt. Schon zu diesem Zeitpunkt erhält das Belohnungssystem des Ungeborenen eine entsprechende Konfrontation und wird somit in eine pathologische Richtung gelenkt. Im Grunde kommt es hier zu einer Desensibilisierung bezogen auf den Botenstoff Dopamin, welcher im Rahmen des Belohnungssystems im Hirn fungiert. Die entsprechenden Zellen des Belohnungssystems fordern diesen Stoff (Dopamin) regelrecht ein. Die von Kevin beschriebene Entwicklung und sein entsprechender Fallverlauf sind für uns aus dem ärztlich-therapeutischen Bereich leider keine Seltenheit. Um auf Ihre Frage entsprechend zu antworten, müssen wir diesen Fall leider als einen „Klassiker“ benennen. Dies ist vor allem für die Klienten tragisch, welche vom FAS betroffen sind, aber dennoch eine hohe kognitive Leistungsfähigkeit haben und entsprechend auch einen sehr nah an der Normalität liegenden Entwicklungs- und Schulverlauf darstellen können.

Sind Kinder mit fetalen Alkoholschäden suchtanfälliger als andere Kinder? 

Philipp Wenzel:

Wie gerade schon erwähnt, wird bereits unter der Schwangerschaft, also im Mutterleib, das Belohnungssystem der Betroffenen mit Alkohol angespielt. Dadurch, dass es im Rahmen dessen zu einer Desensibilisierung für Dopamin kommt, sind die Betroffenen regelmäßig auf der Suche nach entsprechenden Erfahrungen, welche einen Dopamin-Schub oder „Kick“ auslösen.

FAS-Betroffene sind entsprechend deutlich suchtanfälliger und haben generell eine höhere Affinität zu Suchtstoffen. Dies ist leider nicht auf Alkohol beschränkt, sondern weitet sich auch auf den Bereich von Drogen, aber auch in den Bereich von nicht stoffgebundenen Süchten aus. Entsprechend kommt es häufig zu erhöhtem Medienkonsum, Mediensucht oder Spielsucht. Im Rahmen der Spielsucht ist es besonders gefährlich, dass die Betroffenen keine Einschätzung von Geldwerten oder Sachwerten haben. Meistens sind entsprechend den Spielverhaltensweisen keine Grenzen gesetzt.

Im Rahmen der Suchtentwicklung wirkt sich außerdem begünstigend aus, dass die Betroffenen oft artlos und verleitbar sind. Sie lassen sich entsprechend schneller auf Substanzkonsum ein und können im weiteren Verlauf die Konsequenzen ihres Verhaltens nicht adäquat abschätzen, sodass es zu Konsumverhalten von großen Stoffmengen kommt. Dies ist über das ohnehin schon erhöhte Suchtpotenzial hinaus noch gefährlicher, da sich hieraus eine noch schneller verlaufende Suchtentwicklung entwickeln kann sowie eine Sucht zu noch härteren Drogen.

Wenn FAS-Betroffene suchtanfälliger sind, woran liegt es – an einer genetischen Veranlagung, an mangelnder Medikation, an frustrierenden Lebensläufen, die bis hin zu Depressionen führen?

Dr. Wenzel:

Im Rahmen der aktuellen Forschung, auch im genetischen Bereich, arbeiten wir aktuell an der Fragestellung, ob es eine genetisch verankerte erhöhte Suchtstoffaffinität gibt. Diese wäre dann als Risikofaktor für das Entstehen eines Fetalen Alkoholsyndroms zu werten. In diesem Fall würde dann zu der hirnorganischen Schädigung im dopaminären System, wie ich sie oben schon benannt habe, auch eine genetische Disposition hinzukommen. Die Betroffenen hätten entsprechend zwei Risikofaktoren zur Entwicklung einer Suchterkrankung.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Suchtanfälligkeit für Alkohol und der für andere Drogen? 

Philipp Wenzel:

Einen Unterschied in der Entwicklung von Suchterkrankungen sehen wir deutlich. Die meisten Jugendlichen zeigen aufgrund der Verfügbarkeit eine hohe Affinität zu Medien und einer sich entsprechend entwickelten Mediensucht. Auch sehen wir gehäuft die Entwicklung von einer Cannabissucht. Oftmals sind die Betroffenen dahingehend sozialisiert, keinen Alkohol zu trinken, da dieser sie selbst schon so massiv geschädigt hat. Dies ist oftmals so tief sozialisiert, dass hier ein regelrechter Ekel entsteht. Hier wird der Fall von Kevin dann wieder zu einem sehr typischen Fall. Es kommt zu entsprechenden Verführungen in der Peer-Group und dann zur Aufnahme von regelmäßigem Cannabis-Konsum. Diese Droge ist in Milieunähe günstig und schnell verfügbar, sodass eine Suchtentwicklung sehr rasch geschehen kann.

Viele Jugendliche mit fetalen Alkoholschäden, die keine unterstützenden Medikamente erhalten, berichten, dass sie Cannabis rauchen, damit sie endlich mal “runterkommen”. Ist die mangelnde Medikation tatsächlich ein Trigger?

Philipp Wenzel:

Die mangelnde Medikation ist kein echter Trigger. Das bedeutet nicht, dass Menschen, welche vom Fetalen Alkoholsyndrom betroffen sind, schon dadurch getriggert sind, dass sie keine Medikation haben, dann Drogen zu konsumieren. Eher spricht die hohe Suchtstoffaffinität für einen frühen und intensiven Drogenkonsum.

Durch die Alkoholschädigung entsteht oftmals ein hohes Maß an Reizoffenheit und Ablenkbarkeit sowie Konzentrationsunfähigkeit. Die Patienten leiden unter einer sogenannten Ich-Grenzen-Störung. Das bedeutet, dass sie Inhalte, welche außerhalb des Körpers entstehen, viel deutlicher nach innen wahrnehmen als es nicht Betroffene tun. Diese flexiblen und bei nicht betroffenen Menschen modifizierbaren Grenzen stehen für FAS-Betroffene oft offen. Im Rahmen des Erstkonsums von Drogen wie Cannabis erleben die FAS-Betroffenen dann, dass durch den Konsum eine Abdichtung gegenüber den äußeren Reizen passiert. Dies wird entsprechend oft als angenehm wahrgenommen, sodass häufiger und intensiver Drogen konsumiert werden, weil diese die Betroffenen „runterbringen“ und „abdichten“. Dies kann im Rahmen des psychiatrischen Verständnisses als Selbstmedikation angesehen werden.

Bei Klienten, die mir vorgestellt werden und die bereits Suchtstoffe konsumieren, stelle ich oft eben diese Frage. Werden die Suchtstoffe genau deswegen konsumiert? Wenn dies der Fall ist, so versuche ich, mit dem Betroffenen schnellstmöglich eine Abstinenz zu erarbeiten, wenn möglich auch durch einen qualifizierten stationären Drogenentzug, um dann eine entsprechende abdichtende Medikation mit zum Beispiel einem Neuroleptikum auf den Weg zu bringen. Die hirnorganischen Auswirkungen und unerwünschten Arzneimittelwirkungen des Neuroleptikums sind in keinem Fall mit den schädigenden Wirkungen von Drogen vergleichbar. Es handelt sich um eine kontrollierte Medikation, deren Wirksamkeit in großen Studien bewiesen ist. Die Schädlichkeit einer solchen Medikation ist weit unter der Schädlichkeit von Drogenkonsum. Außerdem greift eine Medikation sehr gezielt in die hirn-bio-chemischen Vorgänge ein. Drogen sind hier unspezifischer und haben eine auch schädigende Wirkung auf das sich entwickelnde Gehirn. Außerdem kommt es zu einer Toleranzentwicklung und einer Suchtentwicklung, somit Erhöhung der Dosis und im weiteren Verlauf dann sozialem Abstieg usw. Eine Medikation kann einer solchen Entwicklung deutlich entgegenwirken.

Was kann man als Eltern und Betreuer tun, um die Gefahr der Suchtanfälligkeit zu minimieren?

Philipp Wenzel:

Die Angehörigen und Betreuer der vom Fetalen Alkoholsyndrom betroffenen Menschen können vor allem mit gezielter Aufklärungsarbeit und Psychoedukation genau dieser Problematik entgegenwirken. Sie sollten eine entsprechende Motivation beim Betroffenen schaffen, sodass eine Affinität auf der psychosozialen Ebene verringert wird. Wie oben schon genannt, haben FAS-Betroffene aufgrund ihrer Sozialisierung schon eine gewisse Aversion gegen Alkohol. Diese sozialisierte Aversion kann auch im Bereich anderer Suchtstoffe bereits früh etabliert werden, sodass hier die Gefahr verringert werden kann.

Leider kann der biologisch-psychiatrischen Gefahr, die aus der Schädigung des Belohnungssystems resultiert, nicht adäquat entgegengetreten werden. Hier kann man die Betroffenen jedoch ausreichend mit einer Medikation versorgen, sodass die Ich-Grenzen-Stabilisierung nicht durch einen Suchtstoff stattfinden muss, sondern unter kontrollierten Bedingungen durch ein entsprechendes Medikament stattfindet.

In vielen Fällen ist es jedoch leider auch notwendig, eine räumliche Distanz zum Drogenmilieu herzustellen und entsprechende sichernde Maßnahmen zu etablieren. Die Betroffenen schaffen es dann oft aufgrund ihrer Arglosigkeit und Verführbarkeit sowie dem fehlenden Gefahrenbewusstsein nicht, für sich selbst eine Abstinenz aufrechtzuerhalten. Hier sind dann die entsprechenden Hilfesysteme in Form von Betreuern und Angehörigen gefragt.

Was ist es, dass es ein vom FAS betroffener Jugendlicher, der in der Drogenszene gelandet ist, schafft, dort wieder herauszukommen? 

Philipp Wenzel:

Im Fall von Kevin sehe ich generell einen typischen Fallverlauf. Hier kam es im Rahmen der sozial emotionalen Nachreifung zu einem entsprechenden Prozess. Kevin konnte für sich selbst die Haltung entwickeln, dass Suchtstoffe für ihn schädlich sind. Seine gemachten Erfahrungen und seine Vorstellungen halfen ihm entsprechend dabei, die Entscheidung gegen den Konsum von Suchtstoffen zu treffen. Insgesamt sind solche Fallverläufe leider die Seltenheit und die meisten Betroffenen gleiten in das entsprechende Milieu ab. Es kommt zu Konsum von Alkohol und weiteren Suchtstoffen, auch bei weiblichen Betroffenen, was oftmals dazu führt, dass auch hier unter der Schwangerschaft Alkohol und Drogen konsumiert werden. Oftmals wird in der Diagnostik dann die ganze Tragik in der Familienanamnese deutlich.

Insgesamt sehen wir bei den FAS-Betroffenen vor allem die Problematik des bereits früh angespielten Belohnungssystems. Im Rahmen dessen schaffen viele Betroffene es nicht, auf spezielle Verhaltensweisen und Substanzkonsum zu verzichten. Dies führt dannmeistens zu desolaten Fallverläufen und auch zu tragischen Entwicklungen, obwohl eine viel bessere und stabile Entwicklung zu erwarten gewesen wäre. Es ist an dieser Stelle entsprechend sehr lobenswert, dass Kevin diesen Weg für sich beschritten hat und selber daran arbeitet, diesem Milieu zu entfliehen. 

Die Fragen stellte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Die FDP bleibt am Ball: weiterer Antrag eingereicht

Die schriftlichen Stellungnahmen und Anhörungen zu den Themenbereichen Alkohol in der Schwangerschaft und Fetales Alkoholsyndrom in der jüngsten Sitzung des Gesundheitsausschusses des Bundestages in Berlin haben dazu geführt, dass die FDP-Fraktion einen weiteren Antrag mit einem 14 Punkte umfassenden Fragenkatalog eingereicht hat. 

Laut FDP ist das Thema Fetales Alkoholsyndrom als eine oft vertuschte Behinderung “dringlich zu erörtern und in seiner gesamten Tragweite zu erfassen, denn die Zahlen der Betroffenen steigen jährlich und die Ausgaben aller Sozialleistungstärger werden das sozialrechtliche Gefüge auch zukünftig weiter entsprechend beeinflussen und herausfordern.” 

Ebenso wie die Aktivisten unserer Kampagne HAPPY BABY NO ALCOHOL sieht es die FDP als Voraussetzung, dass “nicht nur werdende Mütter, sondern die gesamte Gesellschaft in allen Bereichen und vor allem in ihren verschiedenen Institutionen diesbezüglich zu den schädigenden Auswirkungen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft nachhaltig informiert und intensiv aufgeklärt werden sollten.”

Nur so kann es gelingen,die behinderungsbedingten Schwierigkeiten als Folge eines riskanten Gebrauchs der Alltagsdroge Alkohol anzuerkennen. Im weiteren Schritt können gesellschaftliche Bedingungen geschaffen werden, die den Betroffenen zu Toleranz und Akzeptanz ihrer Behinderung verhelfen.

Die Fragen der FDP an die Bundesregierung: 

  1. Welche Anzahl an Schwangeren konsumiert, nach Kenntnis der Bundesregierung, alkoholische Produkte, und wie hat sich diese Zahl seit 2010 jährlich entwickelt?
  2. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Kenntnisstand in der Bevölkerung und spezifisch bei Schwangeren über die Risiken beim Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und wie hat sich dieser Kenntnisstand seit 2010 entwickelt?
  3. Wie viele Kinder wurden, nach Kenntnis der Bundesregierung, jährlich seit 2010 mit FAS bzw. FASD geboren?
  4. Wieviele Menschen leben, nach Kenntnis der Bundesregierung, insgesamt in Deutschland, die unter gesundheitlichen Schäden durch den Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft leiden?
  5. Wie hat sich, nach Kenntnis der Bundesregierung, die Zahl der Menschen, die Alkohol in der Schwangerschaft für unbedenklich halten, in den letzten zehn Jahren entwickelt?
  6. Wieviele Menschen haben jährlich seit 2010, nach Kenntnis der Bundesregierung, aufgrund FASD/FAS einen Schwerbehindertenausweis beantragt, und wieviele dieser Anträge wurden, nach Kenntnis der Bundesregierung, jährlich seit 2010 genehmigt?
  7. Welcher Grad der Behinderung wird bei Menschen mit FASD/FAS, nach Kenntnis der Bundesregierung, in der Regel festgestellt?
  8. Welche Präventionsprojekte wurden in den letzten zehn Jahren im Bereich FASD/FAS gefördert und zu welchen Ergebnissen kamen diese?
  9. Von wem wurden diese Präventionsprojekte jeweils mit welchem Ergebnis unabhängig evaluiert?
  10. Welche Forschungsprojekte wurden in welcher Höhe in den letzten zehn Jahren im Bereich FASD/FAS gefördert und zu welchen Ergebnissen kamen diese?
  11. Welche Initiativen wurden in den letzten zehn Jahren ergriffen, um das Wissen über FASD/FAS in medizinischen und sozialen Berufen und Behörden zu vergrößern?
  12. Von wem wurden diese Initiativen mit welchem Ergebnis unabhängig evaluiert?
  13. Wievielte Zentren gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung, die sich auf die Beratung und Behandlung von FASD-Betroffenen spezialisiert haben?
  14. Inwiefern ist die Bundesregierung ihrem selbst gesetzten Ziel der Punktnüchternheit in der Schwangerschaft und Stillzeit in den letzten Jahren näher gekommen?

Sie müssen das Kind endlich mal loslassen

„Eines schon vorab“, macht sich Pflegemutter Ilka* aus Niedersachsen Luft: „Ohne umfangreiche Kenntnisse zu rechtlichen und medizinischen Fakten kann man das komplizierte öffentliche Antragsverfahren im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII nicht erfolgreich bewältigen. Wochen und Monate haben wir uns für unser dreizehnjähriges Kind durch den Gesetzes-Dschungel des SGB gekämpft.“ Und immer wieder sei man abgewiesen worden mit dem Hinweis, hierfür sei man nicht zuständig. Immer wieder folgten verständnislose Rückfragen in der Zuständigkeit wechselnder Sachbearbeiter. Unentwegt habe man schriftliche Erinnerungen verschicken müssen, damit das Verfahren nicht in irgendeiner Schublade versandete. Bis schließlich das Jugendamt zu einem persönlichen Termin mit Kind aufforderte. 

Pflegemutter Ilka erinnert sich nur zu gut:

„Zuerst sollte unser Sohn allein einen ellenlangen Fragebogen ausfüllen; schreiben und lesen könne er doch und Antragsteller sei das Kind selbst. Er verstand die Fragen nicht und wollte auf den sozialpädagogischen Helfer lieber gleich verzichten……’die kennen mich doch, die wissen doch, wie ich bin, die haben ja nix verstanden, die spinnen ja, ich lass das ….. ach, nein, ich darf ja endlich unterschreiben’. Ein freches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit und der Halbstarke schmetterte seine Unterschrift in krakeligen Druckbuchstaben und unleserlichen Strichen unter das Formular. So Mutti, jetzt kriege ich aber die Playstation, ne? Hier gelang es ihm sofort, die Belohnung einzufordern. Das Ursache-Wirkungsprinzip klappt gewöhnlicherweise im Alltag nicht. Daher schaute mich der Sachbearbeiter, an dessen Schreibtisch wir noch saßen und dem ich ja zuvor erklärt hatte, wie eingeschränkt die Handlungsplanung bei unserem jungen Wilden ist, bei dieser Bemerkung gleich wieder kritisch hinterfragend an.“

Wieder gingen viele Wochen ins Land, bis, ja bis eine “multiaxiale sozialmedizinische und jugendpsychiatrische Beurteilung und Begutachtung” eingefordert wurde. Die Familie atmete durch. Man hatte durchaus solche Berichte, sogar einen ganzen Stapel. Doch zu früh gefreut. “Nicht älter als sechs Monate”, lautete der schriftliche Hinweis, der erst nach weiteren Wochen eintraf, mitsamt einer Einladung zu einem weiteren Hilfeplangespräch.

„Was wollen die schon wieder von mir. Ich will meine Ruhe haben. Die können mich mal. Na gut, ich gehe mit, wenn du das willst”, war die Antwort des Pflegesohnes.

Ilka weiß noch genau: “Unser Junge saß neben mir, pulte nervös an seinen Fingernägeln und schaute immer wieder verunsichert zu mir rüber. Ich sollte schildern, was bei ihm alles oft misslang, wo die Handicaps liegen, welche Hürden sich immer wieder auftun, wie schräg es oft zuging und wie wir seine Überforderung im täglichen Alltag zu vermeiden suchten.

Und dann das: Der Sachbearbeiter fragte unseren Sohn, ob er denn schon eine Freundin habe, wie die aussehe und ob er sie möge. Ich war entsetzt – alles Fragen, die für einen in der Pubertät befindlichen jungen Wilden eine echte Provokation und Herabwürdigung bedeuteten. ‘Dazu sage ich nichts’, gab mein Pflegesohn die einzig richtige Antwort und ich war stolz auf seine Reaktion.

Um unseren Pflegesohn zu schützen und ihm nicht zuzumuten, alle Unzulänglichkeiten anhören zu müssen, bat ich darum, das Gespräch unter vier Augen fortzusetzen. Der Bitte kam der Sachbearbeiter nach, aber eine Zurechtweisung folgte auf dem Fuße. Ich müsse dieses Kind jetzt endlich mal loslassen. Der Junge sei alt genug und sollte es aushalten, mal eine halbe Stunde stillzusitzen und nicht an den Nägeln zu pulen.

Dann erklärte er mir, dass eine erneute diagnostische Abklärung eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie nötig sei. Es fehlt eine multiaxiale Beurteilung nach den verschiedenen Klassifikationssystemen.

Ilka: “Mein armes Kind, noch einmal diese ganze Prozedur!”

Die Diagnostik wurde dann erneut durch mehrere Testungen bei einem Arzt, der nach den Leitlinien eines wissenschaftlichen Papiers vorgegangen ist, als Mehrbereichsdiagnostik durchgeführt. Diese und die gewünschte multiaxiale Diagnostik als Anlage nach ICF-CY stellte sich dann wie folgt dar:

Nach der ICD-10 (DIMDI)bestehen folgende Diagnosen:

• Alkoholembryopathie/fetale Alkohol-Spektrum-Störung

• als Komorbiditäten hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens

• Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten 

• Hirnorganische Persönlichkeitsstörung

• Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung 

Und nach dem multiaxialen System der Kinder- und Jugendpsychiatrie bestehen folgende Diagnosen:

• Entwicklung/Intelligenz:klinisch-psychiatrisches Syndrom F07,

hirnorganisches Psychosyndrom aufgrund organisch chronischer

hirnorganischer Erkrankung F07.9

Wir haben nach Durchlaufen des umfangreichen Antragsverfahrens tatsächlich einen sozialpädagogischen Einzelfallhelfer genehmigt bekommen, der mit unserem Sohn Freizeitaktivitäten durchführte, die ein Dreizehnjähriger nicht mehr mit Mutti machen wollte.

* Name zum Schutz der Familie geändert

Aufgezeichnet von Dagmar Elsen

Unter Tränen sagt die dreifache Mutter: Jetzt erklärt sich so vieles

“Letzte Woche wollte ich mir zwei Rubbellose kaufen, hatte meinen 12jährigen Sohn dabei, und musste den Ausweis zeigen. Das passiert mir ganz oft. Freitag wurde ich von der Polizei angehalten, ob ich überhaupt Auto fahren darf. Das war nicht das erste Mal. Jetzt habe ich mir schon extra die grauen Haare rauswachsen lassen, damit man sieht, dass ich älter bin. Und trotzdem werde ich angehalten, weil man meint, ich sei noch keine 18 Jahre. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben.”

Michaela*, 40 Jahre alt, Vollbild Fetales Alkoholsyndrom (FAS). Sie lebt in Nordrhein-Westfalen mit ihrem Mann und den drei Kindern. Sie ist nur 147 Zentimeter groß, leidet, wie sie selbst sagt, unter eingeschränkter Merkfähigkeit, globaler Intelligenzminderung, Konzentrationsschwächen, einem dreifachen Nierenbecken, Bindegewebsschwäche und steht mit Mathe auf Kriegsfuß.

Dennoch habe sie, wie sie stolz erzählt, in ihrem Leben einiges erreicht. Vier Abschlüsse hat sie gemacht: in Kinderpflege, Heilerziehungspflege, Krankenpflegehilfe und Bürokauffrau. Dafür hat sie aus eigenem Antrieb nach der Hauptschule den Realschulabschluss nachgemacht und schließlich auch das Fachabitur abgelegt. Das Arbeitsamt nötigte sie zu einer Ausbildung als Bürokauffrau. “Das war sehr anstrengend für mich. Aber ich musste das machen, weil ich keine Arbeit gefunden habe”, erläutert Michaela.

Sie habe einige Jahre Vollzeit in der Krankenpflege gearbeitet, erzählt die 40jährige, sei aber vom Arbeitgeber bis zur Erschöpfung ausgenutzt worden: “Ich habe beispielsweise ein Jahr sämtliche Feiertagsdienste von 12 bis 20 Uhr übernehmen müssen, obwohl ich kleine Kinder hatte. Und ständig Extra-Schichten geschoben. Man drohte mir mit Kündigung, wenn ich das nicht mache.”

Irgendwann konnte sie nicht mehr. Sie fühlte sich permanent überfordert. War chronisch erschöpft. Eines Tages schmiss sie den Job. Sie nahm alle möglichen Jobs an. Selbst als sie als Ferkel-Hebamme gearbeitet hat, sagte sie zu ihrem Mann: “Alles besser als der Pflegedienst.” Und der Job auf dem Schweinehof war beileibe kein Zuckerschlecken: “Bei 60-80 Sauen, die in der Nacht gleichzeitig ferkeln, habe ich aus der Sau die Viecher rausgeholt und die toten platten weggeräumt und die Nachgeburten entsorgt. So ‘ne Sau kriegt im Durchschnitt 13-14 Ferkel und Du musst aufpassen, dass sie von der Mutter nicht platt gelegen werden. Das ist ja eng da in der Box und so ‘ne Sau wiegt 140 Kilo. Außerdem musst Du gucken, dass die Ferkel nicht im Geburtskanal stecken bleiben. Da musste ich mit dem Arm bis zur Schulter in die Sau rein und die rausholen.”

Doch auch bei diesem Job, so wie schon bei allen anderen, holte Michaela nach einiger Zeit das Thema Überforderung wieder ein. Sie haderte mit ihrem Schicksal, wollte wissen, warum. Bis dato wusste sie nicht, dass sie FAS hat. “Meine Adoptivmutter”, die, wie sie betont, ihre tatsächliche Mutter ist, “die hat immer gesagt, da könnte etwas sein.” Es war bekannt, dass die biologische Mutter Alkohol in der Schwangerschaft getrunken hat.” Michaela wurde aber nie daraufhin untersucht. In den 80er Jahren sei FAS noch nicht so im Fokus der Öffentlichkeit gewesen. “Es ist ja heute noch ein Tabuthema”, konstatiert und kritisiert Michaela.

Außerdem seien Kindheit und frühe Schulzeit unproblematisch verlaufen, so dass sich nie Handlungsbedarf aufgetan habe. Die Eltern, die noch ein leibliches Kind haben, das zu 100% geistig und körperlich behindert ist, lebten früh den Inklusionsgedanken und förderten ihr Adoptivkind positiv. Montessori heißt das Zauberwort. Die schwerstbehinderte Schwester sei eine der ersten gewesen, die eine Regelschule besucht habe.

Nun aber, Michaela ist 38 Jahre alt, will sie es wissen und lässt sich in der FAS-Erwachsenendiagnostik in Essen untersuchen. Unter Tränen sagt die dreifache Mutter: “Jetzt erklärt sich so vieles.”

Inzwischen bekommt die 40jährige auch psychologische Unterstützung: “Ich habe ganz ganz viel Furcht und heule sehr viel, weil ich mir selber nichts zutraue, was man mir nicht anmerkt, weil ich mir eine Fassade aufgebaut habe, wo man nicht so an mich ran kann.”

Was lässt die Tränen versiegen? “Mein Mann, er nimmt mich wie ich bin. Wir sind vor 18 Jahren zusammengekommen und seit 2005 geheiratet. Wir wussten einfach: das passt! Ich bin so froh, dass ich ihn habe.”

*Vollständiger Name ist der Redaktion bekannt

Autorin: Dagmar Elsen

Sachverständige einig: Es besteht auf allen Ebenen viel Handlungsbedarf

“Es ist nach wie vor so, dass keine ausreichende Kenntnis besteht, was mit dem Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft angerichtet wird. Die Vulnerabilität ist ausgesprochen groß”, konstatierte der Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie in Zwickau, Dr. Frank Härtel, bezüglich des FDP-Antrages zum Thema Fetales Alkoholsyndrom (wir berichteten) in der jüngsten Sitzung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages. Darin waren sich auch die übrigen, zu dieser Thematik geladenen Sachverständigen, einig. 

Mit seiner Aussage, “90 Prozent wissen, dass Alkohol schädlich ist, trotzdem ist das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) immer noch ein hochrelevantes Thema” bestätigte Professor Dr. Götz Mundle, Direktor der Bundesärztekammer, den landläufigen Irrglauben, dass ‘das Gläschen zum Anstoßen schon nicht schade’. Denn, so Mundle weiter: “Wir müssen davon ausgehen, dass über die neurologischen Schäden noch zu wenig Wissen besteht. Das (FAS-)Vollbild ja, aber dass auch bei geringem Alkoholkonsum hirnorganische Schäden und Entwicklungsschäden entstehen können – hierauf sollte der Fokus gelegt werden.”

Mundle räumte ein, dass in den vergangenen Jahren einiges an Projekten gegeben habe, um die Aufklärung voranzubringen. Deutlich machten aber alle fachspezifischen Sachverständigen, dass noch viel Handlungsbedarf bestehe. Schließlich würden immer noch zwischen 10.000 und 20.000 Kinder jährlich mit fetalen Alkoholschäden geboren. 

Ziel in Deutschland sollte sein, die soziale Norm ‘kein Alkohol in der Schwangerschaft’ zu etablieren. 

Um das zu erreichen, brauche es abgestimmte Maßnahmenpakete aus den Bereichen Werbung, Preisgestaltung, Verfügbarkeit.” Aber wir brauchen auch politische Unterstützung. Denn gesamtgesellschaftlich erzielen wir höhere Effekte, wenn die Politik dahinter steht”, forderte Peter Eichin, Geschäftsführerder Villa Schöpflin gGmbH. Nicht zuletzt brauche es neue Themen. Die Villa Schöpflin zum Beispiel habe im Rahmen ihres Projektes HaLT, einem Alkoholpräventionsprogramm für Kinder und Jugendliche, ein Modul hinzugenommen, dass sich mit Alkohol in der Schwangerschaft und den Folgen, dem Fetalen Alkoholsyndrom, beschäftigt. 

Hinsichtlich Aufklärung und Sensibilisierung sei festgestellt worden, dass zum einen ein hoher Bedarf an Multiplikatoren für die Thematik bestehe, sprich Ärzte, Fachkräfte, Hebammen, die in der Materie geschult sind. Zum anderen: “Fakt ist, es sind noch Falschinformationen im Umlauf”, berichtete Eichin. Und weiter: “Wir haben eine Schulung zu FAS angeboten, die war sofort ausgebucht.” Für die geplanten weiteren seien die Wartelisten schon voll.

Dass es schon daran kranke, dass es viel zu wenige FAS-Experten in Deutschland gebe, unterstrich auch Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne HAPPY BABY NO ALCOHOL. Und die allgemeine Unwissenheit über das FAS betreffe auch die relevanten Berufe wie Kinderärzte, Psychiater, Therapeuten, Sozialarbeiter. “Das bedeutet, dass wir nicht in der Lage sind, ausreichend und auch nicht rechtzeitig Diagnosen stellen zu können”, unterstrich Elsen.

Den mit dem FAS besonders vertrauten Sachverständigen ging es jenseits der Prävention und Sensibilisierung vor allem auch um die Hilfe und Unterstützung der bereits Betroffenen von fetalen Alkoholschäden. Schon früh seien bei den Kindern sektorübergreifende Maßnahmen notwendig, um frühzeitig intervenieren zu können. Der Kinder- und Jugendpsychiater und -therapeut Dr. Khalid Murafi verwies darauf, dass zumeist zu den Besonderheiten des FAS-Kindes, dass es zum Beispiel leicht verführbar sei (dies treffe insbesondere die Mädchen), dass sie sexuell missbraucht werden, dass die Kinder kriminalisiert werden, Opfer werden, psychiatrische Erkrankungen und langfristige Belastungen mit sekundären Folgen hinzukommen. 

Murafi forderte deswegen “sektorübergreifende, SGB-übergreifende, altersübergreifende und expertisenübergreifende Hilfen zu installieren und konsequent durchzuführen.” Denn sonst, sagte der Chefarzt der Kinder und Jugendklinik Walstedde in aller Deutlichkeit, “sind das dann die Kinder, die wir Systemsprenger nennen und alle die Hände hochheben,und die nebenbei bemerkt massive Kosten verursachen. Deshalb möchte ich hier dafür werben, dass Sie politischen Willen entfalten und sich dafür einsetzen.”

Dagmar Elsen warb dafür, dass das Fetale Alkoholsyndrom endlich in Deutschland als Behinderung anerkannt wird: “Es wäre die Grundlage dafür, endlich etwas in Bewegung zu setzen. Denn wenn es Vorgaben gibt für die Ämter, dann entfällt auch der Kampf für die Familien um die Anerkennung, die Hilfen und die Unterstützung. Es ist nun mal eine Schwerbehinderung, die muss anerkannt und akzeptiert werden.”

Nicht zuletzt müsse das Augenmerk hinsichtlich der Maßnahmenpakete auch auf die erwachsenen Betroffenen gelegt werden, mahnte Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr, Gründer des ersten FAS-Zentrums in Berlin. Zum einen würden die Kinder eines Tages erwachsen sein. Zum anderen “haben wir das Problem, dass so viele Erwachsene mit fetalem Alkoholsyndrom nicht diagnostiziert werden”, so Spohr.

Wir brauchen weitergehende Diagnostik

Öffentliche Anhörung „Alkoholpräventionsstrategie“ im deutschen Bundestag am 03.03.2021

Stellungnahme

Dr. med. Khalid Muraf

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Chefarzt und Geschäftsführender Gesellschafter Klinik Walstedde

 

Die fetalen Alkoholspektrumsstörungen stellen an sich schon eine komplexe Problematik mit vielen unterschiedlichen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Systemen der betroffenen Kinder da.

Nicht nur, dass die Kinder durch verzögertes Wachstum und retardierende Reifung auffallen. Sie zeigen Organschädigungen, Stigmata (besondere Kennzeichen im Gesicht z.B. schmales Lippenrot, fliehendes Kinn, bestimmt Augenstellung, veränderte Nasenwurzelstruktur, verstrichenes Philtrum etc.), neurologische und motorische Entwicklungsverzögerungen, außerdem seelische Belastungen und Verhaltensauffälligkeiten.

Jenseits dieser schon äußerst komplexen Beeinträchtigungen, hervorgerufen durch Alkohol- und Drogenkonsum in der Schwangerschaft, sind diese Kinder prädestiniert für weitergehende Belastungsfaktoren.

Hintergrund hierfür ist eine vermehrte Neigung der Mütter, auch während der Schwangerschaft gegen besseres Wissen Alkohol zu konsumieren. Ursache dafür kann z.B. eine bestehende Abhängigkeitserkrankung sein und / oder eine mütterliche, nicht angemessene Einschätzung hinsichtlich der Wirkung des Alkoholkonsums. Beides wiederum kann einhergehen mit affektiven Erkrankungen wie z.B. Depressionen oder manisch-depressiven Erkrankungen sowie anderen psychiatrischen Erkrankungen – Psychosen, Angststörungen und unspezifische Affekt- und Impulsregulationsstörungen. Hierbei können genetische Komponenten eine Rolle spielen. Das wiederum führt dazu, dass hier ein erhöhtes Risiko besteht, dass die geborenen Kinder neben den alkoholbedingten Erkrankungen eigenständige psychiatrische Erkrankungen mit genetischen Komponenten entwickeln.

Bekanntlich ist die Zeit der Schwangerschaft mit einem höheren Risiko belastet, auch andere psychosoziale Stressoren aufzuweisen: Partnerschaftskonflikte, soziale Belastungen, Armut, keine ausreichende Gesundheitsfürsorge im Rahmen eines übermäßigen Alkoholkonsums, Partnergewalt, etc. All diese Bedingungsfaktoren führen zu erhöhter Stressauslösung im mütterlichen Organismus, der sich wiederum negativ auf die kindliche Entwicklung im Mutterleib auswirkt. Das bedeutet, dass auch sog. epigenetische Faktoren, also stressbedingte Umprogrammierung genetischer Voraussetzungen in der kindlichen Entwicklung, mit dann erhöhtem Risiko z.B. depressive Erkrankungen entwickeln können.

Die Aspekte der schwerwiegenden lebensgeschichtlichen Belastungsfaktoren während der Schwangerschaft, oder auch mütterlicherseits vor der Schwangerschaft, können einhergehen mit der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung der Mutter und einer komplexen Traumafolgeerkrankung. Diese Stressoren, die sich auch auf das Kind während der Schwangerschaft übertragen, können zu einer deutlichen Beeinträchtigung der frühen nachgeburtlichen Interaktion mit dem Säugling führen. Das wiederum kann die notwendige basale Versorgung des Neugeborenen, sowie die im besonderen emotionale dringend notwendige Resonanz in den ersten eineinhalb bis zwei Lebensjahren deutlich einschränken. Derlei Resonanzentziehungen können auch bei anderen, ebenso bestehenden psychiatrischen Erkrankungen mütterlicherseits ohne genetische Komponenten – so z.B. bei eigener mütterlicher frühstruktureller Störung (oftmals auch als Borderline-Störung benannt) – relevant sein.

Die eingeschränkte Resonanzfähigkeit mütterlicherseits führt zu einer desorganisierten chaotischen Entwicklung der emotionalen Selbstwahrnehmungs- und Selbstregulationsfähigkeit des Kindes. Das hat entsprechend weitreichende und tiefgreifende Folgen für die weitere emotionale und psychische Entwicklung des betroffenen Kindes; mit dann auch eben der Entwicklung einer sog. frühstrukturellen Störung (also früh entstehend und tief strukturell eingreifend). Das wiederum bedeutet einen sehr langfristigen negativen Effekt auf die Entwicklung des Kindes, zumeist einhergehend mit den schon frühen Verhaltensauffälligkeiten in der Affekt- und Impulsregulation. Mit dem Eintreten in die Pubertät stellt sich dies noch einmal mehr mit aller Deutlichkeit in der Symptomentwicklung dar, dies vor dem Hintergrund der sogenannten neuronalen Neuvernetzung, die sich mit eintreten in die Pubertät einstellt.

Eine der schwierigen Aufgaben für die betroffenen Kinder ist die Regulation von Gefühlslagen; dies im besonderen in Beziehungen. Das offenbart sich mit dem Eintritt in die Pubertät oftmals ganz besonders durch Brüche mit den Adoptiv- und Pflegefamilien. Die Jugendlichen fallen mit massivem destruktivem Verhaltensweisen auf. Oft sind diese auch gegen sich selbst gerichtet, oder auch gegen innerhalb der bisher vielleicht gerade noch tragfähigen Familienkonstellation bedeutsame und relevante Bezugspersonen.

Nicht selten gibt es bei den von fetalen Alkoholschäden betroffenen Kindern einen Adoptiv- oder Pflegestatus. Allein das Wissen darum stellt für die Kinder eine psychodynamische Last dar, die für sie schwierig zu integrieren ist, wenn sie sich mit diesen Themen beschäftigen wollen oder

müssen. Zur eingeschränkten Fähigkeit, mit solchen emotionalen Aspekten umzugehen, kommt auf der Ebene des FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorders) dann auch noch im Sinne der frühstrukturellen Störung oder anderen bestehenden affektiven Erkrankungen eine hohe Neigung zur Dysregulation.

Dies heißt nicht, dass hier eine grundsätzliche Unfähigkeit zur Psychotherapie besteht. Vielmehr müssen im Behandlungsgang sowohl diese biologisch psychiatrischen Aspekte, teilweise mit einer spezifischen Medikation (z. B. antidepressiven Medikation oder neuroleptischen Medikation oder stimmungsstabilisierenden Medikation), angegangen werden, als auch psychotherapeutische Maßnahmen auf die jeweilige Gesamtsituation des Kindes oder Jugendlichen angepasst werden. All dies unter möglichst weitgehender Berücksichtigung der komplexen Zusammenhänge. Denn bei diesen Kindern kann es sein, dass eine isolierte Fokussierung auf die schon ausreichend komplexe Problematik der FASD-immanenten Folgen zu kurz greift und es eben zusätzlicher spezifischer Behandlungsangebote bedarf.

Hier ist also folgendes zu fordern: Eine weitergehende Diagnostik, sowohl bezogen auf biologische psychiatrische Erkrankungen, Traumafolgeerkrankungen, als auch frühstrukturelle Störungen mit dem Risiko der weitergehenden Persönlichkeitsentwicklungsstörung. So wird sichergestellt das spezifische Behandlungsverfahren unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen entwickelt werden.

Bezogen auf eigene Traumafolgeerkrankung ist auffällig, dass das Milieu, in dem ein erhöhtes Risiko mit vermehrtem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft besteht, eben auch ein Risikomilieu sein kann für frühe Traumatisierung, miterlebter Partnergewalt, selbst erlebter Gewalt oder sexueller Grenzverletzungen.

Nicht zuletzt ist zu beobachten und zu berücksichtigen, dass vor allem bei den Mädchen die fehlende Selbstwirksamkeit der FASD-Kinder bei gleichzeitig ausgeprägtem Wunsch sozial erfolgreich zu sein dazuzugehören, anderen zu gefallen, zu einer leichten Beeinflussbarkeit führen kann, die dazu führt, dass sie selber niederschwellig Opfer von Traumatisierungen werden durch sexuelle Ausbeutung und sexuelle Grenzverletzung.

Hier erleben die Kinder und Jugendlichen über die einfachen Aspekte von sexueller Attraktivität eine hohe Selbstwirksamkeit und eine inadäquate zunehmende Bedeutung für eine andere Person, können dies aber leider nicht genau differenzieren. Dadurch können sie sich selbst nicht ausreichend schützen und werden so nur Objekt der Begierde, aber nicht um ihrer selbst Willen begehrt und geliebt.

Darüber hinaus ist durch die Veränderung der Ansprechbarkeit des sogenannten dopaminergen Systems (Dopermin als Neurotransmitter gerade im Belohnungssystem) im Grunde eine hohe Suchtentwicklungsbereitschaft vorprogrammiert, so dass der Kontakt mit mindestens Alkohol aber auch anderen Suchtmitteln bis hin zu Medienkonsum niederschwelliger Suchterkrankungen

entwickeln lässt und damit auch frühzeitig spezifisch thematisiert werden sollten, wenn möglich in Prävention, spätestens aber als Sekundärprofilaxe im weiteren Verlauf der seelischen Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Risikostruktur über die eigentlichen unmittelbar durch den Alkoholkonsum ausgelösten Belastungen der betroffenen Kinder teilweise deutlich hinausgeht, diese differentialdiagnostisch zusätzlich einer Untersuchung bedarf, im besonderen dann, wenn die bisherigen FASD-orientierten Behandlungsmethoden nicht ausreichend erscheinen, um schließlich noch einmal weitergehende spezifische Behandlungsmethoden angepasst an die individuellen Möglichkeiten zu etablieren.

Das vertuschte Syndrom

                          Öffentliche Anhörung zum Thema “Alkoholpräventionsstrategie”

                                         im Deutschen Bundestag am 3. März 2021

                                                      Stellungnahme

                                                               Dagmar Elsen

Sie kommen mit einem Loch im Herzen auf die Welt, mit Fehlbildungen oder Skoliose. Manche der Neugeborenen krümmen sich schreiend über Wochen hinweg, sind untergewichtig, bindungsgestört oder apathisch. Als heranwachsende Kinder gelten die meisten von ihnen als faul, frech, unerzogen und delinquent. Die “Schlimmsten” unter ihnen prügeln, schreien, quälen, lügen, stehlen, missachten Regeln und rennen davon. Die Schule ist für sie ein Ort des Grauens, sie fühlen sich als Versager, werden gemobbt und verstoßen, sind oft genug Opfer sexueller Übergriffe.

Es folgen Kita- und Schulverweise, Hilfeplangespräche, Androhungen der Heimunterbringung. Das alles zumeist ohne Sinn und Verstand, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Es wird lieber geglaubt, dass die Kinder einen schlechten Charakter haben, sich keine Mühe geben wollen und es den Eltern an Erziehungskompetenz mangelt.

Weder die Kinderärzte, Psychiater und Therapeuten, noch die Pädagogen, Erzieher und Sozialarbeiter erkennen oder wollen wahr haben, um was es sich bei all diesen Kindern tatsächlich handelt: um vorgeburtliche Schädigungen, vor allem Hirnschädigungen, irreversibel hervorgerufen durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.

Genau so erleben es vor allem Pflege- und Adoptiveltern landauf landab in Deutschland und müssen erbitterte Kämpfe um Anerkennung, Unterstützung und Hilfeleistungen für ihre Schützlinge führen. Seltener dagegen wird von positiven, reibungslosen Erfahrungen berichtet.

Ist das wirklich so, oder bleiben die negativen Beispiele besser in Erinnerung? Wie ist die Gemengelage im Umgang mit dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS)? Was hat sich seit den 70er Jahren, da Mediziner weltweit begannen, sich mit der Materie intensiver auseinanderzusetzen, verändert?

Ich habe in meiner Eigenschaft als Journalistin und Initiatorin der Aufklärungskampagne HAPPY BABY NO ALCOHOL in Berlin, wo der Grand Sengieur der FAS-Forschung, Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr, anno 2007 an der Charité das erste FAS-Beratungszentrum Deutschlands gründete, eine Lagebesprechung gemacht. Neben dem international renommierten Experten Spohr befragte ich dazu auch die Ärztin Heike Wolter, die in der Charité, Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie, in seine Fußstapfen getreten ist, befragte Vertreter von Jugendämtern und Trägervereinen, nicht zuletzt zahlreiche Adoptiv- und Pflegeeltern.

Dazu einige Kernaussagen vorab, die selbstredend belegen, dass sich einiges zum Positiven verändert hat, es aber nicht einmal in Berlin eine einheitliche Marschrichtung gibt, obwohl hier die Dichte der Experten am größten ist:

“Wir werden belächelt von Kollegen für unsere Arbeit.” (Wolter, Charité). “Ich kann es nicht mehr hören, wenn die Ärzte im SPZ sagen, sie haben FAS nicht auf dem Schirm.” (Prof. Spohr)

“Wir haben ja mit dem Thema schon lange zu tun, und trotzdem ist es so, dass es erst JETZT ein Thema ist. Davor sind die Eltern ja für bekloppt gehalten worden, ist es als Modediagnose abgetan worden, das war schwierig.” (Heinßen, Verein für Familien und Kinder)

“Ohne dass ich das mit Zahlen belegen kann, ich finde schon, dass sich die Situation in Berlin deutlich geändert hat. Wir kriegen deutlich mehr Anfragen von Pflege- und Adoptiveltern für Diagnostik als vorher. Das Jugendamt selbst fragt auch an, oder die Vermittlungsstellen der Pflegekinder. Dafür halte ich dann auch Slots frei, weil ich das wichtig und unterstützenswürdig finde, wissen zu wollen, ob das Kind von FAS betroffen ist.” (Wolter, Charité)

“Selbst die eindeutige FAS-Diagnose von Professor Spohr, einer echten Kapazität, wurde vom Jugendamt nicht akzeptiert. Und es wurde damit gedroht, uns das Kind wegzunehmen.” (Andrea*, Pflegemutter)

“Ja, es gibt diese schlechten Verläufe, aber es gibt eben auch Pflegeeltern, die ganz viel positive Unterstützung erfahren. Aber das ist, und das muss man ganz klar sagen, das ist nicht die Regel. Klar, es gibt Eltern, die haben einen vernünftigen Sozialarbeiter und die kriegen auch einen Einzelfallhelfer an die Seite gestellt, aber die meisten sind am Betteln und kriegen es nicht.” (Nitzsche und Heinßen, Verein für Familien und Kinder)

“Die Jugendämter arbeiten so unterschiedlich. Es ist immer einzelfallabhängig und deshalb ein ewiger Kampf, weil die Zuständigkeiten ja auch dauernd wechseln. Die Behinderung müsste endlich bundesweit anerkannt sein.” (Leonie*, Adoptivmutter)

“Ich mache seit 40 Jahren Fortbildung bei den Jugendämtern. Der ganze Osten muss noch Geld sparen, die sitzen da und sagen: FAS, das kenne ich nicht, so ein bisschen Alkohol, das macht doch nichts. Es ist wirklich so in den Köpfen.” (Prof. Spohr)

Es haben alle gewusst – die Lehrer, die Eltern in der Schule, das Jugendamt, die Nachbarn, die Ärzte – dass meine Mutter täglich getrunken hat. Aber mir wurde gesagt, dass man nichts für mich tun könne”. (Elvira*, FAS-Betroffene)

Wenn FAS festgestellt ist, “dann muss es auf den Tisch. Dann sehen wir, dass die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet werden.” (Rüttgers, Jugendamt Mitte)

“Wir vermissen Hilfestellung, dass man uns sagt, was unserem Kind weiterhelfen würde.” (Olaf*, Pflegevater)

Vor zwanzig Jahren, da hatte Berlin den Weg in die richtige Richtung eingeschlagen. “Da haben die Kinder IMMER eine Diagnostik durchlaufen, bevor sie vermittelt wurden”, weiß Peter Heinßen, Geschäftsführer des “Vereins für Familien und Kinder”. Inzwischen ist es noch nicht einmal mehr Usus, dass Kinder, die mit Auffälligkeiten zur Welt kommen, gleich ins Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) überwiesen werden. Mikrozephalie, fasziale Auffälligkeiten, ein Loch im Herzen, Kleinwuchs, verdrehte Ohren, etc. – alles Hinweise, dass es sich um fetale Alkoholschäden handeln könnte.

“Es müsste zur Normalität werden, dass diese Kinder auf FAS untersucht werden”, fordert Heike Wolter, Ärztin in der Charité, Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. Doch, allein die Neonatologen haben, wie sie nicht nur Heike Wolter immer wieder gestehen, FAS nicht wirklich auf dem Schirm. Nicht einmal dann, wenn bekannt ist, dass die Mutter drogenabhängig ist und gleichermaßen der Verdacht auf Alkoholkonsum besteht.

“Dabei wäre es schon hilfreich, wenn einfach die Diagnose (für Abusus) auf dem Bericht über das Neugeborene oben drauf steht. Die in der Neonatologie müssen ja gar nicht mehr machen”, erläutert die Charité-Ärztin. Selbst die meisten Ärzte, die in den SPZ arbeiten, haben kein Auge für fetale Alkoholschäden, selbst wenn bekannt sein sollte, dass die Mutter getrunken haben könnte.

Derlei Ausreden mag Professor Hans-Ludwig Spohr nicht mehr hören, denn der springende Punkt ist: “Es hat sich bisher in Deutschland die Ärzteschaft nicht dafür interessiert. Das muss man einfach so sagen.” Einer der Gründe ist sicherlich, dass das Thema Fetale Alkoholschäden in der medizinischen Ausbildung eine sehr untergeordnete Rolle spielt.

Lediglich an der Charité ist das dank Spohr seit 2015 anders. Hier ist FAS für die Zweitsemester Pflicht und sorgt dafür, dass die FAS-Experten künftig nicht mehr von ihren medizinischen Kollegen aus anderen Fachbereichen belächelt werden für ihre Arbeit, so wie auch Heike Wolter immer wieder diese Erfahrung hat machen müssen.

Als nächste in der Pflicht, Fälle von Fetalen Alkoholschäden herauszuarbeiten, stünde die Instanz Jugendhilfe – also die Jugendämter und die freien Träger. Grundsätzlich ist hier Heike Wolter “erstaunt, wie wenig Fälle aus dem Kinderschutzbereich zur Diagnostik kommen.” Des Weiteren lässt sich der Umgang mit dem Thema, auch wenn Berlin einen überschaubaren Rahmen bietet, selbst hier nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen.

“Das ist von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich. Es ist einzelfallrelevant, vielleicht gibt es Mal Fallhäufungen in einzelnen Jugendämtern oder bei einzelnen Mitarbeitern des Jugendamtes”, sagt der Geschäftsführer des Vereins für Familien und Kinder, Peter Heinßen. Es sei alles möglich, im positiven, wie im negativem, pflichtet ihm Angelika Nitzsche bei, die seit 17 Jahren in der Pflegekinderhilfe tätig ist.

So lässt zum Beispiel der Teamleiter Marco Rüttger beim Jugendamt Mitte verlauten: “Das Fetale Alkoholsyndrom ist bekannt bei uns, es steht jedem frei, sich beim Sonnenhof fortzubilden. Wir haben Material vom (Verein) FASD Deutschland ausliegen. Und wenn wir einen Fall von FAS auf dem Tisch haben, dann sehen wir, dass wir die entsprechenden Maßnahmen einleiten.”

Soweit die Theorie.

In der Praxis sieht das leider oft anders aus. Pflegemutter Andrea kann ein trauriges Lied davon singen. Für ihren Sohn fegte das Jugendamt die FAS-Diagnose aus der Charité von Professor Spohr höchstselbst mit einem Handstreich vom Tisch. Die Pflegemutter sei hysterisch und erzieherisch inkompetent. Den Jungen müsse man nur richtig anpacken und ihm seine Delinquenz austreiben. Die leibliche Mutter betont bis heute, sie habe keinen Alkohol getrunken.

Einerseits regt es Psychiater Spohr auf, dass selbst Diagnosen aus renommierter Hand angezweifelt werden. Anderseits zeigt er auch Verständnis: “Das ist das große Problem. Wenn die leiblichen Mütter nein sagen, sie haben nicht getrunken, dann muss das arme Jugendamt in Marzahn, unterbesetzt wie es ist, entscheiden, und dann kommt die Mutter mit einem Rechtsanwalt.” Diese argumentiere dann sogleich, in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt zu werden.

Kollegin Heike Wolter hatte vor einiger Zeit einen solchen Fall. Es habe sogar ein Erziehungsfähigkeitsgutachten über die leibliche Mutter gegeben, in dem von massivem Alkoholkonsum die Rede gewesen sei. Da die Mutter bei ihrer Behauptung geblieben sei, dass sie keinen Tropfen angerührt habe, musste die FAS-Diagnose zurückgenommen werden.

Juristisch steht das Kindesrecht über dem Elternrecht. In der Praxis, so hat es sich in vielen weiteren Fällen schon bewahrheitet, wird dieses Recht umgekehrt.

Das scheint dazu zu führen, dass so manche Einrichtung das Vorkommen des Fetalen Alkoholsyndroms schlicht und ergreifend negiert. Immer wieder gibt es Rückmeldungen vor allem von Pflegeeltern, die berichten, dass nicht wenige Mitarbeiter von Ämtern und Trägervereinen behaupteten, dass FAS kein Thema sei und sie sich deshalb nicht mit dem Krankheitsbild beschäftigten.

Als die Charité-Ärztin Wolter das hört, kann sie es kaum fassen: “Ich finde es schon erstaunlich, mehr noch, es macht mich sprachlos, dass es noch jemanden gibt heutzutage, der einfach sagt, das gibt es nicht.”

Es geht aber auch ganz anders: Das Kind Ben*, mit sechs Monaten an Pflegeeltern vermittelt, wird in der Kita FAS-auffällig, kommt sofort ins Sozialpädiatrische Zentrum und landet bei Heike Wolter, die den Verdacht bestätigt. Sodann übernimmt eine Charité-Kollegin die Aufgabe, die Mitarbeiter in der Kita über FAS, die Beeinträchtigungen und den Umgang damit aufzuklären.

Der Antrag für den Pflegegrad bei der Krankenkasse wird in die Wege geleitet, die zur Entlastung der Pflegeeltern eine Pflegepatenschaft finanziert. Das Jugendamt genehmigt ohne Diskussionen sofort den erweiterten Förderbedarf. Über den Betrag dürfen die Pflegeeltern frei verfügen. Das Kind bekommt Ergotherapie und passgenauen Schwimmunterrricht. Nicht zuletzt wird ihm ein Integrationshelfer in der Kita zur Seite gestellt.

Die Liste positiver wie negativer Beispiele in Berlin lässt sich beliebig fortsetzen. Einig sind sich alle Akteure auf dem FAS-Parkett: Die Situation in Berlin hat sich zugunsten der Bereitschaft zur Aufklärung, Fortbildung, Diagnostik und Unterstützung Betroffener und ihrer Familien vor allem in den vergangenen fünf Jahren deutlich verbessert.

Aber ausreichend?

Noch lange nicht, wenn 44% der Deutschen nicht wissen, um was es sich beim Fetalen Alkoholsyndrom handelt und das berühmte “Gläschen zum Anstoßen” auch für Schwangere gutheißen.

Es ist überfällig, dass das Fetale Alkoholsyndrom endlich bundesweit als Behinderung anerkannt wird.

*Auf Wunsch und zum Schutz sind nur die Vornamen benannt

FAS muss zur bundesweit anerkannten Behinderung werden

Am 3. März tagt der Gesundheitsausschuss im deutschen Bundestag. Die FDP-Fraktion hat, wie berichtet, einen Antrag mit zehn Forderungen eingereicht. Wir von HAPPY BABY NO ALCOHOL möchten den Forderungskatalog um weitere Punkte ergänzen. Als besonders maßgebend empfinden wir, da es von grundlegender Bedeutung ist, dass das Fetale Alkoholsyndrom bundesweit als Behinderung anerkannt wird.

Ohne die Anerkennung als Behinderung fehlt es allerorten an Verständnis, dass die betroffenen Menschen Hilfe und Unterstützung brauchen.

Ohne die Anerkennung als Behinderung sind Eltern, Pflege- wie Adoptiveltern betroffener Kinder und erwachsene Betroffene im kräftezehrenden Einzelkampf der Willkür der Ärzte, Ämter und Behörden ausgesetzt.

Ohne die Anerkennung als Behinderung sind nötige Therapien, Kindergarten- und Schulbegleiter, Familienhilfen und dergleichen nur mühsam, wenn überhaupt, durchzusetzen.

Antrag der FDP-Fraktion/Drucksache 19/26118:

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

  1. ein wissenschaftlich fundiertes Konzept zur Prävention von FASD und FAS vorzulegen, das flächendeckend alle schwangeren Frauen während ihrer Schwangerschaft mehrmals erreicht und den Alkoholkonsum während der Schwangerschaft vermeiden soll,

  2. ein wissenschaftlich fundiertes Konzept zur Prävention von FASD und FAS vorzulegen, das das Wissen über die schädliche Wirkung von Alkohol für ungeborene Kinder in der Bevölkerung deutlich verbessert,

  3. zeitnah eine Aufklärungskampagne durch die BZgA zu veranlassen, in der die gesamte Bevölkerung über die Gefahren des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft informiert wird,

  4. Programme und Hilfsangebote für alkoholkranke Frauen mit Kinderwunsch und für alkoholkranke Frauen in einer Schwangerschaft aufzulegen und zu erweitern, die den Alkoholkonsum der Frauen während der Schwangerschaft deutlich reduzieren oder vermeiden,

  5. gemeinsam mit den Ländern eine flächendeckende Untersuchung von Kin- dern auf FASD und FAS möglichst im Rahmen der U-Untersuchungen ein- zuführen und auszubauen,

  6. das Personal im Gesundheitswesen, der Pflege, in Einrichtungen für behin- derte Menschen sowie in Schulen, Kindertagesstätten, Vereinen und Verbän- den über FASD und FAS aufzuklären und zu sensibilisieren,

  7. die Maßnahmen zur Prävention, Behandlung und Selbsthilfe im Bereich FASD und FAS zu stärken und regelmäßig zu evaluieren,

  8. die benötigen finanziellen Mittel von Seiten des Bundes für diese Maßnahmen durch Umschichtungen bei den bestehenden Sucht- und Präventionspro- grammen im Einzelplan 15 des Bundeshaushalts und durch Nutzung beste- hender Haushaltsmittel im Bereich der Alkoholprävention zur Verfügung zu stellen,

  9. dem Bundestag jährlich zum 31. März über die Fortschritte zur Verminderung von FASD und FAS zu berichten,

  10. dem Bundestag zum 31. Dezember 2021 die Ergebnisse der Nummern 1 bis 8 zu berichten.

 

Ergänzende Forderungen von HAPPY BABY NO ALCOHOL

1. Bundesweite Anerkennung, dass FAS eine Behinderung ist, die Ämter, Behörden und Krankenkassen damit verpflichtet, entsprechende Unterstützung und Hilfeleistungen zu gewähren

2. Festlegung bei der Beurteilung des Grades der Behinderung: FAS-Vollbild generell mindestens 80% und FASD mindestens 50%

3. Die Aktualisierung/Anpassung des Merkzeichens H für hilflos bei der Bestimmung des Behinderungsgrades. Hilflosigkeit darf nicht nur auf körperliche Einschränkungen und dauerhaft hirnorganische Schäden abzielen.

4. Ausbildung und Fortbildung auf FAS in allen medizinisch und therapeutisch relevanten Berufen einschließlich der Ämter und Behörden muss zur Pflicht werden…

Bsp: Im Medizinstudium ist an der Charité im zweiten Semester Pflicht, FAS zu belegen

5. Festlegung der Aufklärungspflicht im Lehrplan ab Grundschule

6. Untersuchungspflicht beim SPZ, sobald Kleinwüchsigkeit, typische Gesichtsmerkmale, verkleinerter Kopf, Loch im Herzen, etc. und/oder Wissen um eine Alkoholexposition der Mutter vorliegt oder diese im Geburtsbericht vermerkt ist

7. Verpflichtung der Jugendämter, über FAS und die Auswirkungen zu informieren, ebenso die Verpflichtung, dass die Pflege- und Adoptiveltern aufgeklärt werden, selbst wenn nur der Verdacht auf fetale Alkoholschäden vorliegt

8. Unterstützung und Fortbildung für Pflege- und Adoptiveltern mit FAS-Kindern

9. Schaffung von Wohnformen für FAS-Betroffene

10. Einrichtung von adäquaten Beschäftigungsprogrammen

11. Stärkung des Kindesrechts, dass Kinder auch gegen den Willen der leiblichen Mutter diagnostiziert werden können, sobald der Verdacht auf fetale Alkoholschäden aufkommt

12. Verpflichtende Einführung von Warnpiktogrammen auf alkoholhaltigen Getränken wie es in unseren Nachbarländern schon lange Usus ist

Gemeinsames Ziel: Stop dem FAS

Zwischen 800.000 und 1.600.000 Menschen in Deutschland sind aktuell von fetalen Alkoholschäden betroffen, davon rund 160.000 Menschen mit einer schweren Behinderung, dem Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms. Ursache ist, dass die Gefahren von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft nicht ausreichend bekannt sind. 44 Prozent der Deutschen wissen nichts darüber. Aufklärung tut dringend Not.

Pro Bundesbürger gab das Bundesministerium für Gesundheit 2018 gerade einmal 0,2 Cent für die Bekämpfung des Fetalen Alkoholsyndroms aus, hat die Bundestagsfraktion der FDP errechnet und klagt außerdem an: Auch für die Erkennung und Behandlung von fetalen Alkoholschäden wird kaum etwas getan.

Das soll sich nach dem Willen der FDP schnellstmöglich ändern. Deshalb hat die Fraktion einen entsprechenden Antrag an die Bundesregierung gestellt. Diesem wird in Zusammenarbeit mit HAPPY BABY NO ALCOHOL für den Gesundheitsausschuss am 3. März noch ein ergänzendes Forderungspaket nachgereicht. Wir werden berichten.

Jenseits dessen sind für die Diskussion im Gesundheitsausschuss Sachverständige angefragt. Aus den Reihen der Supporter von HAPPY BABY NO ALCOHOL sind dies FAS-Experte Professor Hans-Ludwig Spohr aus Berlin, der Chefarzt und FAS-Experte der Klinik Walstedde bei Münster, Dr. Khalid Murafi, sowie die Initiatorin der Kampagne, die Journalistin Dagmar Elsen.

Um eine Stellungnahme zur Thematik haben wir nun den sucht- und drogenpolitischen Sprecher der FDP, Dr. Wieland Schinnenburg, im Rahmen eines Blog-Gastbeitrags gebeten.

Ungeborene Kinder vor schweren Schäden durch Alkohol schützen

Wie viele Kinder tatsächlich jährlich mit Schäden geboren werden, die auf Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zurückzuführen sind, ist nicht ganz klar. Leider wird die Diagnose immer noch häufig übersehen, oder nicht richtig erkannt. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 10.000 und 20.000 Kinder jährlich betroffen sind und etwa 2.000 bis 3.000 Kinder mit schweren Schäden zur Welt kommen (Drogen- und Suchtbericht 2019, https://bmcmedicine.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12916-019-1290-0). Zusammengefasst werden diese Schäden unter der Bezeichnung Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD). Damit verbundene Symptome sind Wachstumsstörungen, körperliche Fehlbildungen, Störungen im zentralen Nervensystem und Betroffene haben mit neurologischen, kognitiven und psychiatrischen Problemen zu kämpfen. Bei der besonders schweren Form der Schädigung, dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS), werden die Kinder mit solch schweren Einschränkungen geboren, dass sie ein Leben lang geistig und körperlich schwerbehindert sind. Legt man eine durchschnittliche Lebenserwartung in der deutschen Bevölkerung von rund 80 Jahren zugrunde, so sind aktuell zwischen 800.000 und 1.600.000 Menschen in Deutschland durch FASD betroffen, davon rund 160.000 Menschen mit einer schweren Behinderung (FAS).

Fetale Alkoholspektrumstörungen sind damit die häufigsten chronischen Erkrankungen, die bereits bei Geburt bestehen (https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs15014-020-2335-8). Das ist besonders tragisch, da FASD eine vermeidbare Ursache hat: Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Schon geringe Alkohol-Mengen können schwere Schäden an ungeborenen Kindern hervorrufen. Bislang wissen jedoch 44 Prozent der Menschen in Deutschland nicht, dass Alkohol in der Schwangerschaft zu schweren Schäden bei ungeborenen Kindern führen kann (Drogen- und Suchtbericht 2018). Zudem konsumieren 20 Prozent der schwangeren Frauen in moderaten Mengen Alkohol, 8 Prozent haben sogar ein riskantes Alkoholkonsumverhalten. Knapp 16 Prozent der schwangeren Frauen praktiziert „Rauschtrinken“ mit mehr als vier alkoholischen Getränken pro Gelegenheit (vgl. Drs. 19/1228). Selbst medizinisches Personal unterschätzt das Risiko von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft (https://bmcmedicine.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12916-019-1290-0).

Trotz der hohen Anzahl an betroffenen Menschen und der Vielzahl von Frauen, die während einer Schwangerschaft Alkohol konsumieren, wird von Seiten der Bundesregierung kaum etwas gegen FASD und FAS unternommen. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung hat das Thema FASD zu einem ihrer Schwerpunktthemen gemacht – allerdings ohne nennenswerte Aktivitäten. Pro Bundesbürger gab das Bundesministerium für Gesundheit 2018 gerade einmal 0,2 Cent für die Bekämpfung von FAS und FASD aus. Auch für die Erkennung und Behandlung von FASD und FAS wird kaum etwas getan. In den U-Untersuchungen werden Kinder nicht systematisch nach FASD und FAS untersucht (vgl. Drs. 19/6794). Das betreffende Fachpersonal scheint immer noch nicht ausreichend geschult.

Dabei ist eine Prävention und eine möglichst frühe Erkennung von Betroffenen von zentraler Bedeutung, um FASD einzudämmen und wirksam zu behandeln. Hier muss dringend mehr unternommen werden, um Kinder und Eltern vor den schweren Folgen von FASD und FAS zu schützen. Daher fordert die FDP-Bundestagsfraktion in einem aktuellen Antrag ein wissenschaftlich fundiertes Präventionskonzept. Dabei ist wichtig, dass Frauen während ihrer Schwangerschaft mehrmals erreicht werden, um Alkoholkonsum vorzubeugen. Das Wissen in der Allgemeinbevölkerung zur schädlichen Wirkung von Alkohol auf ungeborene Kinder muss gesteigert werden, dafür benötigen wir eine flächendeckende Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Frauen mit einer Alkoholabhängigkeit müssen während ihrer Schwangerschaft besonders unterstützt werden. Außerdem muss das Personal im Gesundheitswesen aufgeklärt und sensibilisiert werden.

Unser Ziel ist es, die Anzahl der Neugeborenen mit FASD und FAS bis zum Jahr 2025 mindestens um die Hälfte zu reduzieren.

Gastautor: Dr. Wieland Schinnenburg

Mit etwas Druck wird schon was aus ihr werden

“Als ich als Verantwortliche im Pflegedienst den Notruf wählen musste, wurde mir selbst schwarz vor Augen.” Für Anne* war das der Moment, nach dem ihr endgültig klar war: “Ich fühle mich hoffnungslos überfordert. Ich bin es. Ich kann nicht mehr.”

Von Kindesbeinen an hatte sich die heute 34jährige immer wieder gestresst gefühlt. Sie sei ein ruhiges Kind gewesen, zurückhaltend, introvertiert und schnell reizüberflutet. Im praktischen Leben merkte Anne, dass sie leicht ablenkbar war. Mitten während einer Tätigkeit vergaß sie, sie zu Ende zu bringen. Überall ließ sie Dinge herumliegen und nahm das nicht wahr. “Abläufe, die mehr als drei verschiedene Tätigkeiten erforderten, à la ‘bring den Müll raus, schau nach Frau B. und schließ danach die Türe vom Haupthaus ab’, konnte ich mir nicht merken”, so Anne.

Ihre Pflegemutter wurde mit diesen Herausforderungen oft ungeduldig. “Meine Eltern waren sehr erfolgsorientiert und arbeiteten viel”, berichtet Anne. Dabei habe ein Arzt in ihrer frühen Kindheit zu den Pflegeeltern, beides Pädagogen, mit auf den Weg gegeben: “Wenn ihre Tochter mal den Hauptschulabschluss schafft, ist das schon okay, erwarten sie nicht zuviel.” Das aus gutem Grund. Wussten sie doch, dass Anne auf Fetales Alkoholsyndrom diagnostiziert war, dokumentiert im Arztbericht. “Das haben meine Eltern aber ignoriert, bzw. gedacht, wenn man sie nur oft genug erinnert und etwas Druck macht, wird aus ihr schon was werden. „Wir können doch stolz sein, was aus unserer Tochter geworden ist“ – bis ich 28 Jahre alt war und der endgültige Zusammenbruch geschah.”

Wieso nur ist dem Jugendamt im Laufe der Jahre nichts aufgefallen? Nicht einmal, als Anne von zu Hause abhaut und sich aus lauter Verzweiflung mit 19 Jahren hilfesuchend ans Jugendamt wendet. O-Ton Anne: Es ist doch schon schräg genug, wenn jemand in dem Alter von zu Hause wegläuft.” Optisch habe man ihr FAS kaum mehr angesehen. “Und ich war ja nicht blöd”, lautet ihre Erklärung. Denn dank einer guten täglichen Struktur schaffte Anne sogar das Fachabitur. Die Pflegeeltern konnten dem Jugendamt also stets vermelden: „Die Anne, ja, die macht sich gut.“

Die auf existentielle Sicherheit bedachten Pflegeeltern suchten mit ihr einen vermeintlich krisensicheren Beruf aus. Anne machte eine Ausbildung zur Altenpflegerin, ohne dass bedacht wurde, welch ein immenses Stresslevel dahintersteckt. Der Zeitdruck in der Altenpflege machte ihr von Beginn an zu schaffen. „Dass ich dort bereits massiv überfordert war, war mir da gar nicht bewusst. So habe ich als zurückhaltende Tochter und Kollegin versucht das zu machen, was von mir erwartet wurde, auch wenn ich nach der Arbeit nur noch schlafen konnte, weil ich für nichts mehr Energie hatte.“ Hinterfragt worden sei das von keiner Seite. Später, in der realen Arbeitswelt, sei die Überforderung immer schlimmer geworden.

Eines Tages zog Anne die Notbremse, flüchtete sich in ein Freiwilliges Soziales Jahr und ging nach Augsburg. Dort arbeitete sie im Museum. Hier passierte das genaue Gegenteil. Anne war unterfordert. Ihr seien keine klaren Aufgaben gestellt worden. Aufgaben, an denen sie Interesse zeigte, seien ihr nicht zugetraut worden, weil sie doch nur eine Praktikantin sei. Die 34jährige rückblickend: “Da habe ich krasse Depressionen gekriegt. Ich fühlte mich so hilflos, so ohnmächtig.” Aber ihr war klar, dass sie dringend etwas unternehmen musste. Sie suchte die Grenzerfahrung: “Ich habe mich aufs Fahrrad gesetzt. Bewegung hat mir gut getan. Ich bin in zwei Tagen mit dem Fahrrad nach Nürnberg gefahren und habe alleine in der Wallachei übernachtet. Danach ging es mir besser. Mir hat auch diese Routine auf dem Fahrrad gut getan. Immer dieses Gleichmäßige, das dauernde Treten der Pedale, das die Räder immer weiter drehen lässt. Es geht immer weiter. Es gibt das Gefühl einer gewissen Zuverlässigkeit. Danach hatte ich richtig viel Energie.”

Anne entschied sich für ein Kulturstudium in Lüneburg. Dort war auch erst einmal alles gut. Es gab klare Vorgaben und eine gute Struktur. “Ich habe zwar immer länger gebraucht als die anderen. Aber das war mir egal”, so Anne. Sie wechselte die Universität nochmal und studierte weiter in Hamburg. Nun stand die Bachelorarbeit an. Und die Katastrophe nahm ihren Lauf. In Hamburg sei alles sehr frei und kreativ gewesen, von wegen ‘sucht euch mal ein Thema, was euch interessiert’; dies sehr oft in Gruppenarbeit. Gift für Anne. Sie drohte zu scheitern. Das Scheitern vor Augen wollte Anne nicht verstehen. Sie machte mit diesem Studium doch endlich das, was sie schon immer gewollt hatte. Warum klappte das nicht? Alle hatten sich doch mit ihr gefreut, dass sie endlich ihren Weg gefunden hatte.

Anne war verzweifelt. Dann kam on top eine Blasenentzündung. Der Arzt verschrieb ihr ein Medikament, von dem sie nur noch kränker wurde, so schlimm, dass sie das Studium kurz vor dem Ziel aufgeben musste. Geldsorgen kamen hinzu, denn sie hatte eine Studienkredit aufgenommen.

Anne: “Ich hatte ein Fachabi in der Tasche, war ausgebildete Altenpflegerin und sehe neben mir eine Hauptschülerin, die mehr auf die Reihe kriegt im praktischen Leben als ich. Man fühlt sich total beschissen. Keiner wusste, was mit mir los ist. Keiner konnte mir helfen. Im Jobcenter sind sie sehr nett gewesen. Aber helfen?”

Anne wusste nicht mehr ein noch aus. Ihre Schwester war schließlich die treibende Kraft, sie zu einem Psychiater zu mitzunehmen und sich mit ihr um ambulant-psychiatrische Unterstützung kümmerte. “Und dann saß ich bei der Psychiaterin, die mir aus meiner Akte vorlas, dass meine leibliche Mutter viel Alkohol in der Schwangerschaft getrunken hat, und mir kamen die Tränen”, erinnert sich Anne noch sehr genau an ihre Fassungslosigkeit und ihren Schmerz. Sie konfrontierte ihre Pflegeeltern mit dem Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom, die ihr daraufhin vorschlugen, sich diagnostizieren zu lassen.

Nun ist es amtlich und “ich habe wenigstens eine Diagnose, die mich schützt”, stellt die 34jährige klar. Aber klar ist auch, dass sie seit der Medikamenteneinnahme chronisch krank und arbeitsunfähig ist. Autoimmunerkrankungen werden die junge Frau ihr Leben lang begleiten, ebenso wie Chronic fatigue – chronische Überforderung.

Ihren kleinen Haushalt führen, Anträge stellen, sich mit der Krankenkasse auseinanderzusetzen, alles Dinge, die ihr früher gut von der Hand gingen. Jetzt nicht mehr. Sie hat sich deshalb um eine gesetzliche Betreuung gekümmert, die außerdem die Grundsicherung für Anne beantragt hat. Zusätzlich wird sie von einer Haushaltshilfe im täglichen Leben unterstützt. “Jetzt kann ich zur Ruhe kommen, auch wenn es schlimm ist, was passiert ist”, sagt sie, und auch: “Trotz allem bin ich stark geblieben.”

Und im Rückblick zieht sie folgendes Fazit: “Für mich sind viele Zusammenhänge deutlich geworden, die mit mehr professioneller Unterstützung, Feingefühl und Rücksicht auf FAS vermeidbar gewesen wären.

*Der Name ist auf Wunsch geändert

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne