„Das ist doch ein Dorf hier. Und ich muss doch hier jeden Tag durch das Dorf laufen. Und Mama, die Menschen denken hier, dass wir die böse Familie sind. Die Klassenlehrerin von Paul* (Name geändert) hat in der Schule erzählt, dass Paul jetzt bei einer besseren Pflegefamilie sei und dort ein schöneres Leben habe“, beklagt sich der jüngste Spross des Ehepaares Susann und Martin. „Ich musste unseren weinenden Sohn von der Schule abholen, weil er darauf angesprochen worden ist“, empört sich die 52jährige.

Am 17. März 2023 war der elfjährige Paul Knall auf Fall vom Jugendamt abgeholt worden. Kindeswohlgefährdung, so die Begründung. Sechs Wochen später standen sie wieder vor der Türe und holten den vier Jahre alten Ben (Name geändert), ein weiteres Pflegekind, das Susann und Martin aufgenommen hatten. Auch hier der Vorwurf: Kindeswohlgefährdung. Beide Kinder sind mit FASD diagnostiziert.

Susann und Martin, die zusammen auch vier leibliche Kinder haben, können es nicht fassen: „Wir haben unser ganzes Leben umgekrempelt. Wir sind immer an den gleichen Ort in den Urlaub gefahren. Sie haben immer das gleiche Zimmer gehabt. Die Tagesabläufe – immer gleich. Es gab immer die gleiche Gute-Nacht-Geschichte. Alles immer gleich. Immer eine krasse Routine.“ Den kleinen Ben habe die Pflegemutter in den ersten Monaten permanent mit sich herumgetragen, weil er so viel Nähe brauchte.

Sie haben das gerne gemacht, betonen Susann und Martin. Mehr noch, sie haben sich ganz der Thematik FASD verschrieben. Obwohl sie ursprünglich, als sie entschieden hatten, als Erziehungsstelle Kinder aufzunehmen, ein Kind mit FASD für sich und den Behörden gegenüber ausgeschlossen hatten. „Dafür habe ich mich damals nicht qualifiziert genug gefühlt“, sagt Susann, die Kinderschutzfachkraft ist.

Dann kam Paul, als „zwar natürlich belastetes, aber proklamiert gesundes Kind“ in die Familie und „hat unser Leben so derart auf den Kopf gestellt, dass ich immer wieder gesagt und gezweifelt habe, ob ich als Pflegestelle überhaupt geeignet bin“, so Susann. Irgendwann kam das Thema FASD auf den Tisch. Aber es dauerte, bis der Vormund von Paul eine Diagnostik zuließ. Wie so viele Eltern sind Susann und Martin ab 2009 „reingewachsen mit der Diagnose“.

Inzwischen bevorzugt das Ehepaar Kinder mit fetalen Alkoholschäden. „Sie sind so individuell und es ist total interessant, was du bei der Arbeit mit den Kindern alles herausholen kannst“, schwärmt die vielfache Mutter. Ihre Leidenschaft und die ihres Mannes haben dazu geführt, dass sie in ihrem idyllischen ehemaligen Bauernhof, vor dem zwei Schafe grasen und ein Hund durch die Gegend tollt, ein FASD-Fachzentrum gegründet haben.

„Und dann kommen die hierher und sagen, das ist alles sowas von schrecklich, was wir hier gemacht haben“, kann die gesamte Familie es nicht fassen.

Wie kann das also sein, dass den Eltern Kindeswohlgefährdung vorgeworfen wird?

Weil fetale Alkoholschäden in ihren Ausprägungen allzu oft falsch eingeschätzt werden.

Im Leben draußen sei Paul „wie Sonne“ gewesen. Keine Probleme in der Schule oder anderswo. Aber wehe, er war zurück. „Paul war wirklich Sprengstoff“, bringt es  Susann auf den Punkt. Die 52jährige: „Das kann sich keiner vorstellen, dass der die Kacke genommen und sein ganzes Zimmer zugeschmiert hat, dass er Raubzüge durch unser Haus gemacht hat, Schlüssel und Geldbörsen eingesteckt hat. Er hat unser Futterlager angezündet. Dass unser Bauernhaus nicht abgebrannt ist, ist nur der Tatsache zu verdanken, dass unsere Tochter unerwartet früh nach Hause kam. Er hat immer die Tiere geärgert. Und wenn ich mich mal umgedreht habe, hat er sofort den Kleinen geschubst.“ Er habe es keine Sekunde ertragen können, wenn sich nicht alles um ihn drehte.

Nun, und dann habe er in der Schule gejammert, „dass er schon lange kein Zuhause mehr habe“, und dass er diesen Drachen (seine Pflegemutter) endlich wegwünschte, „wünschte, sie wäre tot“, sowie dass „seine Mutter ihm alles kaputt machen würde“. Das rief sofort die Lehrer auf den Plan das Jugendamt zu informieren. Es wurden Gespräche geführt, das Kind interviewt und für manipuliert befunden, schriftliche Stellungnahmen ignoriert und festgestellt, dass unterschiedliche Auffassungen herrschen, wie man mit dem Jungen umgehen müsse. So, wie die Eltern jedenfalls keinesfalls. Obendrein habe beim Jugendamt Empörung geherrscht, dass die Pflegeeltern so viele Entlastungsanträge gestellt hatten. Es sei offenkundig, dass Susann vollkommen überfordert sei – sowohl in emotionaler als auch pädagogischer Hinsicht. Mehr noch, Susann falle durch dissoziales Verhalten auf und leide unter Impulskontrollstörungen. Dass Paul hernach betonte, dass er seine Mutter lieb habe, es ihm gut gehe, und alles so bleiben solle wie es ist – unerheblich. Schlussendlich landet der Fall vor Gericht.

Ergebnis: Das Kind befinde sich in einem „erheblichen Loyalitätskonflikt“. Die Familie müsse von außen stärker kontrolliert werden. Den Pflegeltern wird die bisherige Ergänzungspflegschaft entzogen und dem Jugendamt übertragen.

Eines Tages waren Martin und Susann so weit zu sagen – es macht keinen Sinn mehr, das Kind muss aus dem feindseligen Geflecht heraus. Denn genau das habe Paul sehr belastet und ihn zunehmend negativ verändert. End vom Lied: Beim letzten Hausbesuch habe es geheißen: „Also wenn Sie wollen, dass das Kind hier rausgenommen wird, dann nehmen wir ihn direkt mit.“

Und weg war Paul. Nach neun Jahren in dieser Familie.

Und Ben, der jüngere Pflegebruder? Ach, der sei ein Sonnenschein, sagen die Eltern. Er verzaubere alle. Er habe sich gut handeln lassen. Es sei selten passiert, dass er in Überforderungssituationen geraten und ausgetickt sei.

Und warum dann auch bei ihm die Kindeswohlgefährdung?

In Kurzform: Wenn Unfähigkeit bei dem einen Kind attestiert werde, dann träfe es auch für das andere Kind zu, sei die Argumentation des Jugendamtes gewesen. Der Pflegevertrag wurde fristlos gekündigt. Jetzt ist Ben bei einer anderen Pflegefamilie, die vierte in seinem kurzen Leben. Die längste Zeit hat er bei Susann und Martin verbracht.

„Wir sind zwar des Kämpfens sehr sehr müde, aber wir haben uns entschieden, weiter für den kleinen Ben zu kämpfen“, sagen die Pflegeeltern. Weiter heißt, die Sache ist auch vor Gericht gelandet. Sie haben beim Familiengericht einen Antrag auf einstweilige Anordnung der elterlichen Sorge gestellt. Um es gleich vorwegzunehmen – der Antrag wurde zurückgewiesen. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Grund 1: Der Aufenthaltsort des Kindes hat sich verändert. „Die Vielzahl der einzuholenden Stellungnahmen führten dazu, dass nicht sofort zeitnah eine Entscheidung getroffen werden konnte.“

Grund 2: Die Beziehung zwischen Jugendamt und den Pflegeeltern ist vergiftet. Das Jugendamt wird eine Zusammenarbeit nicht befürworten.

Grund 3: Eine Rückführung würde bedeuten: „Die Antragstellerin (Susann) könnte dann zwar das Kind betreuen und versorgen, hätte aber durch die Ablehnung von Jugendamt und Träger keine rechtliche Kompetenz (…) und keine finanzielle Unterstützung.

Grund 4: Es ist nicht einschätzbar, ob eine Klage vor dem Verwaltungsgericht Erfolg haben würde. So oder so herrsche für das Kind über einen längeren Zeitraum ein unsicherer Zustand.

Grund 5: Laut Aussage des Jugendamtes und des Verfahrensbeistandes leide die Pflegemutter unter mangelnder emotionaler Stabilität

Grund 6: „Nach den vorliegenden Mitteilungen soll Ben in der neuen Pflegestelle unproblematisch ‚angekommen‘ sein. Besondere Auffälligkeiten werden nicht mitgeteilt. Es gebe auch keine Nachfragen in Bezug auf die Familie der Antragstellerin.“

Susann und Martin ließen nicht locker und legten beim Oberlandesgericht Beschwerde ein. Ohne Erfolg: „Es wird angeregt, die unzulässige Beschwerde binnen zwei Wochen zurückzunehmen. Anderenfalls wird der Senat sie ohne Weiteres verwerfen. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass schon mit Blick auf den zwischenzeitlichen Zeitablauf und das Ergebnis der erstinstanzlichen Kindesanhörung eine Verbleibensanordnung nicht in Betracht kommen dürfte.“

So entschied das Ehepaar, die Beschwerde zurückzuziehen und beim Amtsgericht ein neues Verfahren anzuschieben mit einer erneuten mündlichen Verhandlung. So geschehen über vier Stunden mit 18 Aktenordnern im Gepäck von Susann.

Ergebnis bzw. Beschluss des Amtsgerichts: Das Kind bleibt, wo es ist. Hinzugekommen zu den bereits aufgeführten Gründen war nach Ansicht der Richterin Punkt 7: „Weiterhin spricht auch besonders der Zeitablauf, seit dem 03.05.2023, gegen eine Anordnung der Rückführung des Kindes in den Haushalt der Antragstellerin.“ Immerhin, das erleichtert Susann, habe sie viele Falschaussagen widerlegen und Vorwürfe entkräften können. „Das war mir wichtig, denn ich habe immer transparent und lückenlos agiert“, beteuert sie.

Trotz abschlägigem Bescheid geben sich die Pflegeltern weiterhin kämpferisch und haben gegen den Beschluss Widerspruch beim Oberlandesgericht eingelegt. Denn ihrer Meinung nach, und das wollen sie nachweisen, habe es nie eine Meldung wegen Kindeswohlgefährdung gegeben. Also sei das Kind zu Unrecht aus der Familie gerissen worden.

Interessanterweise ist zwischenzeitlich für die neue Pflegefamilie eine solche Gefährdungsmeldung eingegangen. Der Vorwurf wird nun geprüft und hat bei Martin und Susann zu einem Umdenken geführt. „Ich war wirklich zerrissen“, gesteht Susann, ob es wirklich gut für Ben wäre, wenn er zu uns zurückkommt. Es wäre der fünfte Wechsel für Ben, wenn er nach mehr als einem Jahr aus der jetzigen Pflegefamilie herausgenommen würde. Am Ende ginge es schließlich um das Kindeswohl und nicht um die Bedürfnisse und Gefühlswelt der Pflegeeltern. Nun ist es am Oberlandesgericht, nach Prüfung der Sachlage über das Schicksal des Jungen zu entscheiden. Für Susann und Martin ist nun klar: „Soll er dort, wo er jetzt ist, wieder heraus – wir nehmen ihn zurück!“

Autorin: Dagmar Elsen