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FASDplus: Wir haben Kinder, die multipel schwer beeinträchtigt sind

Im Rahmen der Diagnostik tun sich immer wieder, und das sehr oft, hochkomplexe Problemfelder auf. Auf unserem jüngsten FASD-Fachtag haben wir deshalb die Differenzialdiagnostik thematisiert. Dazu antworteten der Moderatorin Dagmar Elsen, Journalistin und Autorin, der Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt der Klinik Walstedde, Dr. Khalid Murafi, und die Psychiaterin vom Sozialpädiatrischen Zentrum und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité Berlin, Dr. Heike Wolter.

Dagmar Elsen: Herr Dr. Murafi, Stichwort FASDplus – Ihr Spezialgebiet – wann ist die Differenzialdiagnostik angesagt? Welche weiteren psychiatrischen Erkrankungen spielen eine Rolle? 

Dr. Khalid Murafi: Wieviel Zeit hab‘ ich jetzt? Ich versuche mal, ein bisschen kompakter zu fassen. Das Entscheidende ist, dass die Risikokonstellation, dass während der Schwangerschaft Alkohol oder andere toxische Substanzen konsumiert werden, einhergeht mit anderen Risikofaktoren, die höher wahrscheinlich sind. Eine häufige Ursache für die Suchtentwicklung bei den betroffenen Frauen sind affektive Erkrankungen. Das können Depressionen sein, bipolare Störungen, Psychosen, Traumafolgeerkrankungen. Es kann sein, dass damit einhergeht – zum Beispiel jetzt ganz lebensgeschichtlich fokussiert -Gewalterfahrung während der Schwangerschaft, vorherige Traumatisierung. Das sind alles Dinge, die sich dann auch auf die Entwicklung mit auswirken. Das heißt, wir haben teilweise Veränderungen, was die Gemütsentwicklungen angeht hinsichtlich Denk- und Verhaltensweisen. Da bin ich bis heute immer wieder verwundert, wie spezifisch manchmal die Veränderungen durch den Alkohol durch das Aussetzen während der Schwangerschaft sind. 

Aber es gibt eben auch diese anderen Risikofaktoren, die hinzukommen – zum Beispiel eine genetische Belastung. Dass hat zur Folge, dass irgendwann eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, mit dem Stressor Intoxikation während der Schwangerschaft oder andere Stressoren während der Schwangerschaft, dass diese Krankheiten – Depressionen, Psychosen, affektive Erkrankungen, bipolare Störungen – eben dann auch niederschwelliger ausbrechen.

Es gibt einen anderen Risikofaktor, der sozusagen nachgeburtlich auftritt. Das heißt in Kombination mit dem niederschwelligen Alkoholkonsum trotz besseren Wissens während der Schwangerschaft geht natürlich auch einher, dass es seelische Belastung auch nach der Geburt geben kann auf Seiten der Mutter. Die ersten 20-24 Monate sind hochrelevant für die Sozialisierung in dem resonanten Begleiten der Neugeborenen und der Säuglinge. Das betrifft die Entwicklung von Impulsregulation, Affektregulation, Selbstbild, wissen, was ich fühle, wie ich damit umgehe und so weiter. Und wenn die Sozialisation ausbleibt aufgrund von sehr schwerwiegenden Defiziten, sei es aufgrund der Alkoholproblematik, einer Suchtproblematik, sei es aufgrund der komorbiden Umstände oder anderen psychischen Erkrankungen, dann haben wir eben das Risiko, dass die Kinder zusätzlich strukturelle Störungen entwickeln. Das kann dann später zu einer Borderline-Störung führen. 

Und das sind ja auch die dramatischen Entwicklungen, die wir dann sehen. Das geht eine Zeitlang gut, zum Beispiel in Pflege- oder Adoptivfamilien, teilweise auch in Heimsituationen. Aber dann spätestens mit Eintritt in die Pubertät, bricht das ganze System. Die Kinder stehen unter schweren Bindungsstörungen, können dann die Beziehungsangebote oft nicht weitertragen. Das sind eben die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen. Außerdem, lassen Sie mich den Satz noch anhängen, haben die Kinder auf unterschiedlichen Ebenen durch die Spezifika zum Beispiel der leichten Beeinflussbarkeit als eines der wichtigen Merkmale in der Gemütsentwicklung. Bei den Jungen habe ich vorhin schon angedeutet, das Risiko, dass sie eine dissoziale Entwicklung einschlagen. Bei den Mädchen eben, dass sie eine promiske Entwicklung einschlagen, also niederschwellig bereit sind, sexuelle Handlungen mit zu tun, weil darüber dann Selbstwert generiert wird und eine schnelle Wirksamkeit erzielt wird. Die nachhaltige Entscheidung über ihr Verhalten, das ist der Unterschied zwischen den Kindern mit und ohne FASD, die jeweils schon eine sehr schwere Störung des Sozialverhaltens und eine dissoziale Entwicklung haben – ich nenne ein Beispiel: Wenn ich die Kinder ohne FASD frage, was hast Du denn da für einen Unfug gemacht? Machst Du das morgen wieder? Dann sagen sie, nein mache ich nicht. Aber sie wissen schon, dass sie es morgen wieder machen. Die FASD-Kinder sagen mir auch, ja mache ich nicht mehr und sie meinen das auch ernst. Sie machen es morgen aber trotzdem wieder. 

Diese ganzen komplexen Zusammenhänge führen dann eben zu den Konstellationen, mit denen wir zu tun haben. Dass wir dann Kinder haben, die multipel schwer beeinträchtigt sind und nicht nur Summationseffekte entstehen. In der Krankheitsentwicklung ist die Schwere der Erkrankung bei dieser FASDplus-Konstellation eben dann auch mehr als die Summe der einzelnen Belastungsfaktoren. Damit sind wir dann beschäftigt und versuchen das zu sortieren. Und da braucht es, wenn sie beispielsweise eine biologisch psychiatrische Erkrankung haben, eine spezifische Medikation. Oder eine spezifische Psychotherapie für die schweren Bindungsstörungen. Obendrein in dieser Gemengelage von FASD an sich, die an sich schon schwierig genug ist, ist es wichtig, sich entsprechend zu orientieren.

Dr. Heike Wolter: Auch hinsichtlich des Themas Schule ist  FASDplus total wichtig. Es reicht nur die Diagnose FASD letztendlich nicht. Es braucht dringend eine ergänzende psychiatrische Diagnostik. Umfassend. Um wirklich zu sehen, wo sind die Stärken und Schwächen. Ich erlebe das im Alltag immer wieder. Es ist dann am Ende des Tages relativ simpel. Die Kinder dürfen nicht überfordert werden. Wenn diese Kinder überfordert werden, dann geht nichts mehr.

Ich habe jetzt nach langen, langen Kämpfen erreicht, der Junge hatte alles in der Schule, Schulbegleitung, Medikation rauf und runter, Tagesklinik, immer wieder Psychiatrie. Jetzt hat er es geschafft, in eine Förderschule zu kommen in Brandenburg oder Potsdam. Und jetzt geht es ihm gut. Jetzt ist er entlastet. Kleine Klassen, Förderschwerpunkt Lernen, obwohl er eigentlich im unteren Durchschnittsbereich vom IQ liegt. Jetzt ist die Aggressivität endlich beendet, oder zumindest weitgehend beendet. Und es war wirklich hochdramatisch. 

Wir brauchen weitergehende Diagnostik

Öffentliche Anhörung „Alkoholpräventionsstrategie“ im deutschen Bundestag am 03.03.2021

Stellungnahme

Dr. med. Khalid Muraf

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Chefarzt und Geschäftsführender Gesellschafter Klinik Walstedde

 

Die fetalen Alkoholspektrumsstörungen stellen an sich schon eine komplexe Problematik mit vielen unterschiedlichen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Systemen der betroffenen Kinder da.

Nicht nur, dass die Kinder durch verzögertes Wachstum und retardierende Reifung auffallen. Sie zeigen Organschädigungen, Stigmata (besondere Kennzeichen im Gesicht z.B. schmales Lippenrot, fliehendes Kinn, bestimmt Augenstellung, veränderte Nasenwurzelstruktur, verstrichenes Philtrum etc.), neurologische und motorische Entwicklungsverzögerungen, außerdem seelische Belastungen und Verhaltensauffälligkeiten.

Jenseits dieser schon äußerst komplexen Beeinträchtigungen, hervorgerufen durch Alkohol- und Drogenkonsum in der Schwangerschaft, sind diese Kinder prädestiniert für weitergehende Belastungsfaktoren.

Hintergrund hierfür ist eine vermehrte Neigung der Mütter, auch während der Schwangerschaft gegen besseres Wissen Alkohol zu konsumieren. Ursache dafür kann z.B. eine bestehende Abhängigkeitserkrankung sein und / oder eine mütterliche, nicht angemessene Einschätzung hinsichtlich der Wirkung des Alkoholkonsums. Beides wiederum kann einhergehen mit affektiven Erkrankungen wie z.B. Depressionen oder manisch-depressiven Erkrankungen sowie anderen psychiatrischen Erkrankungen – Psychosen, Angststörungen und unspezifische Affekt- und Impulsregulationsstörungen. Hierbei können genetische Komponenten eine Rolle spielen. Das wiederum führt dazu, dass hier ein erhöhtes Risiko besteht, dass die geborenen Kinder neben den alkoholbedingten Erkrankungen eigenständige psychiatrische Erkrankungen mit genetischen Komponenten entwickeln.

Bekanntlich ist die Zeit der Schwangerschaft mit einem höheren Risiko belastet, auch andere psychosoziale Stressoren aufzuweisen: Partnerschaftskonflikte, soziale Belastungen, Armut, keine ausreichende Gesundheitsfürsorge im Rahmen eines übermäßigen Alkoholkonsums, Partnergewalt, etc. All diese Bedingungsfaktoren führen zu erhöhter Stressauslösung im mütterlichen Organismus, der sich wiederum negativ auf die kindliche Entwicklung im Mutterleib auswirkt. Das bedeutet, dass auch sog. epigenetische Faktoren, also stressbedingte Umprogrammierung genetischer Voraussetzungen in der kindlichen Entwicklung, mit dann erhöhtem Risiko z.B. depressive Erkrankungen entwickeln können.

Die Aspekte der schwerwiegenden lebensgeschichtlichen Belastungsfaktoren während der Schwangerschaft, oder auch mütterlicherseits vor der Schwangerschaft, können einhergehen mit der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung der Mutter und einer komplexen Traumafolgeerkrankung. Diese Stressoren, die sich auch auf das Kind während der Schwangerschaft übertragen, können zu einer deutlichen Beeinträchtigung der frühen nachgeburtlichen Interaktion mit dem Säugling führen. Das wiederum kann die notwendige basale Versorgung des Neugeborenen, sowie die im besonderen emotionale dringend notwendige Resonanz in den ersten eineinhalb bis zwei Lebensjahren deutlich einschränken. Derlei Resonanzentziehungen können auch bei anderen, ebenso bestehenden psychiatrischen Erkrankungen mütterlicherseits ohne genetische Komponenten – so z.B. bei eigener mütterlicher frühstruktureller Störung (oftmals auch als Borderline-Störung benannt) – relevant sein.

Die eingeschränkte Resonanzfähigkeit mütterlicherseits führt zu einer desorganisierten chaotischen Entwicklung der emotionalen Selbstwahrnehmungs- und Selbstregulationsfähigkeit des Kindes. Das hat entsprechend weitreichende und tiefgreifende Folgen für die weitere emotionale und psychische Entwicklung des betroffenen Kindes; mit dann auch eben der Entwicklung einer sog. frühstrukturellen Störung (also früh entstehend und tief strukturell eingreifend). Das wiederum bedeutet einen sehr langfristigen negativen Effekt auf die Entwicklung des Kindes, zumeist einhergehend mit den schon frühen Verhaltensauffälligkeiten in der Affekt- und Impulsregulation. Mit dem Eintreten in die Pubertät stellt sich dies noch einmal mehr mit aller Deutlichkeit in der Symptomentwicklung dar, dies vor dem Hintergrund der sogenannten neuronalen Neuvernetzung, die sich mit eintreten in die Pubertät einstellt.

Eine der schwierigen Aufgaben für die betroffenen Kinder ist die Regulation von Gefühlslagen; dies im besonderen in Beziehungen. Das offenbart sich mit dem Eintritt in die Pubertät oftmals ganz besonders durch Brüche mit den Adoptiv- und Pflegefamilien. Die Jugendlichen fallen mit massivem destruktivem Verhaltensweisen auf. Oft sind diese auch gegen sich selbst gerichtet, oder auch gegen innerhalb der bisher vielleicht gerade noch tragfähigen Familienkonstellation bedeutsame und relevante Bezugspersonen.

Nicht selten gibt es bei den von fetalen Alkoholschäden betroffenen Kindern einen Adoptiv- oder Pflegestatus. Allein das Wissen darum stellt für die Kinder eine psychodynamische Last dar, die für sie schwierig zu integrieren ist, wenn sie sich mit diesen Themen beschäftigen wollen oder

müssen. Zur eingeschränkten Fähigkeit, mit solchen emotionalen Aspekten umzugehen, kommt auf der Ebene des FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorders) dann auch noch im Sinne der frühstrukturellen Störung oder anderen bestehenden affektiven Erkrankungen eine hohe Neigung zur Dysregulation.

Dies heißt nicht, dass hier eine grundsätzliche Unfähigkeit zur Psychotherapie besteht. Vielmehr müssen im Behandlungsgang sowohl diese biologisch psychiatrischen Aspekte, teilweise mit einer spezifischen Medikation (z. B. antidepressiven Medikation oder neuroleptischen Medikation oder stimmungsstabilisierenden Medikation), angegangen werden, als auch psychotherapeutische Maßnahmen auf die jeweilige Gesamtsituation des Kindes oder Jugendlichen angepasst werden. All dies unter möglichst weitgehender Berücksichtigung der komplexen Zusammenhänge. Denn bei diesen Kindern kann es sein, dass eine isolierte Fokussierung auf die schon ausreichend komplexe Problematik der FASD-immanenten Folgen zu kurz greift und es eben zusätzlicher spezifischer Behandlungsangebote bedarf.

Hier ist also folgendes zu fordern: Eine weitergehende Diagnostik, sowohl bezogen auf biologische psychiatrische Erkrankungen, Traumafolgeerkrankungen, als auch frühstrukturelle Störungen mit dem Risiko der weitergehenden Persönlichkeitsentwicklungsstörung. So wird sichergestellt das spezifische Behandlungsverfahren unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen entwickelt werden.

Bezogen auf eigene Traumafolgeerkrankung ist auffällig, dass das Milieu, in dem ein erhöhtes Risiko mit vermehrtem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft besteht, eben auch ein Risikomilieu sein kann für frühe Traumatisierung, miterlebter Partnergewalt, selbst erlebter Gewalt oder sexueller Grenzverletzungen.

Nicht zuletzt ist zu beobachten und zu berücksichtigen, dass vor allem bei den Mädchen die fehlende Selbstwirksamkeit der FASD-Kinder bei gleichzeitig ausgeprägtem Wunsch sozial erfolgreich zu sein dazuzugehören, anderen zu gefallen, zu einer leichten Beeinflussbarkeit führen kann, die dazu führt, dass sie selber niederschwellig Opfer von Traumatisierungen werden durch sexuelle Ausbeutung und sexuelle Grenzverletzung.

Hier erleben die Kinder und Jugendlichen über die einfachen Aspekte von sexueller Attraktivität eine hohe Selbstwirksamkeit und eine inadäquate zunehmende Bedeutung für eine andere Person, können dies aber leider nicht genau differenzieren. Dadurch können sie sich selbst nicht ausreichend schützen und werden so nur Objekt der Begierde, aber nicht um ihrer selbst Willen begehrt und geliebt.

Darüber hinaus ist durch die Veränderung der Ansprechbarkeit des sogenannten dopaminergen Systems (Dopermin als Neurotransmitter gerade im Belohnungssystem) im Grunde eine hohe Suchtentwicklungsbereitschaft vorprogrammiert, so dass der Kontakt mit mindestens Alkohol aber auch anderen Suchtmitteln bis hin zu Medienkonsum niederschwelliger Suchterkrankungen

entwickeln lässt und damit auch frühzeitig spezifisch thematisiert werden sollten, wenn möglich in Prävention, spätestens aber als Sekundärprofilaxe im weiteren Verlauf der seelischen Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Risikostruktur über die eigentlichen unmittelbar durch den Alkoholkonsum ausgelösten Belastungen der betroffenen Kinder teilweise deutlich hinausgeht, diese differentialdiagnostisch zusätzlich einer Untersuchung bedarf, im besonderen dann, wenn die bisherigen FASD-orientierten Behandlungsmethoden nicht ausreichend erscheinen, um schließlich noch einmal weitergehende spezifische Behandlungsmethoden angepasst an die individuellen Möglichkeiten zu etablieren.