Schützt das Bundesverfassungsgericht Pflegekinder nicht mehr? Sind Pflegekinder „Kinder 2. Klasse“?

Bundesverfassungsgericht, Kammerentscheidung vom 28.08.2023 – 1 BvR 1088/23 

In dem vorliegenden Fall mussten die ursprünglichen Pflegeeltern von jetzt auf gleich auf einer Autobahnraststätte das vier Jahre alte Kind an andere Pflegeeltern übergeben. Die neuen Pflegeeltern seien erzieherisch besser geeignet. Das Kind der drogenabhängigen leiblichen Mutter war im integrativen! Kindergarten extrem verhaltensauffällig gewesen. Zu Hause nicht. Unterstützende Maßnahmen, etwa eine Assistenz für den Kindergarten, waren vom Jugendamt nicht ins Auge gefasst worden. Die Verfahrensbeiständin hatte berichtet, dass das Kind bei ihrem Besuch bei den neuen Pflegeeltern geäußert habe wieder „nach Hause zu wollen“.

Professor Dr. jur. Ludwig Salgo aus Frankfurt am Main und der vielen Pflegefamilien bekannte Rechtsanwalt Peter Hoffmann aus Hamburg üben scharfe Kritik an der Entscheidung der Bundesrichter, die weitreichende Folgen hat: “Wenn diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Einleitung einer Wende im Schutz von Pflegekindern darstellen soll, dann wäre das eine fatale Entwicklung: Wollen doch die jüngsten rechtspolitischen Maßnahmen gerade den Kontinuitätsbedürfnissen dieser vulnerablen Gruppe von Kindern gerecht werden. Daher sollten zunächst Hilfe und Unterstützung angeboten und erbracht werden und eine Trennung des Kindes von seinen Hauptbezugspersonen erst erfolgen, wenn die konkret festgestellte Gefährdung nicht anders abgewendet werden.” 

Der Gastbeitrag:

In der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 79/2023 vom 07.09.2023 heißt es, wenn zu erwarten sei, dass dem Wohl des Kindes mit einem Wechsel der Pflegefamilie trotz des Bindungsabbruchs zu den bisherigen Pflegeeltern eher gedient sei, setzten sich die Interessen des Kindes gegen die seiner vormaligen Pflegeeltern durch. Diese Positionierung ist mit der bisherigen Senats- und Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu vereinbaren.

1. Zum Sachverhalt

Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sowie aus den Beschlüssen der Vorinstanzen lässt sich bereits der Sachverhalt nicht deutlich feststellen. Der dort dargestellte Sachverhalt wirft Fragen auf und lässt erhebliche Zweifel offen, ob die Gerichte ihrer Amtsermittlungspflicht nachgekommen sind bzw. ob nicht erhebliche Auslassungen erfolgten:

  • –  Das Kind ist im September 2018 geboren. Aufgrund des Drogenkonsums der Mutter kam es mit starken Entzugserscheinungen zur Welt und musste in den ersten 5 Wochen seines Lebens einen Entzug durchleben. Seit Anfang November 2018 lebte das Kind in einer Bereitschaftspflegefamilie.
  • –  Im Alter von 5 Monaten wechselte das Kind zu seinen Pflegeeltern, bei denen es dann 4 Jahre lebte.
  • –  Aufgrund des Drogenkonsums (Polytoxikomanie) der Mutter in der Schwangerschaft hat das Kind Entwicklungsverzögerungen.
  • –  Im Alter von 1,5 Jahren ist das Kind im SPZ diagnostiziert worden (Mai 2020) mit leichter Entwicklungsverzögerung, kurzer Aufmerksamkeitsspanne sowie einer motorischen Unruhe. Das SPZ stellte „einen sehr fürsorglichen und liebevollen Umgang“ der Pflegeeltern mit dem Kind fest, sowie dass das Kind stetig Präsenz der Pflegeeltern einfordere. Das SPZ beriet die Pflegeeltern im Umgang mit dem Kind, auch dahingehend, dass sie aufgrund seiner Regulationsschwierigkeiten stark als äußerer Taktgeber fungieren und viel Struktur schaffen müssen. Das SPZ stellt fest, dass die

Pflegeeltern dies gut annehmen und auch teilweise schon umgesetzt hätten. Dieser Bericht lag den Gerichten vor.

  • –  Ab dem Alter von 2 Jahren besuchte das Kind an 4 Tagen die Woche eine Krippe für 4 Stunden, später auch etwas länger. Die Leiterin beschreibt, dass die Zusammenarbeit mit den Pflegeeltern sehr positiv verlaufen sei. Sie seien freundlich, ehrlich und warmherzig. Sie würden das Kind in seinem ganzen Wesen annehmen und bestärken. Über etwaige Schwierigkeiten habe sie mit ihnen immer offen sprechen und gemeinsam einen Weg finden können, das Kind zu (be)stärken und auf seine individuellen Bedürfnisse sensibel einzugehen. Ihre Erziehungsfähigkeit könne sie nur als kompetent bezeichnen. Dieser Bericht lag den Gerichten vor und wurde nicht erwähnt.
  • –  Im Alter von 2,5 Jahren (April 2021) ist das Kind zum zweiten Mal im SPZ vorgestellt worden. Im Bericht heißt es, das Kind habe sich „erfreulich weiterentwickelt“, der Wortschatz erweitere sich kontinuierlich. Das Kind sei motorisch weiter unruhig, mit wenig Ausdauer und lasse sich leicht ablenken. Dieser Bericht lag den Gerichten vor und wurde nicht erwähnt.Neuere SPZ-Berichte lagen nur Jugendamt und Vormund vor, die sie im einstweiligen Anordnungsverfahren jedoch nicht vorlegten und von den Gericht auch nicht angefordert wurden.
  • –  Als das Kind 2 Jahre und 8 Monate (Mai 2021) alt war, fand der letzte Hausbesuch des Vormundes in der Pflegefamilie und der erste und letzte Hausbesuch der zuständigen Jugendamtsmitarbeiterin bei der Pflegefamilie statt.
  • –  Im Alter von 3 Jahren (September 2021) kam das Kind in einen integrativen Kindergarten und es sollte der Integrativstatus geprüft werden.
  • –  Im Hilfeplanprotokoll von Februar 2022 heißt es, dass sich die „Pflegeeltern engagiert für die Belange des Kindes [einsetzen] und auch viele Termine an unterschiedlichen Stellen wahrnehmen. Das Pflegeverhältnis ist auf Dauer angelegt.“ Dieser Bericht lag den Gerichten vor und wurde nicht erwähnt.
  • –  Ab dem Frühjahr 2022 erhielt das Kind Frühförderung einmal die Woche im Haushalt der Pflegeeltern. Eine Frühförderung dient der spielerischen Förderung der motorischen und sprachlichen Entwicklung des Kindes – nicht der Beratung der Pflegeeltern.

  • –  Der Kindergarten berichtete den Pflegeeltern immer wieder von problematischem Verhalten des Kindes, er störe die Gruppe etc. Die Pflegeeltern kannten diese Verhaltensweisen von zuhause nicht. Sie baten um Unterstützung und Beratung.
  • –  Das Kind hat – entgegen den Ausführungen des BVerfG – trotz fachlicher Empfehlung im Kindergarten zu keinem Zeitpunkt eine kontinuierliche 1:1-Betreuung (Integrationshelfer) erhalten.
  • –  Die Heilpädagogin der Frühförderung berichtete Ende des Jahres 2022, das Kind nehme eine gute Entwicklung in der Pflegefamilie. Anfangs sei das Kind sehr offen, regelrecht stürmisch und distanzlos gewesen. Durch die gestärkte Beziehung zu den Pflegeeltern zeige es sich zuletzt etwas entspannter und konzentrierter. Das Kind fordere viel Rückmeldung, Begleitung und Aufmerksamkeit ein. Der vertraute und reizreduzierte Rahmen in der Pflegefamilie komme ihm bei den Angeboten immer wieder sehr entgegen. Schließlich erklärte sie, dass die Pflegeeltern sich in den Konflikten mit dem Kindergarten ohnmächtig und hilflos fühlen würden.
  • –  Im Herbst 2022 wollte der Kindergarten die Betreuungszeit des Kindes von bis nach dem Mittagessen (4 Stunden 45 Minuten) auf bis vor dem Mittagessen kürzen. Die Pflegeeltern waren hiermit nicht einverstanden, weil sie nicht wollten, dass das Kind ausgeschlossen wird. Sie baten um Unterstützung. In einer zugespitzten Situation sagten die Pflegeeltern, dass wenn sie sich aus der Betreuung des Kindes auch so herausziehen würden, wie der Kindergarten, müsse das Kind wohl ins Heim. Sie stellten aber gleichzeitig klar, dass sie ihn weiter betreuen und sich für ihn einsetzen wollen. Sie ließen sich nach wenigen Tagen auf die frühere Abholzeit ein. Da die Pflegeeltern der früheren Abholzeit nicht umgehend zustimmten, wurde ihnen vorgeworfen, dass sie die Bedarfe des Kindes verkennen.
  • –  Im Februar 2023 teilten Vormund und Jugendamt der Pflegefamilie mit, dass das Kind nun binnen 10 Tagen in eine andere Pflegefamilie wechseln soll. Diese sei „professionell“ und könne besser mit den Verhaltensweisen des Kindes umgehen.Zu diesem Zeitpunkt hatten Jugendamt und Vormund die Pflegefamilie seit 1 Jahr und 9 Monaten nicht zuhause besucht. Der Vormund hatte das Kind in dieser Zeit einmal im Sommer 2021 beim Arzt und einmal im Januar 2023 im Kindergarten gesehen.
  • –  Der Kinderarzt erklärte im Februar 2023, dass das Kind gut in die bisherige Pflegefamilie eingebunden und es für das Kind wichtig sei, dass diese Bindung aufrechterhalten werde. Seine gute Entwicklung in der Familie rechtfertige eine Herausnahme nicht. Der Bericht lag den Gerichten vor.

2.

  • –  Die Pflegeeltern beantragten beim Familiengericht eine Verbleibensanordnung im Wege der einstweiligen Anordnung. Am darauffolgenden Tag beantragte der Vormund die sofortige Herausgabe des Kindes. Das Familiengericht gab dem einstweiligen Herausgabeantrag des Vormundes noch am selben Tag ohne mündliche Verhandlung und somit ohne jede Amtsermittlung statt. Eine akute massive Gefahr für das Kind in der Pflegefamilie, welche die sofortige Herausnahme rechtfertigen würde, war weder seitens des Vormundes vorgetragen noch seitens des Gerichts festgestellt.Ebenfalls an diesem selben Tag forderte der Vormund die Herausgabe des Kindes. Die Übergabe erfolgte an einer Autobahnraststätte. Seither lebt das Kind in der neuen Pflegefamilie.
  • –  Mit der Herausnahme ist der Kontakt zwischen der bisherigen Pflegefamilie und dem Kind abgebrochen. Umgangskontakte fanden nicht statt.
  • –  Die leibliche Mutter setzt sich seit der Herausnahme des Kindes dafür ein, dass ihr Kind zu den Pflegeeltern, bei denen es 4 Jahre lebte, zurückkehrt. Sie legte auch Beschwerde gegen den einstweiligen Herausgabebeschluss des Amtsgerichtes ein. Das BVerfG erwähnt dies nicht.
  • –  Die Verfahrensbeiständin berichtete im April 2023 im Beschwerdeverfahren, dass das Kind die bisherigen Pflegeeltern sehen möchte und endlich wieder „nach Hause“ will. Dies wurde in keiner Entscheidung erwähnt.
  • –  Im Mai 2023 teilte das Jugendamt in einer mündlichen Verhandlung in einem Parallelverfahren am Amtsgericht mit, dass die neue Pflegefamilie die Betreuung des Kindes aufgrund beruflicher Verpflichtungen nicht leisten könne, wenn es nicht bald für täglich 5 Stunden, also bis nach dem Mittagessen, einen Kindergarten besuche. Das Protokoll dieser Verhandlung lag dem BVerfG vor.Grundlegende Senatsentscheidungen zu Pflegekindern

Zu Kindern, die wegen Gefährdung aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen und zu ihrem Schutz in Pflegefamilien untergebracht werden, hatte sich das Bundesverfassungsgericht in richtungsweisenden Senatsentscheidungen (8 Richter) in der Vergangenheit grundlegend geäußert.

In der Senatsentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1984 hat es die Bindungen zwischen Pflegekind und Pflegeeltern anerkannt und folglich auch die Pflegefamilie mit dem Kind unter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 3 GG gestellt.1 Bei einer Interessenkollision ist das Kindeswohl bestimmend (a.a.O., 188).

In einer weiteren Senatsentscheidung aus dem Jahr 1987 hat das BVerfG die Trennung kleiner Kinder von ihren unmittelbaren Bezugspersonen (Pflegeeltern) als ein Vorgang mit erheblichen psychischen Belastungen für das Kind und mit einem schwer bestimmbaren Zukunftsrisiko erkannt (a.a.O. 219).2 Ein Wechsel von einer Pflegestelle in eine andere ist daher nur zulässigwenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen und physischen Schädigungen verbunden sein kann (a.a.O. 220). (Bei einem Wechsel in die Herkunftsfamilie gelten andere Maßstäbe.)

Bis in die jüngste Zeit hinein haben die Kammerentscheidungen (3 Richter) die früheren Senatsentscheidungen hinsichtliches den Schutzbedarfs des Kindes in der Pflegefamilie bestätigt.

Auch der Neunte Familienbericht (2020) hebt die Vulnerabilität dieser Kinder aufgrund der oft hohen Traumaexposition vor ihrer Fremdplatzierung hervor und weist darauf hin, „dass, je länger Pflegeverhältnisse andauern, der Einfluss der Pflegeeltern auf das weitere Leben der Kinder umso bedeutender wird und tragfähige Bindungen des Pflegekindes in seiner sozialen Familie umso eher entstehen können, deren Aufbau sich gerade angesichts der vielfältigen negativen Erfahrungen als bedeutsamer Schutzfaktor für seine Entwicklung erweist“ (BT- Drucks. 19/27200, 99).

Für Pflegekinder, die seit längerer Zeit in einer Pflegefamilie leben und sich dort emotional verankert haben, bedeutet das, dass es für ihre Entwicklung elementar wichtig ist, dass diese emotionale Bindung aufrechterhalten wird. Deren Abbruch soll, insbesondere dann, wenn lediglich ein Pflegestellenwechsel geplant ist, nur erfolgen, wenn für das Kind eine konkrete Gefährdung in der aktuellen Pflegefamilie besteht, die nicht anders als durch die Herausnahme abgewendet werden kann. Andernfalls kann nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass die Trennung des Kindes von seinen sozialen Eltern mit insbesondere psychischen Schäden verbunden sein kann.

3. Missachtung der Senatsentscheidungen: Keine Feststellung einer Kindeswohlgefährdung in der Pflegefamilie

Mit der jetzigen Kammerentscheidung wird zwar auf die eben genannten Entscheidungen Bezug genommen, jedoch deren Inhalt konterkariert. Offenbar soll der dort definierte

1 BVerfG, 17.10.1984 – 1 BvR 284/84. 2 BVerfG, 14.04.1987 – 1 BvR 332/86.

Kinderschutz keine Geltung mehr haben.

Denn es wird eine Entscheidung der Vorinstanzen bestätigt, mit der ein Kind aus einer Pflegefamilie herausgenommen wurde, die aus seinen einzigen Bindungspersonen besteht, ohne dass eine Kindeswohlgefährdung festgestellt ist. Der einstweilige Herausnahmebeschluss erging sogar ohne mündliche Verhandlung, somit ohne jede Amtsermittlung, und dies ohne dass eine massive, akute, gegenwärtige Gefahr für das Kind der Familie konkretisiert worden ist, die eine solch drastische Maßnahme rechtfertigen könnte. Es wurden eine Gefährdung behauptet und pauschal mit Differenzen zwischen dem Hilfesystem und den Pflegeeltern begründet. Ein konkreter bereits eingetretener oder drohender Schaden für das Kind durch das Erziehungsverhalten der Pflegeeltern wird nicht benannt.

Die Feststellung einer Gefährdung erfordert jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Gefährdung nach Schwere und Art konkretisiert werden muss. Wegen mangelnder Konkretisierung der Gefährdung hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder fachgerichtliche Entscheidungen der Familiengerichte aufgehoben. Weder aus der vorangegangenen Entscheidung des OLG Nürnberg (10 UF 360/23) noch aus der BVerfG- Entscheidung lässt sich eine Kindeswohlgefährdung im Sinne der ständigen Definition des BVerfG entnehmen, die eine solche Herausnahme jedoch voraussetzen würde. Es finden sich lediglich pauschale Behauptungen und nicht belegte Annahmen.

Ohne Rüge einer Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes führt das BVerfG nun aus, es komme nicht »darauf an, ob das Kind bei einem Verbleib in bzw. bei einer Rückführung in den Haushalt der Beschwerdeführenden konkret gefährdet wäre«. Gleichzeitig zitiert das BVerfG die Senatsentscheidung BVerfG 75, 201, die das Gegenteil ausführt, wonach eine konkrete Feststellung der Gefährdung stets erforderlich ist (siehe oben). Anschließend führt das BVerfG aus, es müsse die mögliche Gefährdung durch die Herausnahme aus der bisherigen Pflegefamilie gegen eine »prognostisch erhebliche Gefährdung eines Verbleibs« abgewogen werden. Also kommt es doch auf die Gefährdung an? Diese ist jedoch gar nicht konkretisiert worden.

Sollte es eine Gefährdung in der bisherigen Pflegefamilie gegeben haben: Welche Hilfen wurden dieser Pflegefamilie als milderes Mittel gegenüber einer Herausnahme angeboten? Dazu findet sich nichts.

Die abwertende Haltung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Pflegeeltern ist irritierend. Ihnen wird vorgehalten, nicht im Interesse des Kindes zu handeln. Gleichzeitig bleibt bis zuletzt ungeklärt, worin sich dieser Vorwurf begründet und was den massiven Eingriff in das Familienleben in die für das Kind so wichtige soziale Familie begründet, zumal gerade der Schutz der Bindung des Kindes in der Pflegefamilie ein zentrales Moment des Kinderschutzes ist.

Soweit die Entscheidung des BVerfG sich mit dem Hinweis auf die schwächere grundrechtliche Position von Pflegeeltern gegenüber Herkunftseltern auf den Beschluss des BGH XII ZB 328/15 bezieht, ist jener Beschluss in der Entscheidung unvollständig zitiert. Denn der BGH verweist darauf, dass im dortigen Zusammenhang vom Bundesverfassungsgericht »bei dem Pflegekind eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG bejaht wurde (BVerfG FamRZ 1989, 31, 33).« (BGH v. 20.11.2016, Rn. 26). Es waren dort konkrete Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung in der Pflegefamilie festgestellt worden, die dem Beschluss zu entnehmen sind. Im Zusammenhang mit der Prüfung der Verletzung der Grundrechtsposition von Pflegeeltern durch Herausnahme des Kindes ist nach ständiger Rechtsprechung die Verletzung des Pflegekindes in seinen Rechten aus Art. 1 i.V.m. Art. 2 GG auf Erhalt seiner schützenswerten Bindungen unmittelbar zu prüfen. Diese sollen nur bei konkret festgestellter, nicht anders abwendbarer Kindeswohlgefährdung abgebrochen werden.

Zudem ist hier der Wechsel eines Kindes, das mehrere, sogar die für die Bindungsentwicklung entscheidenden Jahre in der Pflegefamilie verbracht hat, nicht in die Herkunftsfamilie, sondern in eine andere, für das Kind bislang fremde Pflegefamilie erfolgt. Sofern die Herausnahme eines in der Pflegefamilie emotional verankerten Pflegekindes zum Zwecke der Unterbringung in einer für es bislang fremden Familie mit geringeren Anforderungen erfolgen dürfte, als die Herausnahme eines Kindes aus der Herkunftsfamilie, bedeutet dies eine Benachteiligung von Pflegekindern gemäß Art. 3 Abs. 1 GG. Denn der Schutz auf Erhalt ihrer sozialen Familie und ihrer Bindungen wäre geringer als bei Kindern in der Herkunftsfamilie. Sie wären auch unnötigen Abbrüchen schutzloser ausgeliefert.

4. Entwicklungsbedürfnisse von Pflegekindern

Zu berücksichtigen ist die Realität von Pflegekindern: Die überwiegende Mehrzahl von Pflegekindern haben traumatisierende Erfahrungen gemacht und haben deshalb erhebliche Probleme. Die Bewältigung der oft bestehenden Verhaltensauffälligkeiten der Pflegekinder begründet den besonderen Schutz- und Unterstützungsbedarf für das Kind sowie für seine soziale Familie. Hierzu zählt insbesondere unberechtigte, die Lebenskontinuität der Kinder missachtende Entscheidungen zu vermeiden.

5. Keine Berücksichtigung von Kindeswohl und Kindeswille

Mit dem Hinweis, dass die vorliegende Ablehnung einer Verbleibensanordnung das Familiengrundrecht der bisherigen Pflegeeltern nicht verletze, verkennt die Entscheidung, dass in diesem Zusammenhang zwingend die Frage der Verletzung des Kindeswohls im Rahmen des Schutzanspruchs des Kindes aus Art. 2 GG zu prüfen gewesen wäre. Dies ist jedoch nicht erfolgt. Auch zum Kindeswillen findet sich nichts. Dazu passt es, dass eine –gesetzlich zwingende – Kindesanhörung vom Oberlandesgericht nicht durchgeführt und dieses vom BVerfG auch nicht beanstandet wurde.

Der Anspruch des gut in die Pflegefamilie integrierten Kindes gegen den Staat auf Sicherung der Kontinuität in der Erziehung und der gewachsenen Bindungen zu seinen sozialen Eltern wurde verweigert, ohne dass eine Gefährdung i.S.d. §§ 1666, 1666a BGB oder auch nur Beeinträchtigung der Entwicklung des Kindes in der Pflegefamilie konkret festgestellt wurde. Dies bedeutet, dass der Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 GG mit der Begründung abgesenkt wurde, da es sich »nur« in einer Pflegefamilie befunden habe. Ebenso führt die Entscheidung aus, es wäre keine konkrete Kindeswohlgefährdung, wie sie für die Trennung von Eltern auf der Grundlage von §§ 1666 f. BGB erforderlich wäre, zu prüfen. Sind Pflegekinder Kinder »2. Klasse«? Genügen nunmehr lediglich pauschale Behauptungen einer Kindeswohlgefährdung bzw. das angebliche Erfordernis eines Wechsels in eine „bessere“ Pflegefamilie, ohne konkrete Anhaltspunkte?

6. Fazit

Die Entscheidung bedeutet eine Abwertung der Pflegefamilien und zugleich eine Absenkung des Schutzes von Pflegekindern vor Abbrüchen. Bei der Abwägung zwischen Gefährdung durch Verbleib und Gefährdung durch Herausnahme geht es ausschließlich um das Kindeswohl, das zu prüfen ist, und nicht um die Rechte der Pflegeeltern. Der Maßstab der Gefährdung wird durch die Entscheidung herabgesetzt mit der völlig verfehlten Begründung, dass die Rechte der Pflegeeltern schwächer seien als die Rechte der Herkunftseltern. Auf diese Unterscheidung kommt es bei der Konstellation eines Pflegestellenwechsels jedoch in keiner Weise an.

Die Entscheidung ignoriert die weltweit übereinstimmenden wissenschaftlichen Forschungsergebnisse in den Humanwissenschaften zur für Kinder lebensrelevanten Bedeutung von Bindungen und Kontinuität in der Erziehung, wie sie durch Art. 20 UN-KRK geschützt wird.

Es ist auch irritierend, dass die Entscheidung die fehlende Wahrnehmung der gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben durch Jugendamt und Vormund zum persönlichen Kontakt mit dem Kind über Zeiträume von über einem Jahr hinnimmt. Und dies bei einem Kind, das durch Trennung von der Mutter, Drogenentzug und Trennungserlebnis hinsichtlich der Bereitschaftspflegefamilie bereits früh schwer geschädigt wurde und an deren Folgen leidet. Fraglich bleibt, auf welcher Grundlage dann Jugendamt und Vormund ihre Einschätzungen getroffen haben wollen.

Es erscheint fraglich, ob die Gerichte ihrer Amtsermittlungspflicht und Sicherstellung von Grundrechten durch Verfahrensrecht nachgekommen sind. Denn das Amtsgericht ordnete in einem einstweiligen Verfahren die Herausgabe des Kindes bereits vor der ersten mündlichen Verhandlung, also vor jeder Amtsermittlung, an, ohne dass eine massive akute Gefährdung des Kindes in der Pflegefamilie vorgetragen oder festgestellt wurde. Der Wechsel des Kindes in die neue Pflegefamilie erfolgte unmittelbar nach dem Beschluss. Und dies bei einem Kind, das durch Trennung von der Mutter, Drogenentzug und Trennungserlebnis hinsichtlich der Bereitschaftspflegefamilie bereits früh schwer geschädigt wurde und an deren Folgen leidet.

Es ist inakzeptabel, dass die hier entstandene institutionelle Kindeswohlgefährdung durch das weitere – unbegründete – Trennungserlebnis durch die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie in der Öffentlichkeit als Stärkung des Kindesrechts »verkauft« werden soll. Wenn diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Einleitung einer Wende im Schutz von Pflegekindern darstellen soll, dann wäre das eine fatale Entwicklung: Wollen doch die jüngsten rechtspolitischen Maßnahmen gerade den Kontinuitätsbedürfnissen dieser vulnerablen Gruppe von Kindern gerecht werden. Daher sollten zunächst Hilfe und Unterstützung angeboten und erbracht werden und eine Trennung des Kindes von seinen Hauptbezugspersonen erst erfolgen, wenn die konkret festgestellte Gefährdung nicht anders abgewendet werden. Vorliegend stellen jedoch weder die fachgerichtlichen Entscheidungen noch die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht eine konkrete, nicht anders abgewendbare Gefährdung fest.

Autoren: Professor Dr. jur. Ludwig Salgo und Rechtsanwalt Peter Hoffmann

Tauscht euch im Team aus, holt euch Hilfe durch Experten, seid offen für die Ideen der Eltern, vermeidet Besserwisserei!

Immer wieder machen Eltern von Kindern mit fetalen Alkoholschäden die für sie erstaunliche Erfahrung, dass selbst Sonderpädagog:innen auf Förderschulen FASD nicht auf dem Schirm haben. Statt dass Lehrer:innen ihnen Glauben schenken, dass ihre Kinder einen entlastenden Umgang benötigen, müssen sich fassungslose Eltern immer wieder anhören, sie seien unfähig ihre verhaltensauffälligen Kinder zu erziehen. So ist es auch der Lehrerin und Mutter einer Adoptivtochter und eines Pflegesohnes mit fetalen Alkoholschäden Anne-Meike Südmeyer ergangen. Nach reichlich negativen Erfahrungen wuchs in ihr der Wunsch mitzuhelfen, die Schullandschaft zu verändern. Sie machte eine Ausbildung zur FASD-Fachkraft. Seitdem hält sie Vorträge und gibt Workshops in Förderschulen und Schulen für Behinderte. Positiv FASD-Wissen zu vermitteln ist der Schlüssel: Wird Anne-Meike gebucht, seien die Lehrer:innen in aller Regel sehr interessiert an der Thematik. Zugute komme ihr als Referentin dabei, dass sie sowohl Lehrerin als auch Pflegemutter sei. In dieser Doppelrolle kann sie authentisch punkten. Wir haben sie dazu im Rahmen eines Interviews eingehender befragt.

Anne-Meike, welche Erfahrungen waren es, die Dich dazu bewogen haben, eine Ausbildung zur FASD-Fachberaterin zu machen?

Anne-Meike: Als unser Pflegesohn bei uns einzog, stellte ich schnell fest: Alles, was ich bisher über Pädagogik gelernt hatte, funktionierte bei ihm nicht. Als Mutter habe ich noch einmal neu angefangen mich damit auseinanderzusetzen, wie ich ihm durch mein erzieherisches Handeln helfen könnte. Dabei bin ich nicht der Auffassung, dass Kinder mit FASD gar nicht erziehbar sind – vielleicht in Teilbereichen, aber nicht grundsätzlich. Nach meinen Erfahrungen braucht es oft deutlich mehr „Umdrehungen“, bis es zu einer Veränderung kommen kann. Von entscheidender Bedeutung ist ein wohlwollendes und der Behinderung entsprechend förderliches Umfeld.

Mein Mann und ich sind von Anbeginn an sehr offen mit den Besonderheiten unseres Sohnes umgegangen. Leider sind wir in Institutionen wie Kindertagesstätte, Schule und Jugendhilfe oft nur so lange auf Verständnis gestoßen, bis nichts Schlimmeres passierte. Sobald unser Pflegesohn andere Menschen unkontrollierbar beschimpfte oder seine Impulsdurchbrüche sich auch in körperlichen Attacken ausdrückten, kam man mit der Geduld schnell ans Ende.

Eine besondere Krise erlebten wir mit der Einschulung. Das Jugendamt war vom ersten Schultag an bereit, für zehn Stunden in der Woche eine Schulbegleitung zu finanzieren. Die Schule lehnte dies ab, man wollte es erst einmal allein versuchen. Nach einem Vierteljahr forderten seine Lehrer*innen von jetzt auf sofort rund um die Uhr eine Integrationskraft. Immer wieder hieß es: „Reden Sie mit Ihrem Sohn, so kann es nicht weitergehen.“ Ich verstehe bis zum heutigen Tag nicht, weshalb drei verschiedene Sonderpädagog*innen plus Kinderarzt plus Schulärztin unseren Pflegesohn ausgiebig getestet haben, aber niemand auf die Idee kam, dass eine fetale Alkoholschädigung vorliegen könnte.

In dieser Zeit ist mein Wunsch entstanden, in meinem schulischen Umfeld dazu beizutragen, dass mehr Menschen über FASD Bescheid wissen. Deshalb habe ich Jahre später eine Ausbildung als FASD-Fachberaterin gemacht. Mit Hilfe dieser Ausbildung ist es mir möglich, Vorträge und Workshops anzubieten. Ich habe in der Ausbildung sehr viel gelernt und beeindruckende Menschen kennen gelernt. 


Untersuchungen in der USA zufolge gibt es in einer Gruppe von zwanzig Personen mindestens einen, der an fetalen Alkoholschäden leidet. Das bedeutet, dass in jeder oder jeder zweiten Klasse ein Schüler ist, der betroffen ist?

Anne-Meike: Ganz genau, das erzähle ich in meinen Moderationen auch. Auf der einen Seite kann man davon ausgehen, dass der Anteil in den noch verbliebenen Förderschulen vermutlich höher ist. Andererseits dürfen wir auch die Dunkelziffer der nicht Diagnostizieren nicht vergessen. Und die Kinder, die einigermaßen „sozial verträglich“ sind, finden wir auch in Grundschulen und weiterführenden Schulen. ADHS kennt jeder Lehrer und jede Lehrerin, über FASD ist noch viel zu wenig bekannt. 

Erfahrungsgemäß stößt man selbst bei Förderschullehrer*innen auf große Unwissenheit, was das Thema FASD angeht. Eltern von diesen Kindern wird deshalb selten geglaubt, was sie über ihre Kinder erzählen. Eher wird davon ausgegangen, sie seien erziehungsinkompetent. Wie sind Deine Erfahrungen mit Lehrerkolleg*innen an der Schule Deines Sohnes? 

Anne-Meike: Meine Erfahrungen sind ganz unterschiedlich. Dass wir erziehungsinkompetent seien, hat man uns anfangs auch unterschwellig unterstellt. Deshalb war ich so froh, als wir die Diagnose hatten!

Förderschullehrer*Innen beanspruchen gerne für sich, sich mit FASD auszukennen. Da hört man dann schon einmal Sätze wie „Ich hatte bisher in jeder Klasse mindestens ein Kind mit FASD“. Die Kenntnis darüber, dass es FASD gibt, führt jedoch nicht automatisch dazu, dass sich ein adäquates Handlungswissen ausbildet. Da sind mir Menschen lieber, die ehrlich bekennen, überhaupt keine Ahnung von FASD zu haben, mir dann aber voller Interesse zuhören und ihr eigenes Handeln überdenken. Sicherlich dürfen wir auch nicht vergessen, wie herausfordernd das Verhalten eines Menschen mit FASD sein kann. Als Mutter merke ich selbst, dass auch ich nach all den Jahren noch in die „FASD-Falle“ tappe.

Es braucht viel, um diesen Menschen in der Schule gerecht zu werden: kleine Lerngruppen, ein vertrauensvolles Miteinander im Kollegium, eine gute Zusammenarbeit mit Eltern, eine Fehlerkultur, die Bereitschaft sich selber in Frage zu stellen, ein gutes Krisenmanagement, Kraftquellen im Alltag, vielleicht Supervision, Humor, Gelassenheit, Phantasie und auf jeden Fall das Verlassen eingefahrener, angeblich „bewährter“ Pfade, ganz im Sinne von: „Der Kopf ist rund, damit das (pädagogische) Denken die Richtung wechseln kann.“ (Francis Picabia). Was auf keinen Fall hilft ist die Annahme, dass gelernte Maßnahmen zur Verhaltensregulierung  auch bei diesen Kindern helfen. Auch Ordnungsmaßnahmen erhöhen oft nur den Druck auf das ohnehin schon sehr belastende Familiensystem. 


Wie ist der Umgang mit Dir diesbezüglich an Deiner Schule? 

Anne-Meike: Ich habe im Sommer die Schule gewechselt. An meiner neuen Schule wissen noch gar nicht alle Kolleg*innen im Detail über unsere Kinder Bescheid. Die Kollegin, mit der ich am engsten zusammenarbeite, äußert sich mir gegenüber sehr wertschätzend. Neulich meinte sie, in der Zusammenarbeit mit mir würde sie spüren, dass ich in manchen Situationen aufgrund der Erfahrungen mit meinen nicht so ganz einfachen Kindern anders handeln würde. Davon hätte sie schon sehr profitiert. Ich freue mich, wenn ich dazu beitragen kann, Kindern mit einem anderen Verständnis zu begegnen. 

Wo siehst Du die größten Problemfelder im Umgang mit Schulkindern, die FASD haben?

Anne-Meike: Das größte Problemfeld sind für mich die Impulsdurchbrüche, unter denen viele Kinder mit FASD leiden. Es erfordert ein besonderes Standing, wüste Beschimpfungen nicht persönlich zu nehmen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Schule kein entspanntes Arbeitsfeld ist. Im Unterricht bin ich als Lehrerin in der Regel hoch konzentriert; diverse unerwartete Reize prallen gleichzeitig auf mich ein. In allgemeinbildenden Schulen stehe ich oft noch allein in einer Klasse. Das Kind beschimpft ja nicht nur mich, sondern auch seine Mitschüler*innen, die es zu schützen gilt. Nicht jede Integrationskraft ist in der Lage mit einem „hochexplosiven“ Kind umzugehen. Unser Pflegesohn hat manchmal in der Schule in Stresssituationen die Selbstkontrolle verloren. Mir hat es sehr weh getan, dass es den Pädagog*innen nicht gelungen ist, deeskalierend auf ihn einzuwirken. Statt beruhigend vorzugehen, haben sie manchmal seinen Wutanfall provoziert.

Es gehört sicherlich zur Königsdisziplin der Pädagogik, auf herausforderndes Verhalten nicht sogleich mit Konsequenzen zu reagieren, sondern unaufgeregt und geduldig dafür zu sorgen, dass der Betroffene wieder zur Eigensteuerung zurückfindet. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass wir uns in der Schule verstärkt mit diesem Thema auseinandersetzen und entsprechende Kompetenzen erwerben müssen. Gewalt geht nicht nur von Schüler*innen aus, sondern auch Lehrer*innen verhalten sich zuweilen übergriffig. 

Natürlich gibt es auch die anderen Schulkinder mit FASD, die sich den Vormittag über extrem zusammenreißen. Sie schaffen es mit letzter Kraft in das Auto der abholenden Pflegemutter. Dort entlädt sich dann ihre Wut. Lehrer*innen fällt es manchmal nicht leicht, sich das vorzustellen. Anerkennende Worte sind hier gegenüber den Pflegeeltern auf jeden Fall wichtig. Viele Pflegeeltern berichten davon, wie viel Konfliktpotential das tägliche Anfertigen der Hausaufgaben bedeutet. Ich wünsche mir, dass Lehrer*innen offener werden für alternative Lösungen. Hausaufgaben sind nicht der Nabel der Welt.

Vielen Kindern mit FASD tut eine gleichbleibende, enge Struktur sehr gut. Veränderungen können nur behutsam ertragen werden. Dieses enge Gerüst schränkt andere Kinder in ihrem explorativen und entdeckendem Lernverhalten ein. Sie genießen offenere Lernsituationen. Hier gilt es, einen guten Mittelweg zu finden. Ich wünsche mir, dass wir Schule ganz neu denken und endlich von einer Defizitorientierung hin zu einer Stärkenorientierung kommen. Ohne unser tradiertes Leistungssystem, mit kleineren Lerngruppen und mehr Personal könnten wir endlich dem Anspruch nach individueller Förderung gerecht werden. So lange viele Kinder mit FASD auf Förderschulen besser aufgehoben sind, haben wir den Anspruch auf Inklusion nicht annähernd erfüllt. 

Wann ist welche Schulform für FASD-Kinder geeignet?

Anne-Meike: Darauf gibt es keine generelle Antwort, so unterschiedlich sind die Begabungen und Besonderheiten bei Kindern mit FASD ausgeprägt. Es gilt für jedes Kind individuell zu gucken. Allgemein lässt sich wohl sagen: Je kleiner die Lerngruppe, desto besser. Überforderung tut auf keinen Fall gut. Aber gilt das nicht im Grunde genommen für jedes Kind? Allerdings könnten Kinder mit einer Hirnschädigung wie FASD schwierige Lernbedingungen wie Lautstärke, Reizüberflutung, häufige Lehrerwechsel etc. deutlich weniger gut kompensieren. Sehr viel hängt mit Sicherheit von der Persönlichkeit der Lehrer:innen ab, die das Kind unterrichten. Begegnen sie dem Kind mit Verständnis und Wertschätzung, ist das die halbe Miete. Leider ist das nicht selbstverständlich.

In welcher Form können die meisten FASD-Kinder grundsätzlich unterstützt werden?

Anne-Meike: Ich glaube, dass sich das so grundsätzlich nicht sagen lässt, denn es gibt solche und solche Kinder mit FASD. Wenn wir aufhören würden, den Kindern bösen Willen oder Absicht zu unterstellen, wenn sie sich nicht an vorgegebene Regeln halten, und begreifen würden, dass sie oft nicht anders können, wäre schon viel gewonnen.

Welchen persönlichen Rat gibst Du Deinen Lehrerkolleg*innen im Umgang mit FASD-Kindern?

Anne-Meike: Einen besonderen Rat gibt es nicht. Ich versuche aufzuzeigen, wie diese Kinder ticken, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Ausprägungen ganz unterschiedlich sein können. Nach meinen Erfahrungen sind die Betroffenen selbst die besten Experten für sich. Deshalb sollten wir nicht nur über sie sprechen, sondern sie aktiv in unsere Überlegungen mit einbeziehen. Ich selbst habe viel von unserem Pflegesohn im Umgang mit ihm lernen können und dies in meinem Buch ‚Schulkinder mit FASD‘* zum Ausdruck gebracht. 

Darüber hinaus kann ich nur empfehlen, sich frühzeitig Hilfe zu holen. Für einen Lehrer:in allein kann es nur sehr schwer möglich sein, die besonderen Herausforderungen zu bewältigen, die Kinder mit FASD mit sich bringen können. Mein Rat: Tauscht euch im Team aus, holt euch Hilfe durch Experten, seid offen für die Ideen der Eltern! 

Was sollten Lehrer*innen im Umgang mit den Eltern vermeiden?

Anne-Meike: Besserwisserei!!! Eine Lehrerin oder ein Lehrer muss nicht alles wissen; Pflege- und Adoptiveltern bringen oft einen großen Schatz an Expertenwissen mit. Sie freuen sich, wenn Lehrer*innen ihnen zuhören! Auch Moralisieren und Vorwürfe sollten Lehrer*innen vermeiden. Die Mutter eines Kindes mit FASD ist zunächst einmal eine Mutter. Und welche Mutter möchte nicht nur Gutes über ihr Kind hören? Pflege- und Adoptiveltern leisten oft täglich Schwerstarbeit. Es darf nicht sein, dass sie sich in Elterngesprächen wie auf der Anklagebank fühlen. 

Außerdem finde ich es wichtig, als Lehrerin auch eigene Fehler einzugestehen. Niemand kann mit solch einem Kind alles richtig machen. Das wissen die Eltern nur zu gut aus jahrelanger Erfahrung: Wenn es Eltern und Lehrer*innen gelänge, vertrauensvoll, den anderen achtend, humorvoll, kreativ und sich gegenseitig ermutigend zusammenzuarbeiten, wenn jeder dem anderen zugesteht, auch einmal an seine Grenzen zu kommen, und das offen kommunizieren darf, wenn keiner meint, die einzig richtige FASD-Weisheit zu kennen, dann kann eine Erziehungspartnerschaft entstehen, unter der auch ein Kind mit FASD wachsen und gedeihen kann.

*”Schulkinder mit FASD”, Anne-Meike Südmeyer, Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein 2021

Das Interview führte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Happy Baby-Kampagne

Viele Ärzte und Hebammen empfehlen immer noch Wehencocktail mit Alkohol

Immer wieder berichten uns verunsicherte Schwangere, dass ihnen von medizinischem Fachpersonal ein Wehencoktail mit Alkohol angetragen worden ist. Manche lehnen das ab, weil sie wissen, dass Alkohol immer schädigend für das Kind sein kann. Viele vertrauen ihrem Arzt, der Hebamme, dass sie wissen, was sie tun und trinken brav.

Nicht nur unsere Happy Baby-Botschafterin, Ergotherapeutin und Stillberaterin Bärbel alias @stillenentdecken reagiert darauf mit Entsetzen: „Ist es zu fassen? 2022 und sie empfehlen es noch!?“

Es umtrieb sie herauszufinden, in welchen Ausmaßen das stattfindet. Sie startete eine Umfrage: Hattest Du einen Wehencocktail mit Alkohol empfohlen bekommen? Wann?

Hier ein paar Antworten:

Habe keinen bekommen, aber wenn nötig, hätten sie einen mit Wodka! gegeben😡 August ’22

Wurde von Hebammen empfohlen und von Gynäkologin bestätigt, Februar ’22

2021, mit Sekt, noch als Hausmittel zur Einleitung auf dem Handzettel der Hebammen im Kreissaal

Hab keinen bekommen, aber Hebamme 09/22 hat ihn noch empfohlen

Ich hab meinen Wehen-Cocktail 31.07.2017 bekommen. Ein Piccolo Sekt war drin.

Juni 2021 im babyfreundlichen Krankenhaus nach Blasensprung ohne Wehen

April ’21, sollte 13 Tage nach Einleitung Sekt trinken, (Hebamme sagte das), ich habe mich geweigert

Die prozentuale Auswertung aller Antworten :

+ Ja, habe abgelehnt  – 7%

+ Ja, habe ihn auch getrunken   – 4%

+ Nein, wurde nicht empfohlen. – 83%

+ Bin noch vor der Geburt/nicht schwanger  – 6%

Die Auswertung brachte außerdem die Erkenntnis: 60 Frauen wurde Alkohol zur Geburtseinleitung angeboten, 37 haben ihn getrunken. 

Bärbel: “Das ist verstörend zu viel.”

Wozu soll der Alkohol im Wehencocktail eigentlich nötig sein?

Das hat uns unsere Happy Baby-Botschafterin Christine, die @hebammewaldshut anschaulich erklärt:

“Schaut man auf die Wirkungsweise des Wehencocktails, ist das darin enthaltene Rizinusöl der Hauptbestandteil. Es regt den Darm an und fördert die Peristaltik, also die Darmtätigkeit. Diese Darmtätigkeit wiederum wirkt wehenanregend, da sie die Muskulatur der Gebärmutter aktiviert.

Dafür ist der Alkohol nicht notwendig. Er dient allerdings als Emulgator. Was ist ein Emulgator? Es ist ein Hilfsstoff, zwei nicht miteinander vermischbare Flüssigkeiten – beim Wehencocktail das Rizinusöl und der Fruchtsaft – doch mischen zu können.

Jeder, der schon einmal zu Hause ein Salatdressing gemacht hat, wird sich jetzt denken: Aber Moment mal … Flüssigkeit mit Öl mischen .. . ohne Alkohol …. geht das nicht auch…? Genau: mit einem Mixer. 

Mixt man Öl mit Flüssigkeit, entsteht eine Öl-in-Wasser-Emulsion. Und das ganz ohne Alkohol als Hilfsmittel. Exakt das Gleiche funktioniert so auch bei dem Wehencocktail.”

Mehr dazu auch im Blogbeitrag: https://www.happy-baby-no-alcohol.de/2020/09/16/alkohol-hat-im-wehencocktail-nichts-verloren/

Ich habe mich über die Mitarbeiter geärgert, nicht über die Bewohner

Problematisch ist nicht nur die Tatsache, dass es generell in Deutschland viel zu wenige Wohnheime für Menschen mit Beeinträchtigungen gibt. Ebenso problematisch ist es, dass Sozialpädagogen nicht generell auch auf FASD geschult sind. Landauf landab wird von FASD-Experten beklagt, dass es nicht zur Regel gehört, dass in den Ausbildungen der sozialen Berufe das Fetale Alkoholsyndrom zum Lehrstoff zählt. Und so gestaltet sich die Betreuung und Unterstützung nur allzu oft mehr als schwierig. Jordis Kreuz aus Schleswig-Holstein hat in drei verschiedenen Wohngruppen gearbeitet, in denen junge Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen ebenso lebten wie Menschen mit fetalen Alkoholschäden.

Ein Interview mit der Dreifachmutter, Rettungssanitäterin, Feuerwehrfrau, Erste-Hilfe-Ausbilderin und Expertin für Krisenintervention über ihren sechsten Job, FASD in der Praxis:

Wie waren die Wohngruppen zusammengesetzt?

Jordis Kreuz: Es waren immer gemischte Gruppen, sowohl hinsichtlich des Alters, als auch hinsichtlich der Beeinträchtigungen. Es gab mehrfach Körperbehinderte wie auch Menschen mit FASD. Das war schwierig, weil die Bewohner mit FASD aus ihrer Sicht total eigenständig sind und im Grunde so ziemlich alles machen können. Die Körperbehinderten eben nicht.

Die Konstellationen waren nicht immer schlau gewählt. Man muss sich echt Zeit nehmen, so eine Gruppe x zu setzen. Es müssen auch die, die kein FASD haben, mit bestimmten Sanktionen und notwendigen Maßnahmen leben können. Ich kann beispielsweise nicht jemand zumuten, der jederzeit die Freiheit braucht, an den Kühlschrank zu können, dass die Küche abgeschlossen ist. Oder nicht an den Fernseher zu können, wenn man es möchte, weil der Raum abgesperrt ist. Bei den Menschen mit FASD ist es superwichtig, genau zu schauen, welche Ausprägungen sie haben – was kann zusammen passen. Das kann eine unheimliche Bereicherung füreinander bedeuten. Wenn du zum Beispiel jemand hast, der sehr unter Impulskontrollverlust leidet und jemand, der eher ruhig veranlagt ist, können die super aufeinander einwirken. Wie oft habe ich gedacht, wow, wie die aufeinander eingehen. Das ist super!

Welche Strukturen habt ihr geschaffen, um ein gemeinschaftliches Leben möglich zu machen, ohne dass sie sich untereinander bzw. gegenseitig beeinträchtigen?

Jordis Kreuz: Wichtig ist: Auf alle muss individuell eingegangen werden. Wir haben die Tagesstruktur so gestaltet, wie jeder es brauchte. Der eine braucht morgens zum Aufstehen fünf Mal Tür klopfen und beim sechsten Mal Tür auf und Licht anmachen. Der andere braucht es immer auf den letzten Drücker, Zähne putzen und los. Der Nächste braucht morgens seine Ruhe und ein Frühstück. Medikamentenabgabe gab es unten beim Frühstück, manchmal aber auch mit der Schatulle und dem Glas Wasser an der Tür. Medikamenteneinnahme in Eigenverantwortung war eher selten.

Haben diesen Umgang alle Pädagogen mitgetragen?

Jordis Kreuz: Ich habe es leider oft erlebt, dass es hieß, das ist eine Erkrankung und die ist so! Ich würde mir wünschen, dass mehr Unterteilungen gemacht werden. Es darf nicht in Schubladen gedacht werden. Die Menschen müssen aufhören zu denken, es gibt zwei Typen von FASD – einmal ruhig und einmal aggressiv. Nein, es muss auf jeden Einzelnen zugegangen werden, um zu schauen, wie und was er braucht, um mit ihm sein Langzeitziel zu erarbeiten. Bedeutet im Klartext: Du kommst hier an, was bringst du mit an Paket, was kennst du schon an Tagesstruktur, was davon klappt, was optimieren wir hier davon. Dabei muss man stetig gucken, ob es läuft, und man muss stetig optimieren. Man darf niemals sagen: Du musst dich jetzt mal ändern. Nein, es muss heißen: Wir ändern die Struktur.

Die übliche pädagogische Leitlinie ist aber eher so, dass ein Entwicklungsfortschritt formuliert wird, der im Rahmen des Hilfeplanes als Ziel festgelegt wird.


Jordis Kreuz: Pädagogisch ist den Bewohnern sehr viel abverlangt worden, was die gar nicht bringen konnten. Ich bin immer hingegangen und habe geschaut, was können wir machen. Ich habe immer erst einmal die Stimmung angefragt, mir einen Eindruck verschafft, wie sind die drauf. Ich habe da kein pädagogisches Pflichtprogramm absolviert. Man darf für die Arbeit mit FASD-Betroffenen keine Erwartungshaltung haben. Das ist der Schlüssel, den du für diese Arbeit brauchst. Selbst wenn du etwas mit einem Bewohner abgesprochen hast, darfst du nicht erwarten, dass er das umsetzen konnte. Er hat bestimmt daran gedacht, bestimmt auch zweimal daran gedacht, und er hatte bestimmt vor, es zu machen. Aber mal klappt das und mal eben nicht. Und wenn das geklappt hat, dann feiern wir das. Die schämen sich ja selber so sehr, wenn es nicht geklappt hat. Wenn du eine Erwartungshaltung hast, dann ist eine Enttäuschung programmiert. Du kannst doch eigentlich eine Erwartung nur dann zugrunde legen, wenn du weißt, dass der andere imstande ist, sie zu erfüllen.

Teilten alle Betreuer Deine Einstellung?

Jordis Kreuz: Nein. Genau das war für mich das Problem: ihre Einstellung. Es war oft so, dass ich nach Hause gegangen bin und mich über die Mitarbeiter geärgert habe, aber nicht über die Bewohner. Es ist unangenehm zu beobachten, wenn Kollegen da ihre Machtkämpfe ausüben: Du kriegst deine Zigaretten nicht, weil dein Zimmer nicht aufgeräumt ist. Meine Einstellung ist: Wenn jemand nicht in der Lage ist, sein Zimmer alleine aufzuräumen, dann muss ich ihm dabei helfen. Es ist doch genauso, als würdest du jemandem, der nicht lesen kann, sagen, guck‘ in die Zeitung, was heute Abend im Fernsehen kommt. Dieses Prinzip funktioniert nicht! In dem Zusammenhang kann ich nur sagen: Wertschätzung ist eigentlich das, was sich jeder aus dem Ärmel schütteln kann.

Was glaubst Du, woran es bei der Sichtweise der Kollegen krankt?

Jordis Kreuz: Weil die Pädagogen das Geschehen, die Wutausbrüche, das Schweigen, das destruktive Verhalten persönlich nehmen. Wieso tun sie das? Der Mensch mit FASD ist gar nicht in der Lage abzuschätzen, was er dir da verbal an den Kopf knallt und ob er dich damit verletzt. Ich habe die Einstellung: Das hier ist dein Job, es auszuhalten mit ihnen. Hintergrund von Impulsdurchbrüchen ist doch, dass an irgendeinem Tag irgendetwas passiert ist, was sich aufgestaut hat, dann kommt etwas, dass das Fass zum Überlaufen bringt. Und dann verlieren die komplett ihre Kontrolle.

Da kann ich doch nicht persönlich beleidigt sein von wegen, mit dir rede ich jetzt nichts mehr. Man kann doch ganz klar sagen, so und in dem Ton redest du nicht mit mir. Aber das darf doch nicht auf der persönlichen Ebene geschehen. Manchmal habe ich wirklich da gestanden und gedacht, jetzt weiß ich gerade nicht, wer Bewohner ist und wer Mitarbeiter.

Und noch etwas war ein großer Konfliktpunkt mit meinen Kollegen: Menschen mit FASD denken auch logisch, nur anders logisch. Die haben zuweilen eine sehr abstrakte Logik, aber auf jeden Fall für sich eine Logik. Und wenn die durcheinandergebracht wird, dann ist es schwierig. Verständnis haben ist das A und O. Ohne Verständnis für den Film, der bei ihnen im Kopf abläuft, geht es nicht.

Wie habt ihr in der Wohngruppe den Spagat zwischen Selbstständigkeit und Kontrolle der Bewohner geschafft?


Jordis Kreuz: Wenn es gut erarbeitete Strukturen für die Bewohner waren, war das nicht problematisch. Die Bewohner, die ich hatte, die waren echt cool in der Absprache. Das hat es mir ermöglicht, dass ich relativ gut einschätzen konnte, wo ich lange Leine lassen konnte, weil ich wusste, das kriegen die top hin, und wo muss ich wirklich Gewehr bei Fuß stehen und da sein, sobald die sich angucken.

Das setzt voraus, dass du als Betreuer immer zu 100 Prozent konzentriert bist. Es geht nicht, zum Beispiel nebenher noch zu telefonieren. Du musst immer auf der Hut sein, was sie machen, und was man selbst macht auch. Denn wenn bei der Übergabe an die Kollegen Fehler passieren, nutzen die Bewohner das nur allzu gerne aus. Das wird dann den Bewohnern angelastet. Ich sage: Dass die das ausnutzen, liegt an den Mitarbeitern, nicht an den Bewohnern.

Viele Menschen mit FASD haben Impulsdurchbrüche. Wie sind deine Erfahrungen während deiner Arbeit in den Wohngruppen? Wie wurde damit umgegangen?


Jordis Kreuz: Das Schlimme ist: Die Pädagogen interpretieren überall etwas rein und diskutieren das tot. Das macht die Betroffenen eher noch mehr aggro. Ich nenne mal ein Beispiel: Wir hatten einen Bewohner, der zum Randalieren neigte. Und wenn der dann seine Ausbrüche hatte, habe ich ihn einfach machen lassen. Dann ist er in sein Zimmer – Tür abgeschlossen, Musik voll aufgedreht, wieder aus, Gitarre rausgeholt, bäng, wieder weggelegt usw. Nach einer Weile kam er dann an und fragte: ,Können wir reden?‘ Wichtig ist, dass sie wissen, dass immer die Türe für sie offen steht.

Was haben die Pädagogen gemacht? Die stellten sich vor seine Zimmertür und sagten, nun komm doch und versuch’s doch mal, das wird schon wieder. Das hat ihn nur noch mehr aufgebracht. Bis er zum Fenster raus ist. Und die standen immer noch vor der Tür und haben palavert. Eine halbe Stunde später kam er wieder vorne zum Haus rein, denn er hatte sich ja schon längst wieder beruhigt. Das ist eigentlich zum Lachen. Aber es fehlt auch an Humor bei den Pädagogen.

Was hat Dir bei Deiner Arbeit in den Wohngruppen gefehlt?

Jordis Kreuz: Es müsste mehr Fortbildung weltweit über Videocall möglich sein. Wenn man beispielsweise mit einem Klienten schon sieben Möglichkeiten durch hat, wie er es pünktlich aus dem Haus zur Arbeit schaffen könnte, es aber immer noch nicht läuft, müsste man die Möglichkeit haben, einen Videocall zu machen, um neue Lösungen zu generieren. Stattdessen gibt es einmal im Jahr eine allgemeine Fortbildung.

Quelle: “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein

FDP-MdB Kristina Lütke: Wir alle sind verantwortlich!

Die bundesweite Aktionswoche Alkohol, initiiert von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, nehmen wir von Happy Baby No Alcohol und die Bundestagsabgeordnete der FDP, Kristina Lütke, zum Anlass, den Fokus auch auf das Thema “Alkohol in der Schwangerschaft und fetale Alkoholschäden” zu richten. Im Schulterschluss mit der Journalistin und Autorin des Buches “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, prangert die Sprecherin der FDP für Sucht- und Drogenpolitik an, dass Aufklärungsarbeit, und damit die Eindämmung von FASD, bislang verschlafen worden sind. Kristina Lütke erkennt in ihrem heutigen Blogbeitrag zum Auftakt der “Aktionswoche Alkohol” die Vorreiterrolle Norwegens, die Dagmar Elsen in ihrem Buch beschreibt, und fordert Präventionsarbeit nach norwegischem Vorbild:

In Deutschland wird jede Stunde mindestens ein Kind mit Schäden geboren, die auf Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen sind. Die Schäden reichen dabei von Fehlbildungen über Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu körperlichen und geistigen Behinderungen – zusammengefasst als FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder). Doch FASD ist vermeidbar – die Verantwortung dafür liegt bei jedem und jeder Einzelnen von uns und darf nicht auf die Schwangeren abgeschoben werden.

Schwangere Frauen sollten keinen Alkohol konsumieren – vollkommen klar, oder? Nein, leider nicht! Die Gefahr wird oftmals unterschätzt. Bislang wissen 44 Prozent der Menschen in Deutschland nicht, dass Alkohol in der Schwangerschaft zu schweren Schäden bei ungeborenen Kindern führen kann. Etwa jede fünfte Schwangere konsumiert Alkohol in moderaten Mengen. Diese alarmierenden Zahlen gehen aus dem Drogen- und Suchtbericht aus dem Jahr 2018 mit Schwerpunktthema Alkohol hervor. Dabei ist längst wissenschaftlich belegt: Schon geringe Alkoholmengen können schwere Schäden an ungeborenen Kindern hervorrufen – es reicht schon das eine Gläschen zum Anstoßen. Und genau hier müssen wir ansetzen: Mit breit angelegten Präventions- und Aufklärungskampagnen wollen wir ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein schaffen und FASD eindämmen, weil klar ist auch: Trinkt man in der Zeit der Schwangerschaft keinen Alkohol, ist eine solche Behinderung zu hundert Prozent vermeidbar.

Prävention nach norwegischem Vorbild

Norwegen hat bei der Bekämpfung von FASD eine Vorreiterrolle übernommen. In einer beispiellosen Aufklärungskampagne wurden sämtliche Medien genutzt: Flugblätter, Plakate, Kurzfilme für Kino und Fernsehen, Anzeigen in Zeitungen, Zeitschriften und bei Google, man inspirierte Journalisten, Artikel zu platzieren und Experten, entsprechende wissenschaftliche Texte zu veröffentlichen. Im Anschluss an die Kampagne kamen Umfragen in der norwegischen Bevölkerung zum Ergebnis: Das Bewusstsein über die Gefahren von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist gestiegen.

Auch Fortbildungen und Schulungen zu FASD wurden in Norwegen intensiviert und gehörten fortan zum Standard für alle, die in den relevanten Berufen tätig sind, also Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter, Lehrer und viele mehr. Spezielle Diagnostikkurse hatten das Ziel, ausreichend Ärztinnen und Ärzte fortzubilden, die dann in der Lage sind, FASD zu erkennen.

All das wurde in Deutschland viel zu lange verschlafen – aufgrund von Versäumnissen der Vorgängerregierung. Denn trotz der erschreckenden Zahlen aus den Sucht- und Drogenberichten der vergangenen Jahre wurde von Seiten der letzten Bundesregierung kaum etwas gegen FASD unternommen.

Gesellschaft sensibilisieren & Mütter entstigmatisieren

1,6 Millionen Menschen sind deutschlandweit von fetalen Alkoholschäden betroffen – so die Berechnungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher ausfallen. FASD ist also kein Randphänomen unserer Gesellschaft. Umso notwendiger ist es, Bürgerinnen und Bürger zu sensibilisieren. Zum einen brauchen wir dafür Präventionsangebote für werdende Mütter, um diese gezielt innerhalb der Schwangerschaft zu erreichen. Zum anderen muss auch die breite Mitte der Gesellschaft mit Aufklärungskampagnen über die Gefahren des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft informiert werden. So kann ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein geschaffen und FASD gezielt bekämpft werden.

Dabei geht es auch darum, in den Köpfen verankerte Falschinformationen faktenbasiert zu widerlegen. Denn es ist schlicht die Unwissenheit von jedem und jeder Einzelnen von uns, die dann zu Alkoholkonsum während der Schwangerschaft führen kann. Häufig hört man verharmlosende Sätze wie: „Ein Gläschen zum Anstoßen? Das schadet doch nicht!“ – selbst einige Hebammen und Gynäkologen behaupten beispielsweise auch heutzutage noch, dass ein Glas Rotwein in der Badewanne wehen fördernd sei – was schlicht falsch und höchst gefährlich für ungeborene Kinder ist.

Es ist ein Leichtes, die Schuld für Alkoholkonsum in der Schwangerschaft alleine auf die werdenden Mütter abzuschieben. Das ist aber nicht nur realitätsfern, sondern auch zynisch. Denn solange kein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein geschaffen wurde und selbst unter Geburtsexperten noch viele Falschinformationen über FASD kursieren, sind wir alle verantwortlich – solange bis endlich jedem und jeder die Risiken von Alkohol in der Schwangerschaft bekannt sind. Dann wird es auch viel öfter heißen: Ein Gläschen zum Anstoßen? Lassen wir lieber sein!

Quelle: Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr, Dagmar Elsen, Schultz-Kirchner-Verlag

FASD – Sind die Mütter der Ursprung aller Probleme?

Gerne wird in unserer Gesellschaft der Mutter allein die Schuld zugeschoben, wenn sie Alkohol in der Schwangerschaft getrunken hat und ein Kind mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt bringt. Fragt sich: Trägt sie wirklich ganz allein die Schuld? Kann man überhaupt von Schuld sprechen? Steht nicht jeder einzelne in unserer Gesellschaft in der Pflicht, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und unterstützend zur Seite zu stehen, wenn eine Mutter betroffen ist? Ist es nicht eher notwendig, eben diesen Müttern Mut zu machen zuzugestehen in der Schwangerschaft Alkohol getrunken zu haben. Die Gründe dafür sind bekanntlich vielfältiger Art. Nevim Krüger, Vorsitzende von Pfad Niedersachsen e.V., Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien in Niedersachsen ist in einem Gastbeitrag für die Kampagne Happy Baby No Alcohol diesen Fragen nachgegangen:

Um es gleich vorwegzunehmen: NEIN, die Mütter sind nicht der Ursprung aller Probleme in Bezug auf FASD! Sie sind aus der natürlichen Begebenheit heraus die Verursacher und diese Last kann ihnen erst einmal niemand nehmen.

Erfreulicherweise rückt das Thema FASD immer weiter in den Fokus der Öffentlichkeit. Damit einhergehend bleibt es nicht aus, dass die Entstehung dieser Behinderung ebenfalls detailliert erklärt wird. Nämlich, dass FASD durch den vorgeburtlichen Konsum von Alkohol entsteht und das ungeborene Kind schwer schädigen kann.

Alkohol ist die Volksdroge Nummer 1. Zu allen Gelegenheiten präsent und immer zu haben. In unserer Kultur stößt es eher auf Verwunderung nicht zu trinken, als dass bereits zum Frühstück mit Sekt angestoßen wird. In der Werbung vermittelt Alkohol Geselligkeit, Freiheit, Entspannung und Genuss. Wer kennt sie nicht, die Empfehlung von Ärzt*innen, dass ein Sekt den Kreislauf ankurbelt und Rotwein so gesund ist, ja sogar beim Abnehmen helfen soll.

In Deutschland geben 26 von 100 Frauen an, gelegentlich Alkohol in der Schwangerschaft zu trinken (The Lancet Global Health). Während der ersten 14 Tage der Schwangerschaft soll das Alles-oder-Nichts-Prinzip gelten, sprich wird eine Eizelle in der Frühschwangerschaft geschädigt, teilt sie sich nicht weiter und nistet sich auch nicht ein. In den meisten Fällen wird eine Schwangerschaft jedoch erst später festgestellt und wenn dann Alkohol konsumiert wird, kann er eben das entstehende Kind bereits schädigen; je nach Menge, Veranlagung und allgemeiner Verfassung der Mutter. Es kann also jede Frau treffen, die nicht kategorisch auf Alkohol verzichtet im gebärfähigen Alter. Dann gibt es Frauen, die sind tatsächlich alkoholabhängig und können gar nicht ohne Hilfe frei entscheiden, ob sie aufhören zu trinken oder nicht. Für den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft gibt es viele Gründe und wenn es richtig ungünstig läuft, reicht ein Glas zur falschen Zeit. Sicher ist, dass Alkohol trinkende Schwangere keineswegs ein Unterschichtenphänomen darstellen.

Nun kommen einige Kinder mit vorgeburtlichen Schäden auf die Welt und die allermeisten Familien bringen die Entwicklungsverzögerungen, Impuls- und Regulationsstörungen, vielleicht sogar die fazialen Auffälligkeiten, Distanzlosigkeit, die geringe Gefahreneinschätzung und Frustrationstoleranz, die Gedeih- und Essstörungen uvm. überhaupt nicht mit dem Alkohol während der Schwangerschaft in den Zusammenhang. Ein großer Teil der Frauen geht davon aus, dass es ausreichend war, nach Kenntnis über die Schwangerschaft, auf Alkohol verzichtet zu haben. Gott sei Dank ist das in vielen Fällen auch so; leider nicht immer.

Die FASD ist mittlerweile mit ihren vielen Facetten bei immer mehr Pädiator*innen, Kinderpsycholog*innen und Ärzt*innen angekommen und die Frage: „Haben Sie während der Schwangerschaft getrunken?“ wird immer öfter gestellt. Wie muss sich eine Mutter fühlen? Schuldig, hilflos, ausgeliefert, beschämt? Es erfordert schon eine gewisse Stärke, Mut und natürlich Liebe, hier wahrheitsgemäß zu antworten. Die Wahrheit ist ein großer Baustein für eine fundierte Diagnose. Und eine Diagnose ist die größte Chance, die ein Kind mit FASD erhalten kann. Nur die korrekte Diagnose öffnet das Tor für die richtigen Therapien (oder eben auch nicht!) sowie den schützenden, fördernden Umgang mit der Behinderung. Ein großer Teil der Kinder mit FASD lebt in Pflege- oder Adoptivfamilien. Diesen Familien fällt der Schritt zur Diagnose deutlich leichter. Sie müssen nichts eingestehen und haben somit auch keine „Schuld“ auf sich geladen. Des Weiteren erhalten Pflegefamilien grundsätzlich bereits Hilfe durch Jugendämter bzw. Eingliederungshilfe.

Dieser Beitrag soll niemanden glorifizieren oder abwerten. Er soll dazu beitragen, die leiblichen Mütter aus der Schuld-und Scham-Schublade hin in die gemeinsame Verantwortung zu begleiten. Sie brauchen kein Getuschel hinterm Rücken, sie brauchen kein Mitleid, sie brauchen keine gerümpfte Nase und sie brauchen auch keine Lobdudelei. Sie brauchen vor allem Akzeptanz, Hilfen für ihre Kinder, Wertschätzung und die Unterstützung im Alltag, die den Kindern und ihnen ein gutes Leben ermöglicht. Sie brauchen die Chance auf Vernetzung, Gehör und eine Öffentlichkeit, die ermutigt. Den Kindern sollte schon früh Raum für ihre Verarbeitung von Wut und Verzweiflung über ihre Behinderung und die damit verbundenen Schwierigkeiten und Hürden im Leben gewährt werden. Auch hier sollten die Mütter jederzeit Unterstützung und Beistand erhalten.

Letztlich brauchen wir alle einen verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol in Bezug auf die ungeborenen und ungeschützten Kinder sowie die Akzeptanz, Teilhabe und bedingungslose Unterstützung von Menschen mit FASD!

Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr

Im Schulz-Kirchner-Verlag erscheint in Kürze das Buch “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr” der Journalistin Dagmar Elsen, die seinerzeit auch die Aufklärungskampagne Happy Baby No Alcohol initiiert hat. Wie es dazu kam und was sie angetrieben hat, sich für die Thematik zu engagieren, beschreibt sie in ihrem Vorwort. Eine ausführliche Leseprobe findet sich unter: https://www.skvshop.de/shop/images/files/editor/file/9783824813033_elsen_alkohol_fasd_1aufl2022_leseprobe.pdf

Vorwort

„Du bist doch Journalistin, schreib drüber, sonst gibt‘s immer mehr wie mich“, sagte Luca zu mir nach seiner Diagnose im FASD-Fachzentrum Walstedde. Das war just, nachdem der damals 14-Jährige realisiert hatte: Alkohol hat mein Hirn zerstört als ich ein Baby war im Bauch meiner Mutter. Als er außerdem erfuhr, dass unglaublich viele Menschen gar nicht wissen, dass Alkoholkonsum in der Schwangerschaft derart gefährlich ist. So viele, dass jede Stunde in Deutschland ein Kind mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommt. So viele, dass wir inzwischen über 1,6 Millionen Betroffene sprechen. Mindestens. Denn die Dunkelziffer ist hoch. Für Luca, der mit seinem wirklichen Namen nicht genannt werden möchte, war sofort klar: Wüssten die Menschen darüber Bescheid, dann würden doch alle alles tun, damit so etwas nicht weiter vorkommt. Trinkt man in der Zeit der Schwangerschaft keinen Alkohol, ist eine solche Behinderung zu hundert Prozent vermeidbar.

So weit, so simpel.

Ich musste nicht lange überlegen. Luca wurde zur Triebfeder einer sehr intensiven und langen Recherchereise, die mich Woche für Woche, Monat für Monat, immer fassungsloser machte. Zahlen, Daten, Fakten in Dimensionen, die deutlich machen: Das hier ist kein Randphänomen der Gesellschaft. Nein. Das Fetale Alkoholsyndrom ist mitten unter uns. Es betrifft alle – die Bankiersgattin ebenso wie die Frau an der Kasse im Supermarkt oder die unwissentlich Schwangere. Und es geht nicht nur die Mütter an, sondern jeden. Weil jeder wissen sollte, was der Alkohol im Mutterleib anrichtet. Damit niemand mehr auf die Idee kommt zu behaupten, ein Gläschen schadet nicht, der Mutterkuchen ist ein sicherer Schutzmantel. Nein, ist er nicht. Alkohol in der Schwangerschaft ist immer gefährlich – zu jeder Zeit und in jeder Menge!

Durch Luca, den ich aus meinem persönlichen Umfeld kenne und den ich habe aufwachsen sehen, waren mir die Probleme und Defizite von FASD-Betroffenen vertraut. Ich habe miterlebt, wie der hübsche, fröhliche Junge, dem man seine Behinderung nicht im Mindesten ansieht, erst schleichend, dann immer deutlicher begann zu straucheln. Schneller und schneller drehte sich das Rad, immer tiefer zog es ihn in der Pubertät in den Abgrund. Es war die Hölle. Die Hölle für ihn, für seine Familie. Kein Arzt wusste Rat. Keine Klinik stellte die richtige Diagnose. Alle meinten, na ja, das Drama wird der Adoption geschuldet sein. Dann ein Tipp, ein Zufall, über eine Bekannte, die der Adoptivmutter die Aufnahme in der Kinder- und Jugendklinik Walstedde empfahl.

Es hat mich mit Entsetzen erfüllt, dass weder ein Kinderarzt, noch ein Ergotherapeut, Psychologe, Psychiater, Lehrer, Erzieher, eben niemand auf die Idee gekom- men ist, der Junge könnte fetale Alkoholschäden haben. Das, obwohl Luca einer von tausenden typischen Fällen ist – körperlich unauffällig, mit durchschnittlichem Intelligenzquotienten, aber kognitiv stark de zitär, ebenso in den Exekutivfunktionen, orientierungslos, ohne Zeitgefühl, Mathe ist ihm ein Gräuel, seine unkontrollierten Wutanfälle legendär.

Warum nur ist dieses Syndrom so unbekannt, fragte ich mich. Ich forschte im Internet, las alles, was ich kriegen konnte. Ich interviewte auf dem Gebiet der fetalen Alkoholschäden renommierte – ja, es gibt sie, wenige, aber doch! – Ärzte, Psychologen, Therapeuten, FASD-Fachberater. Ich sprach mit Eltern, mit leiblichen, Pflege- und Adoptiveltern, sprach mit erwachsenen Betroffenen. Sie erzählten stets atemlos und aufgebracht. Allesamt waren es aufwühlende Geschichten, die das facettenreiche, fatale Ausmaß der von unserer Gesellschaft vertuschten Thematik offenbarte. Die schlimmste Geschichte von allen war die von Max. Sie bricht einem das Herz. Ein Kind von elf Jahren hält die Pein des Lebens nicht mehr aus und be- geht Selbstmord. Es ist der blanke Horror.

Schockiert hat mich bei meiner Recherche obendrein, wie sehr Ängste vorherrschten offen zu reden, sich selbst zu benennen und die Personen und Ämter, die maßgeblich an den vielschichtigen Missständen beteiligt sind, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. FASD, das gibt es hier nicht. Hokuspokus. Modediagnose. Lassen die Pflegeeltern nicht locker, zeigen auf, was mit ihren Kindern los ist, fordern Hilfe und Unterstützung ein, müssen sie darum fürchten, dass ihnen die Kinder wieder weggenommen werden. Eine bedrückende Tatsache. Bitte uns im Text anonymisieren, hieß es deshalb auch immer wieder. Ein weiterer Grund für den Wunsch nach Anonymität, der einmal mehr die Gesinnung unserer ach so integrativen Gesellschaft offenlegt: die Sorge, stigmatisiert und gesellschaftlich isoliert zu werden.

Drei Jahre liegen nun hinter mir, seit ich mich intensiv mit FASD auseinandergesetzt habe. Eine lange Zeit. Aber viel Zeit ist notwendig, um zu erfassen und zu verstehen. Nicht nur das Syndrom an sich ist so komplex in seinem Erscheinungsbild und seinen Auswirkungen. Es stellt das ganze Leben der Betroffenen und ihrer Familien und Freunde auf den Kopf. Wie sagt Luca immer so schön: „Ich bin kein normaler Behinderter.“ Was er damit meint, versteht man, wenn man all die Geschichten dieser besonderen Menschen gelesen hat.

Die Recherchen haben aber glücklicherweise nicht nur die dunklen Seiten des Syndroms offenbart. Immer mehr kämpferische Menschen stehen auf, trauen sich ihre Rechte zu benennen und einzufordern, erheben die Stimme und gehen an die Öffentlichkeit. Und wenn sie es geschafft haben, die Unterstützung zu erhalten, die ihnen zusteht, zeigt sich sofort, dass das Leben für Menschen mit fetalen Alkoholschäden einen ganz anderen, einen so positiven Verlauf nehmen kann. Es muss den Eltern, ihren Kindern, den erwachsenen Betroffenen lediglich die Chance darauf gewährt werden. Schließlich ist es eine Chance, die rechtlich verbrieft ist.

Ich danke von Herzen allen, die es mir möglich gemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Die Offenheit und das Vertrauen, das mir dafür geschenkt wurde, haben mich sehr berührt. Viele Tränen sind bei den Gesprächen genossen. Vor Kummer, vor Sorge, vor Wut und Angst, aber auch vor Freude und, das ist besonders schön, vor lauter Lachen. Denn Menschen mit fetalen Alkoholschäden sind grundsätzlich sehr humorvolle, ausgestattet mit einer ganz anderen Logik im Kopf, die zu den lustigsten Anekdoten führt. Sie sind von rührender Naivität und einer großen Herzenswärme. Sie leben im Hier und Jetzt. Und das macht sie beneidenswert unbekümmert.

Herzlich Dagmar Elsen

Der Rollstuhl der Seele und des Gewissens ist nun mal unsichtbar!

Der am 12. Dezember losgetretenen Petition, dass das Fetale Alkoholsyndrom dringend bundesweit anerkannt und in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersmedV) als solche gelistet werden muss, haben sich mehrere Verbände und Vereine angeschlossen. So auch der Bundesverband behinderter Pflegekinder unter dem Vorsitz von Kerstin Held. Hierzu ihr deutlicher Kommentar:

“Ich finde es fast dramatisch, dass es wiederholt eine Petition braucht, um das Fetale Alkoholsyndrom (FASD) in die VersmedV) aufnehmen zu lassen. Es wirkt surreal, dass die Prävention zur Vermeidung von Schäden durch Alkohol im Landwirtschaftsministerium verortet sind. Zwar gibt es eine staatliche Verpflichtung zum Schutz des ungeborenen Kindes, aber beim Konsum von Alkohol scheint diese legale Droge eine größere Lobby zu haben.

Es gibt keine unbedenkliche Menge Alkohol für ein ungeborenes Kind! Oder würde jemand einem Säugling einen Schluck Wein in die Flasche füllen, weil das Bisschen Alkohol nicht schadet? Bereits geringe Mengen Alkohol können das ungeborene Kind schädigen. In manchen Fällen sind die Kinder von schwerer Behinderung betroffen. Hier ist die Diagnose nicht schwierig. Das sogenannte Vollbild bringt so viele Diagnosen mit, dass die Kinder entsprechende Anerkennungen und Zugänge zu Rehabilitation bekommen. Wenn gleich die Ursache dafür ein legales Nervengift ist.

Die meisten Kinder mit einer „einfachen“ hirnorganischen Schädigung im Prefrontalcortex (Frontstirnlappen des Gehirns), denn hier liegen die häufigsten „Einschüsse“ des toxischen Einflusses durch Alkohol, werden nicht richtig oder gar nicht diagnostiziert. Ihre Behinderung scheint unsichtbar und die Mütter geben aus Angst vor Stigmatisierung den Alkoholkonsum nicht zu. Dabei ist die Anerkennung dieser Behinderung in jeder Form elementar, um den Kindern so früh wie möglich die richtige Begleitung und Förderung zu ermöglichen.

Fehldiagnosen wie ADHS, atypischer Autismus und andere entlasten zwar unsere Gesellschaft und vor allen Dingen die Mütter aus der „Schuld“, helfen dem Kind aber häufig nicht genug. Ich gebe einem Querschnittgelähmten auch keinen Tretroller – Räder sind eben nicht gleich Räder! ES BRAUCHT SICHTBARKEIT UND ANERKENNUNG!

Ich stehe jeden Tag mit meinen Pflegekindern mit FASD vor denselben Herausforderungen. Jeden Tag vor denselben Konflikten und Erklärungen in unserer Gesellschaft. Meine Kinder haben wundervolle Wegbegleiter gefunden und ich Entlastung durch Fachkräfte. Nur so ist Familie möglich.

Eine Anerkennung als Behinderung und somit Zugänge zu Förderung und Hilfen zu schaffen ist das Mindeste, wenn es uns schon nicht gelingt, verantwortungsbewusst mit dieser legalen Droge umzugehen. So lange Alkoholwerbung sportlich, sinnlich, prickelnd, herb, feierlich ist und den Regenwald rettet, werden mehrere tausend Kinder jährlich allein in Deutschland mit dieser vermeidbaren lebenslangen Behinderung geboren.”

Der Petition von HAPPY BABY INTERANTIONAL e.V. angeschlossen haben sich der Bundesveband behinderter Pflegekinder, Pfad Niedersachsen Landesverband Pflege- und Adoptivkinder, das Aktionsbündnis FASD Adult, PAUL Niedersachsen, das FASD-Fachzentrum Hamburg, die ups – unabhängiger Selbsthilfegruppe Dortmund

Fetale Alkoholschäden müssen als Behinderung anerkannt und festgeschrieben werden

Wir brauchen Deine Stimme !

Happy Baby International e.V. hat eine PETITION gestartet – für eine bundesweite ANERKENNUNG, dass fetale Alkoholschäden als BEHINDERUNG gelten und dies in der VERSORGUNGSMEDIZIN-VERORDNUNG festgeschrieben wird.

In unserem Link “Petition” kannst Du unterschreiben.

Das Fetale Alkoholsyndrom ist wenig sichtbar. Es sind vor allem geistige Behinderungen, verursacht durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Die Kinder, die mit fetalen Alkoholschäden auf die Welt kommen, haben ein Leben lang unter diesen Behinderungen zu leiden. 1,6 Millionen Menschen* sind in Deutschland davon betroffen. Jedes Jahr wieder kommen über 10.000 betroffenen Babys dazu. Trotzdem gilt das Fetale Alkoholsyndrom nicht als Behinderung.

WARUM DAS ABER DRINGEND NOTWENDIG IST

Ohne die Anerkennung als Behinderung fehlt es allerorten an Verständnis, dass die betroffenen Menschen Hilfe und Unterstützung brauchen. Kaum einer von ihnen ist in der Lage, ein Leben in Selbständigkeit zu führen.

Schon als kleine Kinder brauchen sie Therapien, später Kindergarten- und Schulbegleiter, im Erwachsenenleben Hilfe im täglichen Leben, Begleitung bei der Ausbildung oder der Arbeit, Unterstützung bei Behördengängen, beim Arbeitsamt und bei Verhandlungen mit der Krankenkasse.

Denn Menschen mit fetalen Alkoholschäden sind vor allem kognitiv sowie im sozial-emotionalen Verhalten extrem eingeschränkt. Ihre Aufnahmefähigkeit ist begrenzt, ebenso wie die Gedächtnisfähigkeit. Fast allen fehlt das Zeitgefühl und der Orientierungssinn. Viele leiden unter ständiger innerer Unruhe, schwerem Impulskontrollverlust, gefolgt von ekzessiven Wutanfällen, die ihre Angehörigen an den Rand der Belastbarkeit bringen.

Und so brauchen auch die Eltern, Adoptiv- und Pflegeeltern Hilfe und Unterstützung, ohne die sie auszubrennen drohen.

Das Fetale Alkoholsyndrom ist gesellschaftlich bisher nicht anerkannt, Fakt ist:

80% der Betroffenen landen unbeachtet am Rande der Gesellschaft – in der Obdachlosigkeit, in der Psychiatrie, dem Gefängnis oder im Drogen- und Prostitutionsmilieu, viele begehen Suizid**

*Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen

**World Health Organization

Ohne klare Regelung herrscht überall die Willkür

Stellungnahme zur Ablehnung der Petition zur Aufnahme der Kriterien der Fetalen Alkoholspektrum-Störung in die VersMedV

Nevim Krüger , Pfad Niedersachen e. V., Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien:

Die Begründung für die Ablehnung der Petition, dass nicht jede Krankheit namentlich genannt werden muss, damit ihre Defizite und Teilhabeeinschränkungen mit den vorhandenen Bedarfsermittlungsinstrumenten ausreichend erfasst werden können, verursacht genau das, was Betroffenen in der alltäglichen und gängigen Praxis in Behörden entgegenschlägt: ebenso mannigfaltige Fehldeutungen und -einschätzungen wie es mannigfaltige Auswirkungen und Komorbiditäten von FASD gibt.

Ohne eine für alle verbindliche Definition dieser Störung werden sie in ihrer Fülle nicht als eine direkte Folge der strukturellen Hirnschädigung und des dysfunktionalen ZNS gesehen, die dieser Behinderung zugrunde liegen. Besonders hervorzuheben sind hier die fehlenden bzw. stark eingeschränkten sogenannten Exekutivfunktionen, die sich nur mit dem Wissen um die typischen Merkmale von FASD richtig einschätzen lassen. Alle anderen Deutungen führen zu größtenteils falschen, lückenhaften oder uneffektiven Maßnahmen und überfordernden Zielvereinbarungen. Diese belasten nicht nur Betroffene wie Angehörige zusätzlich, sondern auch die Ressourcen der helfenden Systeme verschwenden.

Viele der Folgen von FASD können durch eine annehmende, wissende und eine der Behinderung angemessene Unterstützung abgemildert werden. Leider führt das immer wieder dazu, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit FASD, denen dieses Glück zuteil wird, dann allerdings die Behinderung abgesprochen bzw. der Grad einer Behinderung zu gering eingeschätzt wird. Ein junger Erwachsener, der eine gute und stark unterstützende Anbindung an sein Elternhaus (Pflege- oder Adoptivfamilien/Bezugsperson) hat, erscheint nicht unbedingt hilflos. Fällt dieses tragende Gerüst auch nur kurz weg, wird die Hilflosigkeit sofort erlebbar. Sie führt relativ schnell zu zahlreichen Problemen bei der alltäglichen Lebensbewältigung, bis hin zum kompletten sozialen Absturz. Die relative Stabilität unter oft sehr aufwändiger familiärer Unterstützung ist also trügerisch.

FASD braucht unbedingt eine grundsätzliche Anerkennung als Behinderung aus folgenden Gründen:

  • Die Behinderung, die 1.000 Gesichter hat, und meist nur mit ein bis zwei Hauptsymptome als Spitze des Eisberges gesehen wird, muss behandelt und anerkannt werden.
  • Auch die Diagnosen pFASD und ARND müssen dringend als Behinderung mit einem Grad von mindestens 50 anerkannt und verankert werden, da gerade diese Menschen aufgrund der fehlenden äußerlichen Merkmale viel zu oft durchs Raster fallen. Außerdem drohen ihnen sowie den Bezugspersonen häufig Überforderungen und Fehldeutungen mit teilweise katastrophalen Folgen (Herausnahme der Kinder aus Familien, Einstellung der Hilfen usw., Fehldiagnosen besonders im psychiatrischen Bereich).
  • Wenn es eine grundsätzliche Anerkennung von FASD als Behinderung gibt, entfällt eine der größten Hürden in der Genehmigung und Gewährung von den so dringend nötigen Hilfen. Es würde somit auch eine konkrete Notwendigkeit des Wissens und der Fortbildung/Qualifizierung zu diesem Syndrom entstehen. Die müßigen Antrags- und Widerspruchsverfahren, mit wiederum katastrophalen Folgen, sollten diese negativ entschieden werden, würde es nicht mehr geben. Die von FASD betroffenen Menschen würden einen selbstverständlichen Zugang zu Hilfen zur Teilhabe erhalten. Das hätte positiv zur Folge, dass weder sie selbst noch ihr Bezugssystem einer Abhängigkeit von Wissensständen und der daraus resultierenden Willkür einzelner Sachbearbeiter in den Versorgungsämtern unterlägen.
  • Unserer Auffassung nach ist es geradezu unwürdig für Menschen mit FASD, immer wieder beweisen zu müssen, dass sie durch den vorgeburtlichen Alkoholkonsum eine Behinderung erlangt haben.
  • Allein die ewigen Kämpfe und Erklärungen behindern die Menschen noch zusätzlich und verursachen weitere Schäden der meistens sehr fragilen psychischen Gesundheit.

Im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzende des Landesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien erlebe ich seit Jahren täglich die Auswirkungen, die die Fehldeutung und die fehlende Akzeptanz der Behinderung von FASD auf die Betroffenen und deren Bezugspersonen haben. Der ohnehin schon schwer zu gestaltendem Alltag wird somit nur noch mehr belastet; Hilfen sind nie sicher und immer hängt die latente Ablehnung oder Fehleinschätzung als Damoklesschwert über den Betroffenen und ihren Angehörigen.

Die Menschen mit FASD brauchen Akzeptanz, Kontinuität und ein wissendes Umfeld, um ein würdiges Leben führen zu können. Die fehlenden bzw. stark eingeschränkten Exekutivfunktionen und die große Hilflosigkeit, wenn sie allein auf sich gestellt sind/wären, müssen durch eindeutige Definition eine für alle verbindliche Anerkennung erhalten.

Wir fordern die Verankerung von FASD in der VersMedV.