Hoher Anteil von Inhaftierungen unter Menschen mit FASD 

Rund 35 Prozent der Menschen mit fetalen Alkoholschäden (FASD) haben nach dem zwölften Lebensjahr bereits eine Inhaftierung erlebt. Diese alarmierende Zahl geht aus einer Zusammenstellung internationaler Studien hervor, die auf den Zusammenhang zwischen nicht diagnostizierten oder unzureichend unterstützten FASD-Betroffenen und einer erhöhten Justizbeteiligung hinweisen. Die Daten wurden unter anderem von NOFAS Washington State (National Organization on Fetal Alcohol Syndrome, USA) und der University of Washington veröffentlicht. 

Die Ergebnisse machen deutlich: Menschen mit FASD sind in Haftanstalten überproportional vertreten. Eine Übersichtsarbeit im Fachjournal Cogent Psychology (2016) zeigt, dass bis zu 60 Prozent der Jugendlichen und Erwachsenen mit FASD irgendwann mit dem Justizsystem in Berührung kommen. Die Ursachen liegen meist in den typischen kognitiven Einschränkungen, die FASD mit sich bringt: verringerte Impulskontrolle, eingeschränktes Verständnis sozialer Regeln, Schwierigkeiten mit Ursache-Wirkung-Zusammenhängen sowie eine erhöhte Suggestibilität in Verhör- oder Gerichtssituationen. „Diese Menschen handeln oft nicht aus krimineller Energie, sondern aufgrund ihrer Behinderung“, heißt es in einem Bericht des National Criminal Justice Training Center (NCJTC, 2021). Fehlende Diagnose und mangelnde Unterstützung führen dazu, dass Betroffene nicht als Menschen mit einer neurokognitiven Störung erkannt werden – mit gravierenden Folgen für den weiteren Lebensweg.

Auch kanadische und britische Untersuchungen bestätigen diesen Befund: Inhaftierte Personen mit FASD sind häufig bereits in der Kindheit durch schulische Misserfolge, Pflegeheimaufenthalte und fehlende Frühförderung auffällig geworden. Eine Veröffentlichung der Sussex Law Clinic (2024) weist darauf hin, dass viele Inhaftierte nie offiziell diagnostiziert wurden und daher keine adäquate Betreuung erhielten.

Experten in Deutschland erleben nichts anderes. Der FASD-Experte und Arzt Philipp Wenzel von der FASD-Ambulanz Walstedde kann bestätigen: „In meiner Arbeit hier in der Institutsambulanz sehe ich gerade im Bereich der Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen großen Anteil an FASD-Betroffenen, die sich straffällig verhalten.“ Woher das kommt, unterteilt der Arzt und Experte in vier Kategorien. Zunächst einmal gibt es diejenigen, die durch Dritte verführt sind und sich im Rahmen ihrer Arglosigkeit und Verleitbarkeit bzw. fehlenden Abgrenzungsfähigkeit zu Straftaten hinreißen lassen. Wenzel: „Hier entstehen Situationen, in denen die FASD-Betroffenen zum Beispiel für andere stehlen gehen, für andere Diebesgut verkaufen oder mit Drogen dealen. Hier ist das Motiv meistens nicht im Wunsch verankert, sich zu bereichern oder sich einen materiellen Vorteil zu verschaffen, vielmehr ist der Impuls gegeben, eine soziale Interaktion und Wertschätzung zu erhalten. Diese FASD-Betroffenen zeigen zusätzlich meistens einen negativen Selbstbezug und wünschen sich durch ihre Täterschaft dann Anerkennung beispielsweise durch die Peergroup bzw. vermeintliche Freunde.“

Dann gibt es die Gruppe der FASD-„Straftäter“, die über keinen, und die Betonung der Begründung liegt dabei auf der hirnorganischen Schädigung, angemessenen Eigentumsbegriff verfügen, sprich, kein Unrechtsbewusstsein haben. Das Unrecht fällt ihnen erst auf, wenn man es ihnen angemessen erklärt – das zum Thema kognitive Einschränkungen bei Menschen mit fetalen Alkoholschäden. Heißt im Klartext: Sie nehmen sich einfach Dinge im Supermarkt oder sonst wo. Hat ja da gelegen und niemand bestimmten gehört. Gepaart mit „zusätzlicher Impulskontrollstörung“, so Philipp Wenzel, kommt es zu „unüberlegtem Handeln“.

„Ein dritter Bereich ist vor allem dort zu sehen, wo akzidentiell Schaden angerichtet wird, z. B. durch Zündeln oder andere Sachbeschädigungen. Hier berichten die FASD-Betroffenen, dass sie etwas ausprobiert haben, um das Resultat beobachten zu können“, berichtet der FASD-Experte. Dass hierdurch Schaden an Leib und Leben oder höheren Rechtsgütern entstehen kann, bedenken diese Betroffenen meistens nicht. Vielmehr gehe es hierbei um die Faszination für die Resultate des eigenen Handelns und damit um das Entstehen einer Selbstwirksamkeit.

Zum Vierten kommt laut Philipp Wenzel noch folgender Aspekt hinzu: „Neben diesen Bereichen der Straffälligkeit sehen wir auch einen hohen Anteil von FASD-Betroffenen, welche in Delikte im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes involviert sind. Hier kommt es aufgrund von einer hohen Affinität gegenüber Suchtstoffen oftmals zu Konsumverhalten, zu Erwerb von Betäubungsmitteln und teilweise auch zu Beschaffungskriminalität vor dem Hintergrund einer bestehenden Suchterkrankung.“ 

Fazit: „Insgesamt sehen wir, dass alle Straftaten, bis auf wenige Ausnahmen, vor dem Hintergrund der fehlenden Einschätzbarkeit der Konsequenzen des eigenen Handels stattfinden. Die FASD-Betroffenen agieren entsprechend im Hier und Jetzt und ohne ein Planungsvorgehen. Vielmehr handelt es sich um die Umsetzung von kurzfristigen Impulsen und/oder sehr unüberlegtem und undurchdachtem Verhalten.“ Das erlebt auch der Berliner FASD-Experte Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr und erklärt vor Gericht immer wieder: „Die machen einen Diebstahl und können ihn nicht begreifen. Und dann fragen mich die Richter immer, wenn ich als Sachverständiger vortrage – sollen wir sie frei lassen, wenn sie nichts dafür können? Ich sage ja, Sie müssen sie frei lassen.“

Fachleute fordern deshalb umfassende Reformen:

  • Früherkennung und Diagnostik von FASD müssen systematisch in Kinder-, Jugend- und Sozialarbeit integriert werden.
  • Justizbedienstete und Fachkräfte benötigen Schulungen, um die Symptome und besonderen Bedürfnisse von Menschen mit FASD zu erkennen.
  • Strafvollzug und Bewährungshilfe sollten alternative Unterstützungs- und Rehabilitationsmodelle entwickeln, die die neurokognitive Beeinträchtigung berücksichtigen.

Quellen:

  1. NOFAS Washington State (2024): FASD and Incarceration Statistics – https://fasdunited.org
  2. University of Washington (Streissguth et al., 2004): Risk Factors for Adverse Outcomes in Fetal Alcohol Syndrome. Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics
  3. National Criminal Justice Training Center (NCJTC, 2021): Fetal Alcohol Spectrum Disorders and the Justice System – https://ncjtc-static.fvtc.edu/Resources/RS00003164.pdf
  4. Brown, J. (2024): FASD: A Guide for Professionals. Sussex Law Clinic, UK
  5. Popova, S. et al. (2016): Prevalence of FASD in Correctional Systems: A Systematic Review. Cogent Psychology
  6. Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr, Dagmar Elsen, skv_schulz_kirchner_verlag, Idstein 2022

„Alkohol verkocht schon“ ist ein Mythos

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass beim Kochen mit Alkohol der gesamte Alkohol verdampft. Klassisches Beispiel: die Bolognese, die mit Rotwein abgelöscht wird. Entsprechend halten manche Schwangere, und nicht nur die, den Verzehr solcher Speisen für unbedenklich. Doch diese Annahme ist falsch und potenziell gefährlich. Zahlreiche Studien belegen das Gegenteil und widerlegen den Mythos, dass Alkohol vollständig verkocht.

Fakt ist, dass Alkohol bei etwa 78 °C beginnt zu verdampfen. Doch die Temperatur allein entscheidet nicht darüber, ob und wie viel Alkohol tatsächlich verschwindet. Entscheidend sind die Dauer des Kochvorgangs, die Kochtemperatur, die Menge des verwendeten Alkohols und die Größe und Offenheit des Topfes.

Nach Daten des US Department of Agriculture (USDA) bleibt beispielsweise nach 15 Minuten Kochen noch etwa 40% des Alkohols im Gericht. Selbst nach drei Stunden Kochzeit sind immer noch zu 5% Alkohol im Gericht.

Das bedeutet für Schwangere: Es besteht kein sicherer Schwellenwert für Alkoholkonsum. Selbst geringe Mengen können die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen und zu fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) führen. Schon Spuren von Ethanol können in die Plazenta gelangen und dort neuronale Schäden, Wachstumsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten beim Ungeborenen verursachen.

Unser Tipp, um den typischen Bolognese-Geschmack dennoch hinzubekommen: Man nehme entweder alkoholfreien Rotwein oder Traubensaft mit einem Schuss Balsamico und Zitronensaft. Auch gut ist die Alternative Gemüsebrühe mit Tomatenmark und Kräutern.

Und was wir auch immer gefragt werden: Was hat es mit dem Alkoholgehalt in Fruchtsäften auf sich? Ist das schädlich für mein Baby? Kann ich mich tatsächlich mit überreifen Bananen beschwipst essen? Was ist mit den Hefepilzen, die für Alkohol im Brot sorgen? 

Zum Beruhigen vorab: „Das Verzehren von Säften und Obst in normalen Mengen spielt bezüglich des Alkoholgehalts sicherlich keine Rolle“ gibt unsere Botschafterin Gynäkologin Dr. Elena Leineweber, zunächst einmal Entwarnung.

Fakt ist, dass Alkohol für unseren Körper gar keine fremde Substanz darstellt. So wird er gern „natürlicher Alkohol genannt. Im Gegenteil: Im Verdauungstrakt finden ständig Gärprozesse statt. Diese geringen Alkoholmengen ist der Körper aber gut in der Lage zu verdauen. Alkoholhydrogenase heißt das in der Leber dafür zuständige Enzym, das Ethanol in andere Stoffe umbaut. Dass in vielen Lebensmitteln, insbesondere Obst, Fruchtsäften, Brot, geringe Mengen Alkohol enthalten sind, bedeutet für den Körper also keinen wirklichen Aufreger.Laut dem bayrischen Kompetenzzentrum für Ernährung sind Lebensmittel mit natürlichem Alkoholgehalt, der selten 0,3 Volumenprozent übersteigt, als unbedenklich einzustufen.

Zu verhindern ist der Alkoholgehalt in Fruchtsäften übrigens nicht. Die Früchte beginnen schon am Tag der Ernte zu gären. Bis die Früchte gepresst werden, ist also schon Alkohol entstanden. In diesem Zusammenhang ist auch der Fruchtzuckergehalt zu erwähnen. Je höher dieser ist, desto mehr vergärt Zucker zu Alkohol. Das bedeutet, dass man bei Bananen- und Apfelsaft, oder auch Traubensaft, durchaus darauf achten sollte, wieviel man davon trinkt. DasBundeszentrum für Ernährung empfiehlt ein Glas Saft am Tag. Trick 17 für drei Gläser mit Geschmack ist natürlich, die Saftmenge mit drei Teilen Wasser zu verdünnen.

Was für den Fruchtsaft gilt, gilt auch für den Verzehr von Obst. „Auch hier können große Mengen an Zucker ein Problem darstellen“, mahnt die Ärztin Elena Leineweber. Zwei Portionen Obst am Tag empfiehlt das Bundeszentrum für Ernährung. Wobei hier Unterschiede gemacht werden müssen, um welche Obstsorten es sich handelt. Heimische Beeren zum Beispiel haben kaum Fruchtzucker, Äpfel und Trauben dagegen viel. Auch bei Bananen sollte man Vorsicht walten lassen. Ganz frisch sind sie kein Problem. Je länger sie liegen, desto höher wird aufgrund der fortschreitenden Gärung der Alkoholgehalt. Hat die Banane zwei Wochen rumgelegen, kann sich der Alkoholgehalt auf 1,2 Prozent gesteigert haben. Das reicht aber noch nicht, um sich beschwipst zu essen. Es sei denn, man isst Unmengen davon.
Nicht zuletzt gilt auch der Alkoholgehalt im Brot als unbedenklich. Die Hefepilze sorgen für einen Alkoholgehalt von drei bis vier Gramm pro Kilogramm, also verschwindend gering.

Quellen: US Department of Agriculture, Table of Nutrient Rertention Factors, Release 6, Washington D.C. 1992, Deutsche Gesellschaft für Ernährung, FAQ, Alkohol und Schwangerschaft, Bonn, 2023

Autorin: Dagmar Elsen

ADHS – überwiegend angeboren und das lebenslang

In der ZEIT-Ausgabe vom 7. August 2025 liefert der renommierte US-Psychiater Stephen Faraone ein bemerkenswertes Interview über den aktuellen Stand der ADHS-Forschung. Unter dem Titel „ADHS verschwindet nicht einfach“ spricht er als Wissenschaftler – und als Vater eines betroffenen Sohnes – über Ursachen, Behandlungsoptionen und gesellschaftliche Fehlannahmen rund um die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.

ADHS ist größtenteils genetisch bedingt – und keine Frage von Erziehung

Ein zentrales Missverständnis, das Faraone klarstellt, ist die Annahme, ADHS sei eine Folge schlechter Erziehung oder übermäßiger Mediennutzung. Das Gegenteil ist der Fall: Rund 80 Prozent der Ursachen sind genetisch bedingt, ADHS ist also in der überwiegenden Mehrzahl angeboren. Nur etwa 20 Prozent lassen sich auf Umweltfaktoren zurückführen – diese wirken primär im frühkindlichen Alter, beispielsweise durch Belastungen in der Schwangerschaft, Frühgeburtlichkeit oder schwere Bindungsstörungen.

Diese Einordnung ist entscheidend, um Stigmatisierungen zu vermeiden. Wenn Eltern sich selbst oder anderen die Schuld für die Diagnose geben, entsteht zusätzlicher Druck – oft mit negativen Folgen für alle Beteiligten.

ADHS „verwächst“ sich nicht

Faraone widerspricht auch der verbreiteten Vorstellung, ADHS sei ein temporäres Phänomen, das sich „auswächst“. Zwar verändern sich die Symptome mit dem Alter – Hyperaktivität etwa tritt im Erwachsenenalter häufig in den Hintergrund – doch die Kernproblematik bleibt meist bestehen. Zwei Drittel der betroffenen Kinder haben auch als Erwachsene noch klinisch relevante Symptome.

Die Vorstellung, man könne ADHS einfach „durchhalten“ oder „wegtrainieren“, ist deshalb nicht nur falsch, sondern gefährlich. Sie verhindert frühzeitige Intervention und kann zu schulischen, beruflichen und psychischen Folgeproblemen führen.

Medikamente helfen – aber sie sind kein Allheilmittel

Faraone plädiert für einen ausgewogenen Umgang mit medikamentöser Behandlung. Stimulanzien wie Methylphenidat oder Amphetaminpräparate zeigen in Studien deutliche und stabile Effekte – allerdings wirken sie nicht bei allen gleich. Medikamente sind sinnvoll, wenn sie in ein umfassendes Behandlungskonzept eingebettet sind: Psychoedukation, Verhaltenstherapie und familiäre Unterstützung sind unverzichtbar.

Vorbehalte gegenüber Medikamenten seien nachvollziehbar, aber oft emotional aufgeladen. Wer sich gegen eine wirksame Behandlung entscheidet, riskiert langfristige Einschränkungen in Bildung, Beruf, Selbstwert und sozialem Leben.

Familien im Fokus: Zwischen Überforderung und Chancen

ADHS betrifft nie nur das betroffene Kind – sondern das gesamte Familiensystem. Faraone betont, wie wichtig es ist, Eltern zu entlasten und gleichzeitig zu befähigen. Gut informierte Eltern können Verhaltensauffälligkeiten besser einordnen, ihre Kinder gezielter unterstützen – und sich selbst wirksam gegen Schuldzuweisungen abgrenzen.

Fazit: ADHS ist real, komplex – und behandelbar

Der Beitrag in der ZEIT ist ein eindrucksvolles Plädoyer für mehr Differenzierung, wissenschaftliche Aufklärung und gesellschaftliche Empathie. ADHS verschwindet nicht einfach – aber es lässt sich verstehen und behandeln, wenn man bereit ist, die Realität anzuerkennen: ADHS ist in den meisten Fällen angeboren, nicht selbstverschuldet – und eine Herausforderung, die lebenslang begleitet, aber nicht dominieren muss.

Quelle: ZEIT Nr. 33, 7. August 2025, Ressort „Wissen/Gesundheit“ – Interview mit Prof. Stephen Faraone

Erziehungsgeld für Pflegekinder darf nicht angerechnet werden

Diese Meilenstein-Entscheidung darf sich Anja Bielenberg, HAPPY BABY-Vorständin und Leiterin des FASD-Beratungszentrums Schleswig-Holstein auf die Fahne schreiben. Sie war die Klägerin in diesem denkwürdigen, neun Jahre dauernden Prozess in Kassel vor dem Bundessozialgericht.

Mit diesem Urteil vom 25. März 2025 (Az.: B 12 KR 2/23 R) hat das Bundessozialgericht einer langjährigen Praxis der Krankenkassen eine deutliche Grenze gesetzt:

Erziehungsgeld nach § 39 SGB VIII darf nicht automatisch der Beitragspflicht in der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung unterworfen werden – insbesondere nicht oberhalb der Mindestbemessungsgrenze.

Zum Hintergrund:

Anja Bielenberg betreut in Vollzeitpflege drei Kinder mit fetalen Alkoholschäden mit erheblichem Förderbedarf. Für diesen Einsatz erhielt sie ein monatliches Erziehungsgeld in Höhe von 1.896 Euro. Die Krankenkasse behandelte diese Zahlungen als beitragspflichtiges Einkommen und erhob Beiträge auf Grundlage der üblichen Bemessungsformel: 1/90 der monatlichen Bezugsgröße.

Die FASD-Fachberaterin wandte sich dagegen – mit Verweis auf die Zweckgebundenheit und den sozialrechtlichen Charakter der Leistungen. Ihrer Ansicht nach handle es sich nicht um „echtes Einkommen“, sondern um einen pauschalen Aufwendungsersatz zur Förderung der Kindesentwicklung.

Kernaussagen des Urteils

  1. Keine Beitragsbemessung oberhalb der Mindestgrenze:
    Das BSG hob die vorinstanzlichen Urteile auf und erklärte die Beitragserhebung für den Zeitraum April bis August 2017 insoweit für rechtswidrig, als sie auf ein fiktives Einkommen oberhalb der Mindestbemessungsgrenze gestützt war (§ 240 SGB V).
  2. Keine automatische Einstufung als Einkommen:
    Das Erziehungsgeld ist nicht per se als beitragspflichtige Einnahme zu werten. Es handelt sich um eine zweckgebundene Leistung, die in erster Linie die Aufnahmebereitschaft von Pflegepersonen fördern soll – und nicht um ein Entgelt im Sinne einer Erwerbstätigkeit.
  3. Keine „vergütete Tätigkeit“ im Sinne des Beitragsrechts:
    Die Betreuung in Vollzeitpflege ohne Erwerbsabsicht unterscheidet sich grundlegend von einer beruflichen Pflegetätigkeit. Eine „Vergütung“ liegt nur dann vor, wenn eine echte entgeltliche Gegenleistung für Arbeit erbracht wird – was hier nicht gegeben war.
  4. Verweis auf verfassungsrechtlich gebotene Anreizfunktion:
    Die Anerkennungsleistung dient dem Kindeswohl und stellt keine entgeltliche Gegenleistung dar. Ihre beitragsrechtliche Gleichstellung mit Einkommen würde eine systemwidrige Entwertung des Pflegeengagements bedeuten.
  5. Vertrauensschutz gilt:
    Da die Beiträge rückwirkend festgesetzt worden waren, war zusätzlich der Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzt – auch vor diesem Hintergrund war der angefochtene Bescheid rechtswidrig.

Bedeutung der Entscheidung

Dieses Urteil klärt eine seit Jahren umstrittene Frage im Schnittbereich von Sozialleistungsrecht und Beitragsrecht: Wann darf eine staatliche Leistung an Pflegeeltern als beitragspflichtiges Einkommen gewertet werden?

Das BSG macht deutlich, dass Erziehungsgeld im Kontext der Vollzeitpflege keine klassische Einkunftsquelle darstellt, sondern eine sozialrechtlich motivierte Anreiz- und Unterstützungsleistung. Pflegepersonen dürfen nicht durch übermäßige Beitragspflichten entmutigt werden.

Autorin: Dagmar Elsen

Frühdiagnose und stabile Umfelder als Schlüssel für bessere Zukunftsperspektiven

Eine im Juni 2025 veröffentlichte Studie in der Fachzeitschrift Frontiers in Pediatrics liefert erstmals differenzierte Erkenntnisse über strukturelle Hindernisse in der Versorgung von Menschen mit Fetalen Alkoholspektrum-Störungen (FASD). Die Untersuchung macht deutlich: Eine frühe Diagnose, kombiniert mit einem stabilen sozialen Umfeld, ist entscheidend für die Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe betroffener Kinder – wird jedoch in der Praxis häufig zu spät oder gar nicht realisiert.

Hintergrund

FASD gehört weltweit zu den häufigsten vermeidbaren neurologischen Entwicklungsstörungen. Betroffene Kinder zeigen kognitive, emotionale und soziale Auffälligkeiten, benötigen jedoch häufig Jahre bis zur korrekten Diagnose – wenn diese überhaupt erfolgt. Die neuen Ergebnisse zeigen: Adverse Childhood Experiences (ACEs) wie Vernachlässigung, instabile Pflegeverhältnisse oder frühe Traumatisierung verschärfen die Situation erheblich – diagnostisch, sozial und gesundheitlich.

Studienergebnisse im Überblick

  • Frühdiagnosen vor dem 6. Lebensjahr wirken schützend – sie ermöglichen individuell zugeschnittene Hilfen und verbessern Langzeitprognosen signifikant.
  • Kinder mit späten oder fehlenden Diagnosen zeigen eine deutlich erhöhte Rate an Folgeproblemen: Schulabbrüche, Suchtentwicklung, Justizkontakt.
  • Pflege- und Adoptivfamilien berichten regelmäßig über fehlende Information, mangelhafte Unterstützung und unzureichende institutionelle Kooperationen.
  • Die Studie fordert eine stärkere Verzahnung von Gesundheitssystem, Jugendhilfe und Bildung – flankiert durch flächendeckende Fortbildungen für Fachkräfte.

Internationale Relevanz

Die Untersuchung wurde von einem multidisziplinären Team unter der Leitung von Dr. C. Jonsson und Dr. T. Wolf durchgeführt. Die Datenerhebung erstreckte sich über mehrere Länder mit vergleichbaren Versorgungssystemen, darunter Deutschland, Kanada und Großbritannien.

„Viele Kinder mit FASD gelten zunächst als ‘verhaltensauffällig’ oder ‘unerziehbar’. Doch die Ursachen sind neurobiologisch und medizinisch fundiert. Diese Diskrepanz zwischen Problemlage und Versorgung muss endlich überwunden werden“, betont Dr. Jonsson.

Ausblick

Die Autoren sprechen sich für die Implementierung von Früherkennungsstrukturen, verbindlichen Versorgungswegen und langfristiger Fallbegleitung aus – analog zu anderen entwicklungsneurologischen Störungsbildern. Zudem wird eine konsequente Entstigmatisierung von FASD gefordert.

Die vollständige Studie ist abrufbar unter:

www.frontiersin.org/articles/10.3389/fped.2025.1603765/full

Kinder mit FAS sind häufig Frühchen

Jedes elfte Kind in Deutschland kommt zu früh auf die Welt. Das sind jährlich circa 60.000 Kinder. 10.000 von diesen Frühgeborenen wiegen anfangs unter 1500 Gramm. Mehr als die Hälfte aller Kinder mit fetalen Alkoholschäden sind Frühgeborene. 

Dieser Umstand ließ den Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. aufhorchen und schnell zur Entscheidung kommen, dass HAPPY BABY INTERNATIONAL e.V. und der Bundesverband miteinander kooperieren und sich gegenseitig bei der Aufklärungsarbeit unterstützen wollen. Ob die Frühgeborenen mit Alkoholschäden oder ohne geboren werden – fast allen gemein sind zumindest Entwicklungsverzögerungen. Für leibliche, Pflege- oder Adoptiveltern beginnt ab der frühen Geburt eine sorgenvolle und sehr belastende Zeit. Aber nicht nur für sie – es betrifft auch Geschwisterkinder, Großeltern und das nähere Umfeld.

Die Mission des Bundesverbandes „Das früh geborene Kind“ e.V. ist deshalb, zu früh geborenen Kindern und ihren Eltern verlässliche Aufklärung, Informationen und Hilfsangebote dauerhaft zur Verfügung zu stellen. November 1992 war es, als sich in Frankfurt am Main über 80 Vertreter verschiedener Initiativen und Vereine zusammentaten und den Bundesverband gründeten. Allen, die im Bundesverband aktiv sind, ist gemein, dass sie eigene Erfahrungen mit den sogenannten Frühchen gemacht haben. Sie wissen um die Bedürfnisse, die Sorgen und die Herausforderungen.

Anfangs lag der Fokus ihrer Arbeit im Wissenstransfer und Networking. Inzwischen ist der Bundesverband politisch sehr aktiv, organisiert bundesweit Workshops, publiziert Informationsbroschüren, bringt ein vierteljährliches Verbandsmagazin heraus (aktuell wurde als Schwerpunktthema FASD platziert), setzt sie sich für die Verbesserung der medizinischen (Stichwort „hochqualifizierte Perinatalzentren“) und psychosozialen Versorgung Frühgeborener und ihrer Eltern ein. Last but not least, und das ist ein wichtiger Schwerpunkt im Engagement des Bundesverbandes, haben sie eine Hotline für „Frühchenkummer“ eingerichtet. Die Anrufe sind sowohl für Eltern aus Deutschland wie auch aus Österreich kostenlos. Alle neun Beratenden haben Frühchen-Erfahrung und können deshalb konkrete Hilfe leisten. 

Viele Eltern plagen Schuldgefühle, ursächlich zu sein für die zu frühe Geburt. „Denn es können beispielsweise betroffene Frauen auch selber auf der Intensivstation liegen für ein, zwei oder drei Tage und können nicht zu ihrem Kind. Dieser Bruch in dieser Anfangszeit, der ist für Mutter und Kind traumatisch“, berichtet Katarina Eglin, die im Bundesverband für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich zeichnet. „Väter kriseln auch“, erzählt sie weiter, „die müssen zwischen der Sorge der Mutter und der Sorge um das Kind irgendwie noch existieren.“ Der Ausnahmezustand der zu frühen Geburt sei für alle hoch belastend. Die Gedanken gingen dann auch weniger um das eigene Wohlbefinden.  „Man sorgt sich um das Kind und schiebt erst einmal weg, was man für sich selber noch als Trauma mitnimmt“, erläutert Katarina Eglin. Das Trauma suche sich dann einen Raum, wenn die heikle Phase vorbei sei und man sich endlich entspannen könne., es dem Kind besser gehe.  Plötzlich kämen die nicht aufgearbeiteten Themen um die Ecke und keiner im Umfeld würde die Probleme der Eltern verstehen. Die Mütter verstünden sich selbst oft nicht. „Und das ist unser Ansatz, die Familien mit Strategien vertraut zu machen“, so Eglin. Das möglichst zeitnah, damit Eltern und Kind gut in der Interaktion mit dem Kind zusammenwüchsen.

Fragen über Fragen entstehen auch durch die vielfältigen körperlichen Schwächen und Defizite, die häufig allesamt hochkompliziert sind – eben je nachdem, wieviel zu früh das Kind auf die Welt gekommen ist. Besonders betroffen sind zumeist die Lungen, der Darm, das Gehirn, die Augen.  Fast allen Frühchen gemein sind Entwicklungsverzögerungen im Sinne von später Laufen, später Sprechen. Mit entsprechender Förderung könne dies in den ersten Lebensjahren jedoch kompensiert werden. 

Besonders frühen Frühchen bleibt ihr Schicksal der verfrühten Geburt ein lebenslanges Thema. Weil sie dauerhafte Krankheiten haben, sich Spätfolgen entwickeln, die oft genug auch psychischer Natur sind. Depressionen sind keine Seltenheit.

Ein weiteres großes Aufgabenfeld sieht der Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ in der Sensibilisierung und Fortbildung von Kita-Personal. Ein Frühchen-Vater und eine Kita-Leiterin haben hierzu ein Fortbildungsmodel entwickelt, das Träger oder einzelne Einrichtungen buchen können. „Es wird dabei diese verschlossene Tür Neonatologie ein bisschen aufgestoßen und vermittelt, was da im Verborgenen eigentlich für eine Lebenswelt existiert hat, durch die diese Kinder durchgegangen sind,“ erklärt Katarina Eglin. Die dann erklärt, warum es verstärkt Probleme gebe, dass die Kinder nicht in der Kita bleiben wollen. Zu stark sind die Frühchen auf die Eltern fokussiert, als dass der Abnabelungsprozess ein leichtes Spiel sein könnte. Dieses Angebot werde, so Eglin, gut abgefragt.

Schwieriger sei es mit der Aufklärungsarbeit an den Schulen. Eglin: „Da entsteht gerade im bayerischen Fortbildungsinstitut ein Lehrvideo.“ Es handele sich erst einmal nur um ein Pilotprojekt. Schule sei nun mal Ländersache. Das Thema Einschulung wird demzufolge unterschiedlich gehandhabt. In vielen Bundesländern wird beispielsweise den Eltern nicht das Recht zugestanden einschätzen zu können, ob ihr Frühchen besser ein Jahr länger im Kindergarten bleibt. So mancher Grund, warum das abgelehnt wird, macht fassungslos: „Das Problem ist manchmal, dass eine Schule Schüler ziehen muss, um die Klasse voll zu kriegen.“ Das kann zu einem echten Kampf zwischen Gesundheitsamt, Schule und den Eltern führen. Es sei nicht mal an Förderschulen Standard, dass Frühchen zugestanden wird, ein Jahr später als üblich in die Schule zu gehen.

Die Frühchen-Hotline kann montags, dienstags, donnerstags, freitags von 9 bis 13 Uhr angewählt werden und mittwochs von 16 bis 20 Uhr.

Für Deutschland: 0800-875 877 0

Für Österreich: 0800-878 878

www.fruehgeborene.de

Autorin: Dagmar Elsen

Schulassistenz: Lehrer sind nur halbherzig dabei. FASD wird nicht wirklich akzeptiert

Auf unserem jüngsten FASD-Fachtag in Schleswig-Holstein haben wir auch die Schulassistenz thematisiert. Dazu antworteten der Moderatorin Dagmar Elsen, Journalistin und Autorin, die Schulassistenz Ruth-Böttcher-Carstensen, Nadine Hess, Koordinatorin Schulbegleitung beim Träger „Soziales mit Herz und Verstand“, Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr, Kinderarzt und Neuropädiater, Astrid Wendel, pädagogische Leiterin der ADS Kita Bredstedt, die Psychiaterin vom Sozialpädiatrischen Zentrum und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité Berlin, Dr. Heike Wolter.

Dagmar Elsen: Ruth, Du hast Dich auf die Assistenz von FASD-Kindern in der Schule spezialisiert. Wie kommt Deine Arbeit an bei den Lehrern? Weckst Du eher Unmut oder Begeisterung?

Ruth Böttcher-Carstensen: Von bis. Also mitunter stoße ich auf offene Ohren. Manchmal, ja, da kriege ich zu hören, was du wieder hast, immer willst du dein Kind in Vordergrund stellen. Wenn ich sage, er hat nur dieses Fenster von 15 Minuten an Konzentration, dann gehe ich mit ihm raus. Denn dann stört er den Unterricht nicht. Für mich ist das schon wirklich schön, wenn er sich überhaupt 15 Minuten konzentrieren kann. Denn er hat ständig diese ganzen äußeren Eindrücke, die ihn ablenken. Es ist sehr schwer für einen Menschen in einer Gemeinschaftsschule, in der Realschüler, Hauptschüler und Förderschüler in einem Klassenverband sind, sich überhaupt dem ganzen Thema konzentriert zu widmen. 

Dagmar Elsen: Sind die Lehrer auf den Förderschulen vorinformiert über FASD?

Ruth Böttcher-Carstensen: Sie wissen worum es geht. Die meisten haben auch irgendein Seminar besucht.

Dagmar Elsen: Das ist ja schon mal ein Fortschritt.

Ruth Böttcher-Carstensen: Sind aber nur halbherzig dabei. Weil sie generell total überfordert sind.

Nadine Hess: Es hakt an so vielen Stellen. Wenn wir Assistenzen installiert haben, dann kommt von der Schulleitung die Frage: Warum sind die denn eigentlich da? Es ist eigentlich die Aufgabe des Trägers der Schule mitzuteilen, um was es sich handelt. Tun sie aber nicht. Dann müssen wir uns erst einmal um die Entbindung der Schweigepflicht kümmern. Das kommt noch on top. Wir dürfen uns ja nicht immer austauschen, wie wir das gerne hätten. 

An den Regelschulen, wo wir ja auch sind, gibt es noch so viel Aufklärungsbedarf. Teilweise haben wir noch nicht einmal eine Förderlehrkraft, die für uns erreichbar wäre, mit der man zusammenarbeiten kann. Wir wünschen uns immer den Austausch mit der Schule und auch den Pflegeeltern – alle müssen mitspielen. Aber das ist eher selten umsetzbar, weil irgendeiner nicht mitspielt. 

Und das ist besonders schlimm: Wir hatten auch schon Kinder, die noch bei den Eltern lebten, die noch keine Diagnose hatten, sondern nur den Verdacht, wo wir erst später die Diagnostik bekommen haben. Wir hätten uns gerne früher ausgetauscht. Dann wieder unterstützen wir Kinder mit der falschen Diagnose. Dann sind die ganzen Ansätze falsch. Dann sitzt das Kind unter dem Tisch und da drei Erwachsene stehen drum herum, und vielleicht noch eine fremde Person, und versuchen, das Kind unter dem Tisch herauszubekommen. Und wir laufen ein Jahr lang mit der falschen Diagnose im Klassenverband und wissen gar nicht, wie wir es unterstützen sollen.

Astrid Wendel: An den Schulen fehlen Strukturen. Da kannst du nur mit dem Kopf schütteln ohne Ende. Da ist es dann auch so, dass auch die Schulen das Alkoholsyndrom akzeptieren müssten. Aus meiner Erfahrung sagen die Schulen, das Kind hat doch gar nichts, das ist doch nicht krank, warum brauchst du Assistenz,

Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr: Das muss ich wirklich sagen. Wenn es die Pflege- und Adoptiveltern nicht gäbe, dann wären diese Kinder durch das Raster und durch das Netz gefallen. Es ist unglaublich, was Pflegeeltern da leisten. Immer das schwächste Glied. Immer heißt es, ja wenn sie die nicht erziehen können, dann können sie sie nicht in unsere Schule schicken. Das ist so absurd. Weil die Diagnose nicht akzeptiert wird und sich die Ärzteschaft automatisch dagegen wehrt. Immer noch.

Dr. Heike Wolter: Hinsichtlich des Themas Schule ist auch  FASDplus total wichtig. Es reicht nur die Diagnose FASD letztendlich nicht. Es braucht dringend eine ergänzende psychiatrische Diagnostik. Umfassend. Um wirklich zu sehen, wo sind die Stärken und Schwächen. Ich erlebe das im Alltag immer wieder. Es ist dann am Ende des Tages relativ simpel. Die Kinder dürfen nicht überfordert werden. Wenn diese Kinder überfordert werden, dann geht nichts mehr.

Ich habe jetzt nach langen, langen Kämpfen erreicht, der Junge hatte alles in der Schule, Schulbegleitung, Medikation rauf und runter, Tagesklinik, immer wieder Psychiatrie. Jetzt hat er es geschafft, in eine Förderschule zu kommen in Brandenburg oder Potsdam. Und jetzt geht es ihm gut. Jetzt ist er entlastet. Kleine Klassen, Förderschwerpunkt Lernen, obwohl er eigentlich im unteren Durchschnittsbereich vom IQ liegt. Jetzt ist die Aggressivität endlich beendet, oder zumindest weitgehend beendet. Und es war wirklich hochdramatisch. 

FASDplus: Wir haben Kinder, die multipel schwer beeinträchtigt sind

Im Rahmen der Diagnostik tun sich immer wieder, und das sehr oft, hochkomplexe Problemfelder auf. Auf unserem jüngsten FASD-Fachtag haben wir deshalb die Differenzialdiagnostik thematisiert. Dazu antworteten der Moderatorin Dagmar Elsen, Journalistin und Autorin, der Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt der Klinik Walstedde, Dr. Khalid Murafi, und die Psychiaterin vom Sozialpädiatrischen Zentrum und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité Berlin, Dr. Heike Wolter.

Dagmar Elsen: Herr Dr. Murafi, Stichwort FASDplus – Ihr Spezialgebiet – wann ist die Differenzialdiagnostik angesagt? Welche weiteren psychiatrischen Erkrankungen spielen eine Rolle? 

Dr. Khalid Murafi: Wieviel Zeit hab‘ ich jetzt? Ich versuche mal, ein bisschen kompakter zu fassen. Das Entscheidende ist, dass die Risikokonstellation, dass während der Schwangerschaft Alkohol oder andere toxische Substanzen konsumiert werden, einhergeht mit anderen Risikofaktoren, die höher wahrscheinlich sind. Eine häufige Ursache für die Suchtentwicklung bei den betroffenen Frauen sind affektive Erkrankungen. Das können Depressionen sein, bipolare Störungen, Psychosen, Traumafolgeerkrankungen. Es kann sein, dass damit einhergeht – zum Beispiel jetzt ganz lebensgeschichtlich fokussiert -Gewalterfahrung während der Schwangerschaft, vorherige Traumatisierung. Das sind alles Dinge, die sich dann auch auf die Entwicklung mit auswirken. Das heißt, wir haben teilweise Veränderungen, was die Gemütsentwicklungen angeht hinsichtlich Denk- und Verhaltensweisen. Da bin ich bis heute immer wieder verwundert, wie spezifisch manchmal die Veränderungen durch den Alkohol durch das Aussetzen während der Schwangerschaft sind. 

Aber es gibt eben auch diese anderen Risikofaktoren, die hinzukommen – zum Beispiel eine genetische Belastung. Dass hat zur Folge, dass irgendwann eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, mit dem Stressor Intoxikation während der Schwangerschaft oder andere Stressoren während der Schwangerschaft, dass diese Krankheiten – Depressionen, Psychosen, affektive Erkrankungen, bipolare Störungen – eben dann auch niederschwelliger ausbrechen.

Es gibt einen anderen Risikofaktor, der sozusagen nachgeburtlich auftritt. Das heißt in Kombination mit dem niederschwelligen Alkoholkonsum trotz besseren Wissens während der Schwangerschaft geht natürlich auch einher, dass es seelische Belastung auch nach der Geburt geben kann auf Seiten der Mutter. Die ersten 20-24 Monate sind hochrelevant für die Sozialisierung in dem resonanten Begleiten der Neugeborenen und der Säuglinge. Das betrifft die Entwicklung von Impulsregulation, Affektregulation, Selbstbild, wissen, was ich fühle, wie ich damit umgehe und so weiter. Und wenn die Sozialisation ausbleibt aufgrund von sehr schwerwiegenden Defiziten, sei es aufgrund der Alkoholproblematik, einer Suchtproblematik, sei es aufgrund der komorbiden Umstände oder anderen psychischen Erkrankungen, dann haben wir eben das Risiko, dass die Kinder zusätzlich strukturelle Störungen entwickeln. Das kann dann später zu einer Borderline-Störung führen. 

Und das sind ja auch die dramatischen Entwicklungen, die wir dann sehen. Das geht eine Zeitlang gut, zum Beispiel in Pflege- oder Adoptivfamilien, teilweise auch in Heimsituationen. Aber dann spätestens mit Eintritt in die Pubertät, bricht das ganze System. Die Kinder stehen unter schweren Bindungsstörungen, können dann die Beziehungsangebote oft nicht weitertragen. Das sind eben die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen. Außerdem, lassen Sie mich den Satz noch anhängen, haben die Kinder auf unterschiedlichen Ebenen durch die Spezifika zum Beispiel der leichten Beeinflussbarkeit als eines der wichtigen Merkmale in der Gemütsentwicklung. Bei den Jungen habe ich vorhin schon angedeutet, das Risiko, dass sie eine dissoziale Entwicklung einschlagen. Bei den Mädchen eben, dass sie eine promiske Entwicklung einschlagen, also niederschwellig bereit sind, sexuelle Handlungen mit zu tun, weil darüber dann Selbstwert generiert wird und eine schnelle Wirksamkeit erzielt wird. Die nachhaltige Entscheidung über ihr Verhalten, das ist der Unterschied zwischen den Kindern mit und ohne FASD, die jeweils schon eine sehr schwere Störung des Sozialverhaltens und eine dissoziale Entwicklung haben – ich nenne ein Beispiel: Wenn ich die Kinder ohne FASD frage, was hast Du denn da für einen Unfug gemacht? Machst Du das morgen wieder? Dann sagen sie, nein mache ich nicht. Aber sie wissen schon, dass sie es morgen wieder machen. Die FASD-Kinder sagen mir auch, ja mache ich nicht mehr und sie meinen das auch ernst. Sie machen es morgen aber trotzdem wieder. 

Diese ganzen komplexen Zusammenhänge führen dann eben zu den Konstellationen, mit denen wir zu tun haben. Dass wir dann Kinder haben, die multipel schwer beeinträchtigt sind und nicht nur Summationseffekte entstehen. In der Krankheitsentwicklung ist die Schwere der Erkrankung bei dieser FASDplus-Konstellation eben dann auch mehr als die Summe der einzelnen Belastungsfaktoren. Damit sind wir dann beschäftigt und versuchen das zu sortieren. Und da braucht es, wenn sie beispielsweise eine biologisch psychiatrische Erkrankung haben, eine spezifische Medikation. Oder eine spezifische Psychotherapie für die schweren Bindungsstörungen. Obendrein in dieser Gemengelage von FASD an sich, die an sich schon schwierig genug ist, ist es wichtig, sich entsprechend zu orientieren.

Dr. Heike Wolter: Auch hinsichtlich des Themas Schule ist  FASDplus total wichtig. Es reicht nur die Diagnose FASD letztendlich nicht. Es braucht dringend eine ergänzende psychiatrische Diagnostik. Umfassend. Um wirklich zu sehen, wo sind die Stärken und Schwächen. Ich erlebe das im Alltag immer wieder. Es ist dann am Ende des Tages relativ simpel. Die Kinder dürfen nicht überfordert werden. Wenn diese Kinder überfordert werden, dann geht nichts mehr.

Ich habe jetzt nach langen, langen Kämpfen erreicht, der Junge hatte alles in der Schule, Schulbegleitung, Medikation rauf und runter, Tagesklinik, immer wieder Psychiatrie. Jetzt hat er es geschafft, in eine Förderschule zu kommen in Brandenburg oder Potsdam. Und jetzt geht es ihm gut. Jetzt ist er entlastet. Kleine Klassen, Förderschwerpunkt Lernen, obwohl er eigentlich im unteren Durchschnittsbereich vom IQ liegt. Jetzt ist die Aggressivität endlich beendet, oder zumindest weitgehend beendet. Und es war wirklich hochdramatisch. 

„Bin entschlossen, das Thema zu befördern“

Michaela Pries, Landesbehindertenbeauftragte Schleswig-Holstein (Foto links), auf unserem FASD-Fachtag am 9. November in Dagebüll:

„Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, dass Sie mit so einer Vehemenz dieses Thema vorantreiben, dass sie informieren, dass sie all das tun, was Sie tun und das machen sie quasi kostenfrei. Das ist auf der einen Seite großartig und wie gesagt, aller Respekt, alle Wertschätzung dafür. Aber es ist eigentlich auch ein Skandal. Ja, das ist eigentlich eine Aufgabe, die hat jemand anderes zu erledigen.

Natürlich ist Ihre Expertise sehr wichtig. Aber es kann nicht sein, dass sie über einen eingetragenen Verein eine Arbeit leisten müssen, ohne eine Ressource von außerhalb. Dass sie zwar angefragt werden für alles mögliche, aber dafür sozusagen nicht die Ressourcen bekommen, um das dann auch leisten zu können. Das kann eigentlich so nicht sein. Und aus meiner Praxis als Landesbeauftragte haben wir nicht täglich, aber regelmäßig und häufig Fälle, wenden sich Menschen an uns aus unterschiedlichen Zusammenhängen, die Nachfragen haben, die aufzeigen, wo es Probleme gibt, an zum Beispiel eine gute Leistungsgewährung zu kommen, an Diagnostik, an all das, worüber sie eben im Ansatz schon gesprochen haben. 

Aber mein Eindruck und meine Erfahrung ist, je frühzeitiger wir eine klare Diagnose haben und die Zusammenhänge kennen, desto früher gibt es den Zugang auch zu passgenauen Unterstützungsangeboten.

Ein großes Problem haben wir mit jungen Erwachsenen, die mit dieser Diagnose schon lange unterwegs sind, ohne dass es bekannt ist. Die Systeme sind für sie nicht ausgerichtet. Wir sehen das gerade bei den Wohnangeboten. Die haben wir für diese Menschen nicht.

Angesichts der Anzahl der betroffenen Kinder, plus der dazugehörigen sozialen und familiären Systeme, denn das sind ja auch nochmal Menschen, die ganz klar mit in den Blick genommen werden müssen, sind wir tatsächlich in einer absoluten Unterversorgung.

Ich bin gestern bei einer Fachtagung gewesen, eingeladen vom Gesundheitsministerium. Da ging es um Public Health Policy, also eigentlich Bürgerinnen- und Bürger-Gesundheit. Wie geht es den Leuten in Schleswig-Holstein und was müssen eigentlich ein Land und die Politik und die Gesellschaft tun, damit mögliche Faktoren geschaffen werden, damit Menschen in Schleswig-Holstein möglichst gesund leben können. Und wenn ich auf unser Thema heute schaue und wenn ich auf das schaue, was man gestern so ein bisschen identifiziert hat, was sind das für Rahmenbedingungen? Da haben wir richtig viel Luft nach oben. Und ich werde auf alle Fälle aus meiner Rolle heraus ihr Thema mit aufnehmen. Ich werde das alles als Handlungsempfehlungen an die Landespolitik formulieren und an alle anderen Zuständigen. Wir werden an die kommunale Ebene adressieren müssen. Aber, das habe ich gehört, das Bildungsministerium hat im Sinne einer Kooperation mit Aufklärung an Förderzentren schon einmal einen ersten Ansatz gezeigt. Das würde ich gerne unterstützen und wie gesagt, ich bin sehr gespannt, was sie heute hier auch nochmal erarbeiten. Ich finde es großartig, dass so viele heute auch hier sind aus den unterschiedlichsten Bereichen. Ich signalisiere Ihnen dadurch, dass ich heute hier bin, meine Entschlossenheit, das Thema zu befördern.“

Für den ersten Themenblock des Fachtages „Bedeutung frühzeitiger Diagnose – FASDplus /Differenzialdiagnostik /Was Medikation leisten kann /Therapien /Assistenzen /Sinn und >Nutzen des Behindertenausweises“saßen außerdem auf dem Podium: von links Ruth Böttcher-Carstensen (Schulassistenz), Nadine Hess (Koordinatorin Schulbegleitung beim Träger „Soziales mit Herz“), Dr. Khalid Murafi (FASD-Experte, Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt der Klinik Walstedde – Seelische Gesundheit für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene), Kristina Schröder (FDP-Abgeordnete Schleswig-Holstein), Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr (internationale renommierter FASD-Experte, Kinderarzt und Neuropädiater), Dagmar Elsen (Journalistin und Autorin), per Videoschalte Dr. Heike Wolter (FASD-Expertin, Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums und Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité Berlin)

„Wir muten keinen anderen Menschen einen derartigen Irrgarten an Zuständigkeiten zu“

Für den 26. Juni hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu einem Runden Tisch in sein Ministerium geladen. Thema war, „die Versorgung Schwerstbehinderter Kinder zu stärken und Familien von Bürokratie zu entlasten.“ Dazu sollen die Bedarfe der Familien ermittelt werden. Mit von der Partie in dieser Runde in Berlin war auch Dagmar Elsen, Journalistin, Autorin und Initiatorin der Kampagne Happy Baby No Alcohol. Es bot sich ihr die Chance, auf das Grundübel für alle Menschen, die unter fetalen Alkoholschäden leiden, hinzuweisen: die fehlende Festschreibung Fetaler Alkoholspektrumstörungen (FASD) in der Versorgungsmedizinverordnung. Hier ihr Bericht aus Berlin:

Werden Eltern von Kindern mit Behinderungen gefragt, was sie sich zur Entlastung ihres Lebens wünschen, so steht an erster Stelle der Ruf nach Entbürokratisierung. Als nächster Punkt wird unzulängliche Beratung genannt. Das ergab unter anderem eine aufwändige Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus den Jahren 2021/2022 mit dem Titel „Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen – Unterstützungsbedarfe und Hinweise auf Inklusionshürden“. Das 123 Seiten starke Forschungsergebnis war denn auch eine Grundlage für den Plan des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach, ein „Barrierefreies Gesundheitswesen“ zu schaffen, das er noch in diesem Sommer vorstellen will. Das Auftaktgespräch dafür fand im April diesen Jahres statt, in dessen Folge von ihm zu diesem Runden Tisch geladen wurde. Ziel war es, auch von Medizinern und Vertretern sozialer Einrichtungen und Verbänden zu hören, wo die Defizite in unserem Gesundheitssystem liegen und wie die Versorgung Schwerstbehinderter Kinder verbessert werden kann. Es handelt sich um „eine sehr vernachlässigte Gruppe unserer Gesellschaft“, konstatierte der Bundesgesundheitsminister. 

Dafür schaffte Lauterbach das Novum einer ressortübergreifenden Runde in Berlin. Denn Ausrichter des Runden Tisches war zwar das Bundesgesundheitsministerium, dies aber in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Arbeit und Soziales. Zudem waren Bundestagsabgeordnete der Koalition vertreten. Und in der Tat – „diese Runde ist ein Meilenstein“, äußerte denn auch Professor Dr. Florian Heinen aus München unter allgemeiner Zustimmung.

Wie schon die genannte Studie gezeigt hatte, wurde auch in der Berliner Runde hervorgehoben, dass eine Entbürokratisierung oberste Priorität haben müsse. „Es ist ein trägerübergreifender Ansatz notwendig“, sagte der Bundesbehindertenbeauftragte Dusel. Viele Eltern wüssten gar nicht um ihre Leistungsansprüche. Und weiter: „Wir muten keinen anderen Menschen einen derartigen Irrgarten an Zuständigkeiten zu.“ Beklagt wurde außerdem, dass sich Betroffene immer als Bittsteller fühlten, die Regeln zu starr seien, mangelnde Wertschätzung, unzureichende Beratung, fehlendes Fachwissen, zu wenig Fortbildung, fehlende Unabhängigkeit von Verfahrenslotsen, Mangel an Fachkräften und vieles mehr. 

In der Runde im Bundesgesundheitsministerium wurde schnell sichtbar, dass, egal in welcher Form und wie schwer die Kinder beeinträchtigt sind, alle mit den gleichen oder ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Ebenso ihre Familien und Betreuer.

Allerdings, trug ich vor, haben Betroffene fetaler Alkoholschäden on top mit der Tatsache zu kämpfen, dass FASD in der Versorgungsmedizinverordnung bislang nicht festgeschrieben sind. Das bedeutet, allein schon die Anerkennung der Diagnose ist ein aufreibender Akt, der leider oft nicht von Erfolg gekrönt ist. Dass diese Festschreibung endlich geschieht, dafür mache mich seit geraumer Zeit stark. Zu meiner wunderbaren Unterstützung habe ich die SPD-Staatssekretärin Kerstin Griese und den Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel gewinnen können. So ist es gelungen, FASD auf die Agenda des Gremiums zu setzen, das aktuell dabei ist, ein Update von der Verordnung zu machen. 

Ich wies darauf hin, dass eine Parallelisierung zu Autismusspektrumstörungen, die bereits in der Verordnung gelistet sind, keine große Sache sei. Ein entsprechender Gesetzestextentwurf von Professor Dr. Hanns-Rüdiger Röttgers aus Münster liege bereits vor. Jetzt fehle noch die Unterstützung des Bundesgesundheitsministerium. Lauterbach stimmte mir ohne Wenn und Aber zu, dass fetale Alkoholschäden thematisch sowohl gesellschaftlich als auch im medizinischen Bereich absolut unterrepräsentiert sind. In anderen Ländern wie beispielsweise Skandinavien oder Kanada sei man da viel weiter. Er bat mich, mein Anliegen und den Stand der Dinge zu verschriftlichen, damit die Sache entsprechend geprüft werden könne.