Hoher Anteil von Inhaftierungen unter Menschen mit FASD
Rund 35 Prozent der Menschen mit fetalen Alkoholschäden (FASD) haben nach dem zwölften Lebensjahr bereits eine Inhaftierung erlebt. Diese alarmierende Zahl geht aus einer Zusammenstellung internationaler Studien hervor, die auf den Zusammenhang zwischen nicht diagnostizierten oder unzureichend unterstützten FASD-Betroffenen und einer erhöhten Justizbeteiligung hinweisen. Die Daten wurden unter anderem von NOFAS Washington State (National Organization on Fetal Alcohol Syndrome, USA) und der University of Washington veröffentlicht.
Die Ergebnisse machen deutlich: Menschen mit FASD sind in Haftanstalten überproportional vertreten. Eine Übersichtsarbeit im Fachjournal Cogent Psychology (2016) zeigt, dass bis zu 60 Prozent der Jugendlichen und Erwachsenen mit FASD irgendwann mit dem Justizsystem in Berührung kommen. Die Ursachen liegen meist in den typischen kognitiven Einschränkungen, die FASD mit sich bringt: verringerte Impulskontrolle, eingeschränktes Verständnis sozialer Regeln, Schwierigkeiten mit Ursache-Wirkung-Zusammenhängen sowie eine erhöhte Suggestibilität in Verhör- oder Gerichtssituationen. „Diese Menschen handeln oft nicht aus krimineller Energie, sondern aufgrund ihrer Behinderung“, heißt es in einem Bericht des National Criminal Justice Training Center (NCJTC, 2021). Fehlende Diagnose und mangelnde Unterstützung führen dazu, dass Betroffene nicht als Menschen mit einer neurokognitiven Störung erkannt werden – mit gravierenden Folgen für den weiteren Lebensweg.
Auch kanadische und britische Untersuchungen bestätigen diesen Befund: Inhaftierte Personen mit FASD sind häufig bereits in der Kindheit durch schulische Misserfolge, Pflegeheimaufenthalte und fehlende Frühförderung auffällig geworden. Eine Veröffentlichung der Sussex Law Clinic (2024) weist darauf hin, dass viele Inhaftierte nie offiziell diagnostiziert wurden und daher keine adäquate Betreuung erhielten.
Experten in Deutschland erleben nichts anderes. Der FASD-Experte und Arzt Philipp Wenzel von der FASD-Ambulanz Walstedde kann bestätigen: „In meiner Arbeit hier in der Institutsambulanz sehe ich gerade im Bereich der Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen großen Anteil an FASD-Betroffenen, die sich straffällig verhalten.“ Woher das kommt, unterteilt der Arzt und Experte in vier Kategorien. Zunächst einmal gibt es diejenigen, die durch Dritte verführt sind und sich im Rahmen ihrer Arglosigkeit und Verleitbarkeit bzw. fehlenden Abgrenzungsfähigkeit zu Straftaten hinreißen lassen. Wenzel: „Hier entstehen Situationen, in denen die FASD-Betroffenen zum Beispiel für andere stehlen gehen, für andere Diebesgut verkaufen oder mit Drogen dealen. Hier ist das Motiv meistens nicht im Wunsch verankert, sich zu bereichern oder sich einen materiellen Vorteil zu verschaffen, vielmehr ist der Impuls gegeben, eine soziale Interaktion und Wertschätzung zu erhalten. Diese FASD-Betroffenen zeigen zusätzlich meistens einen negativen Selbstbezug und wünschen sich durch ihre Täterschaft dann Anerkennung beispielsweise durch die Peergroup bzw. vermeintliche Freunde.“
Dann gibt es die Gruppe der FASD-„Straftäter“, die über keinen, und die Betonung der Begründung liegt dabei auf der hirnorganischen Schädigung, angemessenen Eigentumsbegriff verfügen, sprich, kein Unrechtsbewusstsein haben. Das Unrecht fällt ihnen erst auf, wenn man es ihnen angemessen erklärt – das zum Thema kognitive Einschränkungen bei Menschen mit fetalen Alkoholschäden. Heißt im Klartext: Sie nehmen sich einfach Dinge im Supermarkt oder sonst wo. Hat ja da gelegen und niemand bestimmten gehört. Gepaart mit „zusätzlicher Impulskontrollstörung“, so Philipp Wenzel, kommt es zu „unüberlegtem Handeln“.
„Ein dritter Bereich ist vor allem dort zu sehen, wo akzidentiell Schaden angerichtet wird, z. B. durch Zündeln oder andere Sachbeschädigungen. Hier berichten die FASD-Betroffenen, dass sie etwas ausprobiert haben, um das Resultat beobachten zu können“, berichtet der FASD-Experte. Dass hierdurch Schaden an Leib und Leben oder höheren Rechtsgütern entstehen kann, bedenken diese Betroffenen meistens nicht. Vielmehr gehe es hierbei um die Faszination für die Resultate des eigenen Handelns und damit um das Entstehen einer Selbstwirksamkeit.
Zum Vierten kommt laut Philipp Wenzel noch folgender Aspekt hinzu: „Neben diesen Bereichen der Straffälligkeit sehen wir auch einen hohen Anteil von FASD-Betroffenen, welche in Delikte im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes involviert sind. Hier kommt es aufgrund von einer hohen Affinität gegenüber Suchtstoffen oftmals zu Konsumverhalten, zu Erwerb von Betäubungsmitteln und teilweise auch zu Beschaffungskriminalität vor dem Hintergrund einer bestehenden Suchterkrankung.“
Fazit: „Insgesamt sehen wir, dass alle Straftaten, bis auf wenige Ausnahmen, vor dem Hintergrund der fehlenden Einschätzbarkeit der Konsequenzen des eigenen Handels stattfinden. Die FASD-Betroffenen agieren entsprechend im Hier und Jetzt und ohne ein Planungsvorgehen. Vielmehr handelt es sich um die Umsetzung von kurzfristigen Impulsen und/oder sehr unüberlegtem und undurchdachtem Verhalten.“ Das erlebt auch der Berliner FASD-Experte Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr und erklärt vor Gericht immer wieder: „Die machen einen Diebstahl und können ihn nicht begreifen. Und dann fragen mich die Richter immer, wenn ich als Sachverständiger vortrage – sollen wir sie frei lassen, wenn sie nichts dafür können? Ich sage ja, Sie müssen sie frei lassen.“
Fachleute fordern deshalb umfassende Reformen:
- Früherkennung und Diagnostik von FASD müssen systematisch in Kinder-, Jugend- und Sozialarbeit integriert werden.
- Justizbedienstete und Fachkräfte benötigen Schulungen, um die Symptome und besonderen Bedürfnisse von Menschen mit FASD zu erkennen.
- Strafvollzug und Bewährungshilfe sollten alternative Unterstützungs- und Rehabilitationsmodelle entwickeln, die die neurokognitive Beeinträchtigung berücksichtigen.
Quellen:
- NOFAS Washington State (2024): FASD and Incarceration Statistics – https://fasdunited.org
- University of Washington (Streissguth et al., 2004): Risk Factors for Adverse Outcomes in Fetal Alcohol Syndrome. Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics
- National Criminal Justice Training Center (NCJTC, 2021): Fetal Alcohol Spectrum Disorders and the Justice System – https://ncjtc-static.fvtc.edu/Resources/RS00003164.pdf
- Brown, J. (2024): FASD: A Guide for Professionals. Sussex Law Clinic, UK
- Popova, S. et al. (2016): Prevalence of FASD in Correctional Systems: A Systematic Review. Cogent Psychology
- Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr, Dagmar Elsen, skv_schulz_kirchner_verlag, Idstein 2022
