Menschen mit FAS verstehen

Familien mit FAS-Kindern können ein Lied davon singen, wie anders ihre Schützlinge ticken. Die von mir zusammen getragenen Beispiele dürften aber auch allen anderen Eltern nicht unbekannt sein – kann man diese oder ähnliche Geschichten auch bei kleinen Kindern oder unseren “viel geliebten Pubertieren” erleben. Der Unterschied zum Menschen mit FAS – bei ihm bleiben eben jene Verhaltensmuster ein Leben lang:

Das Kind, der Jugendliche, der Erwachsene mit FAS….

…… gelobt hoch und heilig Besserung, doch eine Stunde später schon ist alles wieder Schall und Rauch

…… eignet sich hemmungslos Sachen an ohne zu fragen und verleiht diese dann auch noch fröhlich weiter

……. will stundenlang um die Anordnung eines Verbotes diskutieren – immer und immer wieder

…… steht nach dem Wecken zwar auf und macht sich fertig, legt sich dann aber in voller Montur wieder ins Bett und schläft weiter, wenn noch fünf Minuten Zeit bis zum Verlassen des Hauses sind

….. hat nahezu täglich zu beklagen, dass etwas kaputt oder verloren gegangen ist

…… isst unbekümmert und ohne jegliches Unrechtsbewusstein den kompletten Geburtstagskuchen des Bruders alleine

…… geht aus dem Haus ohne sich zu verabschieden und merkt das nicht

…… realisiert Schuldgefühle erst, wenn er darauf hinwiesen worden ist, was er getan hat

…. hat den Schrank gerade mit auf Kante gelegten Kleidungsstücken ordentlich gemacht, eine halbe Stunde später sieht der Schrank aus, als habe ein Einbrecher etwas gesucht

….. gibt bei Geschehnissen drei Versionen wieder, von denen eine glaubhafter ist als die andere, wahrscheinlich aber erst die zwölfte Version der Wahrheit entsprechen könnte

… schafft es immer, dass nach dem Zwiebel hacken die halbe Küche mit Zwiebelstückchen übersät ist

….. muss stets mehr Zeit einplanen, um wegzukommen, weil immer irgendetwas fehlt oder vergessen wurde

….. ist völlig aufgebracht, weil er für eine Tat zu unrecht beschuldigt worden ist, aber Minuten vorher bei genau der gleichen Tat erwischt worden war

…. braucht nur eine winzige Ablenkung, um die ihm aufgetragene Aufgabe, die bereits aufwändig begonnen worden war, komplett zu vergessen und in eine andere Welt abzutauchen.

Menschen mit FAS stoßen aufgrund ihres Verhaltens und Benehmens viel auf Ablehnung und Unverständnis. Was macht es so schwer, Menschen mit FAS zu verstehen und ihre Behinderungen als solche anzunehmen? Welchen Rat geben Sie?

Dr. Murafi:

Im besonderen ergibt sich Ablehnung aus der Diskrepanz der altersgemäßen Entwicklung hinsichtlich der körperlichen Reife und der Fähigkeit im Small-Talk, also der Alltagsschläue, zu brillieren, und den eben fehlenden Fähigkeiten, sich altersgemäß zu verhalten und den vorhandenen Begabungen entsprechend zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang wird allzu gerne Willentlichkeit unterstellt, der FAS-Betroffene verhalte sich aus Absicht unangemessen und weigere sich nur, seine Begabungen auszuschöpfen. Dadurch kommt eine moralische Komponente zum Tragen. Der FAS-Betroffene wird abgewertet, in der Folge wird sich von ihm distanziert.

Darüber hinaus ist auch Hilflosigkeit und Ohnmacht für alle Beteiligten ein unangenehmes Gefühl. Das führt zu viel Stress und Ärger. Die Anforderungen an Geduld und Ausdauer sind enorm. So kommt es im Beziehungskontext zum sogenannten High-Expressed-Emotion-System. Das bedeutet, dass sich die emotionale Interaktion zunehmend aggressiv aufschaukelt. Das bleibt nicht ohne Folgen für die FAS-Betroffenen, da sie im Grunde eine hohe Neigung haben, sich anzupassen, zu gefallen und die richtigen Dinge zu tun.

(Gerade in Pflege- und Adopivfamilien mit FAS-Kindern ist dies noch bedeutsamer, da die Kinder sowieso das Gefühl haben nur Gast zu sein. Dass sie im Grunde nur geduldet werden, wenn sie die Erwartungen der sie großüzgig aufnehmenden Eltern erfüllen. Dies führt zu intensiven Spannungen und teilweise auch zu deutlichen Brüchen in der pubertären Entwicklung. Zuweilen kommt es auch zum Auseinanderfallen familiärer Kontexte, die bis dato gemeinsam gut funktioniert hatten.)

Es ist viel gewonnen, wenn sich alle, die mit FAS-Menschen zusammenkommen, klar machen, dass ihre Schützlinge keinesfalls einfach nur nicht wollen, dass sie opponieren nur des Opponierens Willen. Sie können nicht, weil sie aufgrund ihrer neurologischen und in Folge kognitiven Beeinträchtigungen nicht in der Lage dazu sind. Dabei ist es zudem wichtig zu realisieren, dass sich das auf die Lebensdauer hinaus betrachtet nicht ändern wird. Es handelt sich um irreversible Schäden im Gehirn, gegen diese weder Therapien noch Erziehung eine dauerhafte Chance auf Kompensation haben; allenfalls vorübergehend.

Menschen mit FAS brauchen deshalb immer wieder aufs Neue Unterstützung – nicht anders als Menschen mit körperlichen Handicaps. Wenn man sich alles das immer wieder aufs Neue vergegenwärtigt, erwächst automatisch ein größeres Verständnis. In der Folge sinkt die falsche Erwartungshaltung an den FAS-Betroffenen und steigert das empathische Umgangsvermögen.

Was hilft, sich in einen Menschen mit FAS hineinzuversetzen?

Dr. Murafi:

Es ist immer wieder wichtig sich vor Augen zu führen, dass die Handlungsmotive der Kinder positiver sind, als sie auf den Handlungsebenen und aufgrund ihrer Reaktionsweisen vermuten lassen. Die Kinder sind selbst Opfer ihrer Problematik, erleben sich selbst als hilflos und ohnmächtig. Deshalb benötigen sie hier Unterstützung, brauchen aber gleichzeitig klassifizierte Rahmenbedingungen und Halt gebende Beziehungen. Das heißt, dass es von großer Bedeutung ist, dass die Beziehung zu dem Kind nicht in Frage gestellt wird, egal, wie es sich verhalten hat.

Trotz allen Verständnisses für das Kind darf es nicht an der Klarheit von Anforderungen an das Kind fehlen und auch nicht an pädagogischen Konsequenzen.

Zu welchen grundsätzlichen pädagogischen Methoden raten Sie bei FAS-Kindern?

Dr. Murafi:

Zu keinen anderen als bei allen anderen Kindern auch – zu Klarheit, wohlwollender Konfrontation, sicherem Rahmen, einfach überschaubaren Konsequenzen, Entemotionalisierung im Bereich der pädagogischen Maßnahmen. Im besonderen die Bewahrung der positiven Beziehungsebene. Grundlage für eine pädagogische Führung der Kinder sind des weiteren die Entmoralisierung und in gewisser Weise die Reduktion der eigenemotionalen Betroffenheit.

Mit Sicherheit ist die grundlegende Haltung der Pädagogik von Heim Omar eine, die am ehesten hilfreich sein kann.

(Anm. : Heim Omar, gebürtiger Brasilianer, ist Psychologe, Publizist und Professor in Tel Aviv. Er entwickelte das Konzept der Neuen Autorität, die auf sieben Säulen basiert: Präsenz, Selbstkontrolle, Unterstützungssysteme, gewaltloser Widerstand, Transparenz und Widergutmachung)

Was hilft außerdem bei der Erziehung – Humor, Geduld, Gelassenheit, Ausdauer?

Dr. Murafi:

Tatsächlich hilft Humor, Geduld, Gelassenheit und Ausdauer sowie ein “Störungswissen”. Auf jeden Fall ist Selbsterfahrung bezogen auf den Umgang mit Hilflosigkeit und Ohnmacht von Vorteil. Wichtig sein sollte stets die kritische Reflexion der eigenen Motive in der Begleitung des Kindes. Unverzichtbar ist ein helfendes und stützendes Netzwerk um das Kind herum. Alleine ist das zumeist nicht zu schaffen und sollte auch nicht alleine versucht werden. Es braucht wirklich ein ganzes Dorf, um dem Kind das zu geben, was es braucht; und selbst das kann manchmal nicht reichen. Auf diesem Sektor einen adäquaten Umgang zu finden, ist mit Sicherheit der wichtigste Aspekt in der Begleitung der Kinder.

Autorin: Dagmar Elsen

Wann FAS zum Thema wurde

Ach, was muß man oft von bösen
Kindern hören oder lesen!
Wie zum Beispiel hier von diesen,
welche Max und Moritz hießen.
Die, anstatt durch weise Lehren
sich zum Guten zu bekehren,
oftmals noch darüber lachen
und sich heimlich lustig machen.
Ja, zur Übeltätigkeit,
ja, dazu ist man bereit!
Menschen necken, Tiere quälen,
Äpfel, Birnen, Zwetschgen stehlen.
Das ist freilich angenehmer
und dazu noch viel bequemer,
als in Kirche oder Schule
festzusitzen auf dem Stuhle.

Dem guten Wilhelm Busch, Urvater der Comics, war offenkundig das dissoziale Verhalten so mancher Jungs aufgefallen, machte er sich diese zur Vorlage für seine weltberühmten Geschichten in Versform. Der Beobachtungsgabe des Dichters und Zeichners entgingen auch nicht die körperlichen Auffälligkeiten: der schelmische Moritz mit kleinen Augen und schmalen Lidspalten, einer aufgeworfenen Nase mit dem verkürzten Rücken, einem verlängerten Philtrum und einer schmalen Oberlippe. Was es damit auf sich hatte, war Wilhelm Busch wohl eher nicht klar.

Denn keiner mehr in Europa hatte noch die dramatischen Auswirkungen der Gin-Epidemie des 18. Jahrhunderts in England in Erinnerung. Eigentlich kaum zu glauben. Denn beinahe hätte die berühmte Gin-Epidemie die Londoner Gesellschaft in den völligen Ruin getrieben – eine Folge des Einfuhrverbotes französischer Spirituosen bei gleichzeitiger Aufhebung der Destillierverbote in England. Da der Adel aber dennoch darauf bedacht war, seinen Getreideüberschuss abzusetzen, war der günstigen Produktion von Gin Tür und Tor geöffnet. Gin gab es ab sofort reichlich, billig und für alle sozialen Schichten auf dem Markt zu kaufen. Gin wurde für Hunderttausende zum wunderbaren Rauschmittel, mit dem sich die brutale Realität in den Slums mit seinem täglichen Hunger und der Kälte vergessen ließ.
Die ausufernde Trunksucht hatte in vielerlei Hinsicht fatale Folgen. Eben auch, dass die Geburtenrate alkoholgeschädigter Kinder dramatische Ausmaße annahm. Eine Petition des College of Physicians an das Londoner Parlament 1726 stellte klar: Kinder trunksüchtiger Eltern sind schwach, dumm und geistig gestört.
Jahre später, 1751, hielt dies eine ärztliche Gutachterkommission schriftlich fest. Im gleichen Jahr noch wurde die sogenannte Gin-Akte vom Parlament erlassen, die die Produktion von Gin drastisch reduzierte. Das Leben aller geriet daraufhin wieder in die Fugen, die Auswirkungen der Gin-Epidemie allerdings in Vergessenheit.

Es verstrichen rund 150 Jahre, exakt anno 1899 fiel dem englischen Gefängnisarzt W.C. Sullivan auf, dass alkoholkranke Frauen, je stärker sie tranken, ihre Kinder umso geringer lebensfähig waren. Ausserdem beobachtete er, dass eben jene alkoholkranken Frauen aufgrund erzwungener Abstinenz im Gefängnis plötzlich wieder gesunde Kinder zur Welt brachten. Doch wirkliche wissenschaftliche Schlussfolgerungen zog Sullivan nicht.
Erst 1957 gab es im Rahmen einer Doktorarbeit die erste Publikation zu FAS. Die Französin Jaqueline Rouquette, die 100 Kinder alkoholkranker Eltern untersucht hatte, beschrieb die Symptome. Man schenkte Rouquette aber keine Beachtung.
Zehn Jahre später griff ihr Landsmann Paul Lemoine das Thema wieder auf, untersuchte ebenfalls über hundert Kinder und ihre Eltern. Auch seine Erkenntnisse waren nicht öffentlichkeitswirksam.
1973 schließlich kam der Durchbruch: Die beiden US-Amerikaner David Smith und Ken Jones legten den Begriff Fetales Alkoholsyndrom fest. Sie gewannen schnell eine hohe Aufmerksamkeit für dieses Thema.
Das Interesse schwappte nun auch nach Deutschland. Im Verlauf der 70er Jahre begannen deutsche Ärzte, sich mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen: unter anderem Professor Hans-Ludwig Spohr, Pädiater an der Charité in Berlin, Professor Dr. Hermann Löser, Kinderkardiologe in München und Professor Dr. Frank Majewski, Kinderarzt und Humagenetiker in Düsseldorf. Letzterer entwickelte einen Score zur Erkennung der Alkoholembryofetopathie mit vor allem körperlichen Leitsymptomen.

Zu dieser Zeit und noch Jahre lang glaubte man allerdings, dass sich leichte Formen von FAS auswachsen würden. Erst mit der Jahrtausendwende kamen die Ärzte nach intensiven Forschungsarbeiten weltweit zu dem Ergebnis: Ein Kind, das durch Alkohol geschädigt auf die Welt kommt, wird mit den Folgen unwiderruflich ein Leben lang gezeichnet sein.
Einen entscheidenden Meilenstein setzte im Verlauf der späten 1990er Jahre Dr. Reinhold Feldmann von der Universitätsklinik Münster. Als psychologischer Fachgutachter leitet er die FAS-Beratung des dortigen Sozialpädiatrischen Zentrums und initiierte die Einrichtung eines FAS-Ambulanz-Zentrums im nordrhein-westfälischen Walstedde.
Das Thema FAS gewann zunehmend an Aufmerksamkeit. Es zog die Gründung des Vereins FASD Deutschland ins Leben, der unter anderem viele nennenswerte Symposien in ganz Deutschland veranstaltet und unermüdlich Aufklärungs- und Netzwerkarbeit leistet.

Autorin: Dagmar Elsen

FAS-Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten

Die Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms ist selbst für Experten in vielen Fällen eine medizinische Herausforderung. Das liegt daran, dass die Diagnose sich nur vordergründig als einfach darstellt, etwa wenn das Kind körperliche Schädigungen aufweist – beispielsweise einen verminderten Kopfumfang, ein stark abgeflachtes Mittelgesicht, schmale Oberlippe oder Lidspalten, ein deformierter kleiner Finger, oder auch nach hinten gedrehte Ohren. Derlei körperliche Beeinträchtigungen müssen aber nicht zwingend im Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) begründet liegen. Sie können durchaus auf andere Ursachen zurückzuführen sein.

Insofern muss eine Diagnose zunächst einmal mit der Frage beginnen: Hat die biologische Mutter während der Schwangerschaft, zu welchen Zeitpunkten und in welchen Dimensionen Alkohol getrunken? Dies im Nachhinein herauszufinden ist beim Großteil der Fälle schon allein deshalb nicht möglich, weil FAS-Kinder in den meisten Fällen nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen.
Und selbst wenn der Alkoholkonsum der Mutter bekannt sein sollte, ist eine gesicherte Diagnose dennoch schwierig. Hierzu bedarf es nicht nur einer eingehenden körperlichen Untersuchung, sondern zahlreicher Tests der Intelligenz, des Gedächtnisvermögens, der Konzentrationsfähigkeit.

Eine weitere, ganz wichtige Rolle bei der Diagnose spielen all diejenigen, die mit dem Kind leben, es großziehen. Das sind im wesentlichen die leiblichen, Pflege- oder Adoptiveltern, Verwandte, Erzieher in Kindergärten sowie Lehrer in Schulen und Sportvereinen. All ihre zusammengetragenen Erfahrungen über das Kind und ihre Beobachtungen sind hinsichtlich der Verhaltensauffälligkeiten und damit der Diagnosestellung von immanenter Bedeutung. Es kostet also erheblich Zeit, die Diagnose stellen zu können.

Zur Erleichterung der Diagnose wurde 2013 die sogenannte S3-Leitlinie erstellt. Sie hat die einheitlich und wissenschaftlich basierten Kriterien gelistet. Erarbeitet wurde die Leitlinie von einer Kommission von Fachleuten der Kinderheilkunde, der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Hebammen, Vorsitzenden von Fachgesellschaften und Elterninitiativen. Die Dokumentation wurde von Dr. Mirjam Landgraf und Professer Dr. Florian Heinen übernommen, unterstützt von der Bundesregierung.

Jenseits der Diagnostik körperlich eindeutiger Symptome – können Eltern von Babys oder Kleinkindern Beobachtungskriterien an die Hand gegeben werden, wie sie FAS am ehesten ausmachen?
Dr. Murafi:
Natürlich zeigen sich schon ganz früh Verhaltensauffälligkeiten. So kann die Reagibilität, das heißt die Reaktionsfähigkeit, wie das Kind mit äußerlichen Reizen umgeht, erhöht sein. Das bedeutet einerseits, dass sie leicht irritabel sind, zu vermehrtem Schreien neigen, das kaum stillbar erscheint. Auch Schlaf kann nicht regelmäßig stattfinden. Außerdem kommt es zu Fütterungsstörungen. Andererseits kann es dazu kommen, dass die Kinder eher schlapp wirken, wenig agil sind. Sie zeigen wenig Spontanmotorik, wenig Mimik, wenig Blickkontakt oder Resonanz.
Oftmals kommen Infekte dazu, fallen Hör- und Sehstörungen auf. Die motorische Entwicklungsverzögerung geht mit muskulärer Spannungsschwäche einher. So zeigt sich in der Folge eine Diskrepanz zwischen allgemeiner notorischer Unruhe und reduzierter, gezielter Fortbewegung der kleinen Kinder.

Was macht die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern so schwierig? Bei welchen Krankheitsbildern besteht die größte Verwechselungsgefahr?
Dr. Murafi:
Grundsätzlich muss man voranstellen, dass es sich bei dem Fetalen Alkoholsyndrom eben um ein Syndrom handelt, also um die Kombination unterschiedlicher Symptome zu einem immer wieder gemeinsam auftretenden Muster.
Diese Einzelsyndrome können natürlich auch im Rahmen anderer Syndrome, anderer unspezifischer Entwicklungen oder anderer Normvarianten auftreten. Das heißt, die Kriterien von Syndromen sind nur dann erfüllt, wenn eine bestimmte Anzahl der häufig vorkommenden Symtome gleichzeitig zusammentrifft.
Insofern kann es aufgrund der fehlenden Spezifität der Symptome schwierig sein, eine exakte Diagnose zu stellen.
Ganz am Anfang, direkt nach der Geburt, kann auch einmal eine Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) als Verwechselung mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auftreten. Diese geht ebenfalls mit Kleinwuchs und Gesichtsdysmorphien sowie schwerer psychomotorischer Entwicklungshemmung einher. Im Verlauf des ersten Lebensjahres ist eine Unterscheidung aufgrund der für Trisomie 18 schlechten Prognosen jedoch relativ eindeutig möglich.

Prinzipiell lässt sich aber sagen: Bei Zusammentreffen einer positiven Sozialanamnese für Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und den beschriebenen syndromtypischen Symptomen sollte heutzutage eine Diagnose relativ gut zu stellen sein.

Ist die Diagnose FAS oder FASD gestellt, welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Welcher Bedeutung kommt der medikamentösen Behandlung zu?
Dr. Murafi:
Die Therapie ist zumeist symptomatisch ausgerichtet, das heißt, dass je nach den körperlichen Beeinträchtigungen am Anfang operative Korrekturen zum Beispiel von Gaumenspalten, Herzfehlern, Hernien (Durchbruch von Baucheingeweiden) oder Korrekturen von Seh- und Hörstörungen im Vordergrund stehen.
Jegliche Förderung des jeweils behinderten Organsystems, zum Beispiel die motorische, die ergotherapeutische Förderung, etc. kann hilfreich sein.

Bezogen auf die Medikation kann sowohl die mitauftretende Hyperaktivität oder Aufmerksamkeit- und Konzentrationsstörung behandelt werden. Im späteren Verlauf gilt das auch für Affekt- und Impulskontrollstörungen, teilweise ebenso bei depressiven Entwicklungen oder vermehrten Stimmungsschwankungen.

Desweiteren ist auf die Komorbiditäten – zusätzliche Grunderkrankungen – zu achten. Nicht selten ist es so, dass Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom erleben mussten, dass ihre Mütter auch mit einer genetischen Disposition für psychiatrische Erkrankungen belastet sind – beispielsweise einer Depression oder einer bipolaren Störung, einer manisch-depressiven Erkrankung. Hier kann es im Rahmen der Krankheitsentwicklung auch nach der Schwangerschaft zu übermäßigem Alkoholkonsum der Mutter kommen.
Dann bedarf es der dringenden differentialdiagnostischen Einschätzung sowie der möglichen spezifischen Behandlung der komorbid vorhandenen Erkrankung.

Autorin: Dagmar Elsen

Was legt den Verdacht auf FAS nahe?

Ist bekannt, dass die Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind vom FAS betroffen ist, sehr sehr groß. Egal, ob das Kind auffällige oder eher verdeckte Symptome aufweist – es sollte sofort eine umfassende Untersuchung in einem FAS-Fachzentrum gemacht werden. Wichtig ist, dass Spezialisten diese Arbeit tun. Die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern ist häufig ausnehmend schwierig.

Am einfachsten zu erkennen sind körperliche Beeinträchtigungen. Ist das Kind beispielsweise auffällig klein und leicht, hat es eine schmale Oberlippe, fehlt die Lidspalte, ist der kleine Finger verkürzt, fehlt das Philtrum (die Rinne zwischen Nase und Oberlippe), ist der Kopfumfang vermindert, ist der mittlere Teil des Gesichtes abgeflacht? Liegen Herzfehler, Fehlbildungen an den Ohren, Störungen der Nierenfunktion vor? Hat es grobe motorische Defizite? Sind epileptische Anfälle zu beobachten?
Schwierig wird es, wenn keine optischen oder organischen Schäden zu verzeichnen, aber Verhaltensstörungen zu beobachten sind, die Intelligenz vermindert ist, oder neurologische Schäden auftreten. Je nachdem, um was es sich handelt, kann, muss dies nicht, bereits im Kleinkindalter auffallen.
In der Regel der Fälle ist unbekannt, ob die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat, weil es sich um Pflege- oder Adoptivkinder handelt. Diese Kinder haben per se mit Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten zu kämpfen. In welchem Maße ist davon abhängig, mit welchem Alter sie in ihre neue Familie gekommen sind und welche traumatisierenden Erlebnisse sie hatten.

Zu guter letzt spielt auch der Umstand eine Rolle, ob es sich um eine Auslandsadoption mit den damit einhergehenden kulturellen Unterschieden handelt. In den genannten Zusammenhängen können die daraus resultierenden Auffälligkeiten deckungsgleich zu FAS sein. Es ist deshalb wichtig, die Kinder genauestens zu beobachten, in welcher Form sich Symptome äußern, in welcher Intensität und welchem Kontext sie zu weiteren Verhaltensmustern oder Begebenheiten stehen.

Bei den Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten gibt es vielfältige Symptome. Welche sind für FAS am typischsten, welche kommen am häufigsten vor und welche sind am augenscheinlichsten?

Dr. Murafi: Kinder mit FAS haben fast in allen grundlegenden Bereichen der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung mit Defiziten zu kämpfen. Häufig sind die Wahrnehmung von Räumlichkeit und geometrischen Formen eingeschränkt, ebenso die Wort- und Figurenerkennung. Betroffen sind oftmals auch die sensorischen und akustischen Wahrnehmungen. Dabei entsteht für gewöhnlich das Paradoxon, dass die Kinder zwar sehr laut sind und dafür selbst kein gutes Gespür haben, sich aber hinsichtlich fremder Geräusche als sensibel und irritabel erweisen.

Hinsichtlich der Sprachentwicklung sind Verzögerungen zu beobachten. Im weiteren Verlauf kann sich aber durchaus ein gewisses sprachliches Geschick ausbilden mit guter Wortgewandtheit, teilweise auch einem vermehrten Rededrang. Das führt dazu, dass die Kinder zumeist in kognitiven Anforderungen leistungsstärker erscheinen als sie es tatsächlich sind.

Letztendlich haben FAS-Kinder eine Konstellation mit kombinierten Teilleistungsstörungen in unterschiedlichsten Bereichen. In der Endstrecke wirkt es so, als wenn die Intelligenz basal vermindert sei. Da die Kinder aber kombiniert über eine sogenannte Bauernschläue verfügen, hat das zur Folge, dass die Kinder ein Gespür für kognitive Defizite empfinden. Daraus entwickelt sich eine Scham, dass dies demaskiert werden könnte.

Gerade bei FAS-Kindern, die in Adoptiv- und Pflegekonstellationen sozialisiert werden, kommt es zu einer Diskrepanz zwischen dem ersten Erscheinungsbild und den tatsächlichen Leistungsfähigkeiten, zum Beispiel im schulischen Kontext. Deshalb fallen die Defizite und Störungen oft nicht schon im Kleinkindalter auf, sondern erst in der Grundschule. Logisches Denken oder das Lösen komplexer Aufgaben mit auch höheren Bedarfen an Ausdauer und Konzentration können nun nicht mehr kaschiert werden. Abstrakte Aufgaben, Regeln und Sinnzusammenhänge werden nur schlecht  wahrgenommen und verarbeitet.

Auffällig ist ebenso, dass FAS-Kinder dazu neigen, Erlebtes auch emotionalisiert zu erzählen bis hin zu einem gewissen Sensationsseeking, also mit gewisser Abenteuerneugier einhergehend. Hierbei verstricken sie sich in Widersprüche oder stellen die Geschichten ergänzend mit Fantasien dar. Das besondere an diesen Kindern ist, dass sie dies selten mit böser Absicht tun, sondern die eigene emotionale Überwältigung des Geschehenen, von dem berichtet wird, eine Rolle spielt und sich im Ausdruck niederschlägt. In diesem Kontext zeigt sich auch, dass das nach der Konfrontation dargestellte Reueverhalten durchaus authentisch wirkt. Man ist geneigt, den Kindern vieles zu verzeihen. Die Nachhaltigkeit der darauf folgenden Verhaltensänderung ist letztlich aber doch gering, so dass die Kinder immer wieder mit ähnlichen Verhaltensweisen auffallen.

Teilweise zeigt sich bei FAS-Kindern eine reduzierte Merkfähigkeit. Auch die Verinnerlichung von Arbeitsabläufen und Arbeitsschritten sowie strukturiertem Vorgehen fällt sehr schwer. Manchmal scheint es so, als ob die Kinder Gelerntes schon am nächsten Tag wieder vergessen haben und neu lernen müssen. Daher sind sie auf intensive Strukturhilfen (zum Beispiel Lernkarten, Lernpläne, etc.) angewiesen.

Stichwort Konzentrationsfähigkeit: Diese ist bei FAS-Kindern in aller Regel äußerst reduziert. So lassen sie sich leicht von allen möglichen Dingen ablenken, Aufgabe und Spiele, die etwas mehr Geduld erfordern, werden gerne abgebrochen, da auch die Frustrationstoleranz gering ist. Deshalb fällt es den Kindern schwer, Verabredungen einzuhalten, oder auch Aufträge, die sie zunächst motiviert annehmen, bis zum Ende auszuführen.

Von hoher Bedeutung sind bei Kindern mit dem Fetalen Alkoholsyndrom die sozialen und emotionalen Beeinträchtigungen, so zum Beispiel die sich abbildende Hyperaktivität in sozialen Kontexten. Das hat zur Folge, das die Kinder sehr unruhig, nervös, teilweise undiszipliniert und schwer zu kontrollieren sind. Wie schon beschrieben ist die Frustrationsschwelle grundsätzlich eher gering. Emotionen können daher nur schwer ausbalanciert oder kanalisiert werden. So gehören Wutausbrüche vielfach zur Tagesordnung, sind aber genauso schnell wieder vergessen und dann ebenfalls keine Quelle von nachhaltigem sozialen Lernen.

Die reduzierte Fähigkeit aus Erfahrung zu lernen, lässt die Kinder die Risiken nicht ausreichend korrekt einschätzen. Sie sind dann zu risikobereit und können soziale aber auch weitergehende Konsequenzen nicht ausreichend abschätzen. FAS-Betroffene sind vielfach, auch bis ins höhere Alter hinein, leichtgläubig, naiv und leicht beeinflussbar. Sie haben einen hohen Anpassungswunsch, so dass, kommen sie mit Menschen mit negativen Verhaltenstendenzen zusammen, sie diesen gerne folgen. Darüber erfahren sie soziale Wirksamkeit, die letztlich aber zumeist auf der Verhaltensebene zu Fehlverhalten, Mitläufertum, bis hin zum Ausüben von Straftaten führen kann. Gerade Mädchen sind durch diese leichte Beeinflussbarkeit der Gefahr ausgesetzt, dass sie niederschwellig bereit sind, sich sexuell ausbeuten zu lassen und in komplexe traumatisierende soziale Situationen geraten.

Autorin: Dagmar Elsen