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“Ich wünschte mir so sehr in eine Pflegefamilie zu kommen”

Für Elvira aus Berlin, 31 Jahre und Mutter eines neun Jahre alten Sohnes, steht fest: Hätte man sie ihrer Mutter weggenommen, dann wären ihr all die schrecklichen Erlebnisse, die sie zutiefst traumatisiert haben und mit denen sie bis heute zu kämpfen hat, erspart geblieben. Elvira versteht bis heute nicht, warum niemand geholfen hat. “Es haben alle gewusst”, betont sie, “es war den Lehrern bekannt, den Eltern, dem Jugendamt, den Nachbarn, den Ärzten.” Es war auch ein offenes Geheimnis, dass der Vater sich kurz nach der Geburt der Tochter das Leben genommen hatte. Man habe nichts tun können, hat man ihr erklärt, nachdem das Kind 15 Jahre einen einzigen Albtraum erlebt hatte, der erst mit dem Tod der Mutter endete.

“Seit ich mich erinnern kann, hat meine Mutter getrunken”, sagt Elvira. Jeden Tag, den ganzen Tag, gleich nach dem ersten Kaffee morgens ging es los. Da wurde das Bier in die Kaffeekanne geschüttet und hinter das Sofa gestellt. Am Nachmittag zog es die Mutter in die Kneipen. “Ich kannte sie alle in Tempelhof, die Kneipen waren meine zweite Heimat”, so Elvira. Da hat das kleine Mädchen dann gesessen zwischen “all diesen ekligen Suffis” und hat mit Bierdeckeln Türme gebaut, Fassbrause trinken und aus dem Automat an der Wand Nüsse ziehen dürfen. Manchmal hat ihr ein gut gelaunter Suffi die Musikbox angeschmissen. Dann hat die kleine Elvira dazu getanzt – ein kurzes Highlight im ansonsten traurigen Alltag des Kindes.

Denn ging es wieder nach Hause, war die Mutter “immer so sehr besoffen, dass sie nicht mehr richtig laufen konnte.” Dann musste Elvira warten, bis die Mutter ihren Rausch ausgeschlafen hatte. Warten musste sie auch, bis die Mutter Hunger hatte. Denn nur dann gab es Essen, Essen aus der Konservendose. Ravioli. Und Gulasch. Vor allem Ravioli.

Gab es Freunde? “Nein”, sagt Elvira entschieden, “ich war immer allein.” Jeder wusste, dass Elvira’s Mutter eine starke Alkoholikerin war. Niemand wollte “mit so einer” was zu tun haben. “In der Grundschule haben sie mich deswegen gemobbt”, berichtet die junge Mutter. Das ging so weit, dass sie ihr Pinnadeln in den Körper stachen und sie damit über den ganzen Schulhof jagten. “Immer wieder haben sie mir an den Haaren gezogen. Einmal war es so schlimm, dass meine Kopfhaut verrutschte und mit sechs Spritzen wieder eingerückt werden musste”, lässt Elvira mit ihren Erzählungen erschauern.

Wieso wussten alle vom Alkoholismus der Mutter? “Wir hatten Grundschulfest und es wurde Alkohol ausgeschenkt. Meine Mutter hat sich total volllaufen lassen. Dann fiel sie kopfüber ins Gebüsch. Nur noch die Beine ragten heraus. Ich habe gebrüllt wie am Spieß. Ich fühlte mich total hilflos. Ein Pärchen hat uns nach Hause vor die Türe gebracht. Meine Mutter krabbelte dann auf allen Vieren die Treppe hinauf und ich musste die Tür aufschließen”, erzählt Elvira. Es war ein Erlebnis, das der damals Siebenjährigen die Augen öffnete: “Es war das erste Mal, dass ich das so richtig bewusst erlebt habe. Ich dachte, das ist doch nicht normal.”

Ab diesem Tag versuchte die kleine Elvira, was fast alle Kinder von Alkoholikern tun – den Alkohol zu entziehen, sprich, den Alkohol in den Ausguss schütten. Wie das endete, ist allenthalben traurige Realität: Es gab Schläge, in Elvira’s Fall besonders gern mit einem Teppichklopfer.

Als Elvira’s Mutter an den Folgen ihres Alkoholismus’ gestorben war, “haben sie sich beim Jugendamt mit Hilfspaketen für mich fast überschlagen.” Das arme Mädchen sollte alles nacherleben, was ihr entgangen war und bekam eine Einzelfallhelferin an die Seite. Untergebracht werden sollte sie bei ihrer Verwandtschaft. “Es wollte mich aber keiner haben”, sagt Elvira, “denn alle dachten, ich sei frech und respektlos.” Niemand habe ja gewusst, was das Mädchen erlebt hatte.

Und noch etwas hatte keiner in ihrer Familie gewusst – dass Elvira vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) betroffen war. “Das habe ich erst durch meine Einzelfallhelferin erfahren. Es gibt einen Bescheid vom Versorgungsamt Berlin aus dem Jahre 1996. Da war ich sieben Jahre alt. In dem Bescheid steht, dass ich einen frühkindlichen Hirnschaden mit proportionalem Kleinwuchs habe, eine Lernstörung und eine Störung der Grobfeinmotorik. Mir selbst ist zudem aufgefallen, dass ich eine extreme Matheschwäche habe, und es mir sehr schwer fällt, mir mehrere Dinge zu merken. Manchmal fühle ich mich bei zu vielen Anforderungen, die auf mich einprasseln, überfordert. Außerdem komme ich schnell von 0 auf 100”, berichtet die junge Frau.

So spät die FAS-Diagnose – das war ein Schock für Elvira. Auch wenn sie ihr hinsichtlich der Sprüche ihrer Mutter die Augen öffnete. Denn die Mutter hatte von ihr immer als dem “behinderten Kind” gesprochen. Man müsse bei ihr immer fünf Jahre zurückrechnen, da sie zurückentwickelt sei. Elvira: “Ich selber habe nie verstanden, was sie damit meinte und warum. Aber ich habe es ihr immer geglaubt, dass ich bei mir wirklich fünf Jahre zurückrechnen muss. Ich ertappe mich manchmal sogar immer noch dabei.” Elvira war als Kind selbst aufgefallen, dass sie stundenlang für fünf Matheaufgaben brauchte, manchmal sogar einen Tag. Und dass sie es als Qual empfunden hatte davor sitzen zu müssen, oder in der Schule ein Gedicht auswendig lernen musste – “der reinste Horror für mich.” Aber einordnen hatte sie ihre Defizite nicht können.

Tja, nun hatte Elvira zwar die Diagnose bzw. einen Schwerbehindertenausweis in der Tasche, aber wie sollte es weitergehen? Zunächst erbarmte sich einer ihrer drei deutlich älteren Brüder. Dieser sei aber hoffnungslos überfordert gewesen mit ihr. Elvira: “Wir haben uns nur gestritten.” Er habe sie dann ins Heim oder Internat stecken wollen. Das wollte Elvira auf gar keinen Fall und bettelte so lange, bis ihre Tante ein Einsehen hatte und Elvira bis zu ihrem 18. Geburtstag bei sich aufnahm. “Sie war die einzige, die trotz aller negativer Dinge, die über mich erzählt wurden, nie an mir gezweifelt hat. Und sie hat mich sehr verwöhnt, als ich bei ihr gewohnt habe” erinnert sich Elvira. In der Oberschule fand sie dann endlich auch eine Freundin, die sie seitdem an ihrer Seite weiß und ihr als beste Freundin durch manche schwierige Lebensphase hindurch geholfen hat.

Mit Beginn des Erwachsenenalters wollte Elvira möglichst schnell ihre eigenen Wege gehen. Sie schlingerte zunächst ganz ordentlich. Aber als ihr Sohn geboren wurde, bekam ihr Leben einen positiven Sinn. Die junge Mutter sagte zu sich selber: “Ich werde wirklich alles anders machen als meine Mutter damals.” Elvira holte und holt mit ihrem Sohn alle schönen Kindheitserlebnisse nach, die sie so selbst nie hatte und genießt ein zufriedenes und erfülltes Leben. Die glückliche und fröhliche Mama lebt mit ihrem Freund und Söhnchen zusammen in einer Drei-Zimmer-Wohnung, arbeitet als gelernte Hauswirtschaftshelferin im Öffentlichen Dienst, spielt gerne Tischtennis und Badminton und geht gerne ins Kino.

Zum Abschluss möchte Elvira noch einen Appell loswerden: “Kinder sollten in der Schule besser darüber aufgeklärt werden, dass sie das Recht haben aus ihren Alkoholikerfamilien herauszukommen. Sie sollten von Erziehern und Lehrern, die die Situation im Elternhaus kennen, bestärkt werden. Es sollte ihnen Mut zugesprochen werden, solch einen (sicherlich schwierigen, aber wichtigen) Schritt zu gehen.”

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Aufgeben ist keine Option

Zwei Monate wären es nur noch gewesen, dann hätte sie das erste Lehrjahr für ihre Ausbildung zur Schreinerin geschafft gehabt. Eigentlich schwingt da Stolz in ihrer Stimme mit, als sie das erzählt. Denn für Melissa aus Köln ist es keine Selbstverständlichkeit so weit gekommen zu sein. Sie ist mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auf die Welt gekommen, dessen Auswirkungen sie in vielerelei Hinsicht behindern. Die 19jährige kann die Konzentration und Aufmerksamkeit nicht lange halten, sie hat kein Zeitgefühl, kann ihre Impulse nur schlecht regulieren und ihre Wahrnehmung ist eine andere als die anderer Menschen. Das führte in ihrer Ausbildung dazu, dass sie oft unpünktlich war, entweder zum Arbeitsantritt oder auch von den Pausen zu spät zurückkehrte. Sie brauchte mehr Pausen als die Kollegen, war nicht gleichermaßen belastbar. Melissa kann nur vier bis sechs Stunden volle Leistung bringen, nicht volle acht Stunden.

Ein dicker Dorn im Auge des Chefs. “Der hat mir immer gesagt, ich verarsche alle, ich hätte bloß keinen Bock zu arbeiten”, beklagt sich Melissa, “dabei mache ich das doch wirklich nicht extra, ich vergesse einfach die Zeit.” Falsche Unterstellungen machen wütend auf Dauer, ein Wort gibt das andere und das ist nicht immer passend. Das Ende der Schreinerlehre folgte kurz und schmerzvoll. “Dabei haben alle immer gesagt, dass das, was ich arbeite, sehr gut ist”, berichtet die 19jährige bekümmert. An ihren handwerklichen Fähigkeiten habe es nie Zweifel gegeben. Und da keimt er wieder auf, der Stolz. Der Stolz auf ihre unbestrittenen Fähigkeiten und der Stolz darauf, wie weit sie trotz ihres persönlichen Leidensweges gekommen ist.

Geboren von einer damals 19 Jahre alten Mutter, die bis heute stur und steif behaupte, in der Schwangerschaft nur zu Silverster ein Glas Sekt getrunken zu haben. “Ich bin am 14. Januar geboren, das kann gar nicht sein”, sagt Melissa. Schließlich hat die 19jährige noch viel mehr Beeinträchtigungen. “Ich lebe in einer Schwarz-Weiß-Welt”, erläutert sie. Sie könne sich nicht in andere einfühlen, nicht vorstellen, wie und was andere Menschen empfinden, wie sie die Welt wahrnehmen. Auch der Umgang mit ihren eigenen Gefühlen fällt ihr schwer. “Ich kann nicht zeigen, wenn ich mich freue jemanden zu sehen”, sagt sie. Menschen um sich herum kann sie nur bedingt ertragen. Melissa hat generell Probleme mit dem Erkennen logischer Zusammenhänge. Manche Dinge kann sich gut merken, andere sind schnell wieder weg. Sie benötigt Unterstützung deshalb in der Ausbildung und bei der Arbeit genauso wie bei der Bewältigung des Alltags. Hier Struktur hineinzubekommen, das schafft sie nicht allein. Hunger- und Durstgefühle, das sind bei ihr keine natürlich ausgeprägten Bedürfnisse.

Trotz der Vielzahl der richtungsweisenden Handicaps – die Diagnose des Fetalen Alkoholsyndroms bekam Melissa erst vor drei Jahren, nachdem sie vorübergehend in einer Erziehungsstelle betreut werden musste. Dort gab es entscheidenden Impuls. “Anfangs war es erst einmal ein Schock”, gesteht die 19jährige, “aber dann war es auch eine Erleichterung.” Endlich gab es eine Ursache, eine Erklärung, eine Entschuldigung. Melissa kehrte zu ihrer ursprünglichen Pflegefamilie zurück, bei der sie dank der Diagnose auch weiterhin wohnen bleiben kann. Darüber ist die die junge Frau froh. Hier fühlt sie sich wohl, sie empfindet ihre Eltern und die beiden älteren Brüder als eigene Familie. Kontinuität und Sicherheit spielen für Melissa eine wesentliche Rolle, war sie doch gleich nach der Geburt in wechselnder Obhut, da ihre Mutter sie behandelte “wie ein Spielzeug”. Mit 15 Monaten schließlich nahm ihre heutige Pflegefamilie Melissa auf.

Auch Melissa’s weiterer Lebensweg mit Ablehnung, Ausgrenzung in der Schule, ständiger Überforderung, dem Fehlen von echten Freundschaften, war steinig. Dennoch schaffte Melissa den Hauptschulabschluss und fand über das Berufsbildungswerk eine Lehrstelle. Und eigentlich wäre ihrer Auffassung nach alles gut, würde der Ausbilder das Fetale Alkoholsyndrom genauso akzeptieren wie Autismus oder den Behinderten im Rollstuhl. “Da zweifelt keiner an, dass die nicht länger als vier bis sechs Stunden arbeiten können. Bei mir aber schon”, erregt sich Melissa.

Dennoch, aufgeben ist für die junge Frau keine Option. Zu stark der Traum als Schreinerin zu arbeiten und in einer eigenen kleinen Wohnung mit einer Katze zu leben. Melissa muss jetzt nur noch einen Schreiner finden, der bereit ist, sich auf die Thematik des Fetalen Alkoholsyndroms einzulassen. Handwerklich fühlt sich Melissa jedenfalls über jeden Zweifel erhaben. Gefragt nach ihren Wünschen im Umgang mit dem Fetalen Alkoholsyndrom sagt Melissa: “Ich wünsche mir mehr Verständnis, mehr Aufklärung, mehr Unterstützung hinsichtlich Ausbildung und Arbeit. Aber ich wünsche mir auch Menschen an meiner Seite, die mir im täglichen Leben helfen mit der Wohnung, beim Einkaufen, mich aber auch bei Freizeitaktivitäten unterstützen. Es wäre schön, wenn da mal einer ist, der auch mal sagt ‘hey, das hast Du aber gut gemacht, vielleicht kannst Du es noch ein bisschen besser machen, aber das schaffen wir in kleinen Schritten’. Und ich wünsche mir, dass ich so akzeptiert werde, wie ich bin. So wie das meine Pflegefamilie tut.”

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Vom Ausnahmezustand zum doppelten Familiengefühl

Vater, Mutter, fünf Kinder, drei davon schwerhörig, zwei davon haben das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), hinzu kommen fünf Hühner und eine Katze. Die ältesten drei Söhne, Nono* (13), Mäx* (11) und Feivel* (6), sind leibliche Kinder, die beiden jüngsten hörgeschädigt, Pflegesohn Liu* (3) nicht, dafür seine leibliche Schwester Tia* (1). Die beiden Pflegekinder sind in ganz unterschiedlicher Form alkoholgeschädigt. Als Mutter Anine* und ihr Mann Hannes* ihren Sohn Liu in Pflege nahmen, wussten sie nicht, dass er schwere Hirnschädigungen aufgrund von Alkoholkonsum der leiblichen Mutter in der Schwangerschaft davon getragen hat, geschweige denn eines Tages ein weiteres alkoholgeschädigtes Kind, das obendrein hörgeschädigt ist, in der Familie haben würden, die kleine Tia.

“Uns war klar, was das Fetale Alkoholsyndrom ist”, sagt die Sonderpädagogin. Deshalb hatten wir auch bei der Bewerbung für eine Pflegschaft für uns ausgeschlossen, ein Kind mit FAS aufzunehmen. “Aber was es exakt bedeutet, mit einem FAS-Kind zusammenzuleben, das wissen wir erst seit dreieinhalb Jahren”, gibt sie zu. Dennoch: “Es sollte wohl alles so sein und es passt genau”, sagt die 37 Jahre alte Mutter, die gemeinsam mit ihrem gleichaltrigen Mann, ebenfalls Pädagoge, die Herausforderungen des Lebens positiv angenommen hat. So verrückt es klingen mag, aber: “Genau diese Gesamtkonstellation vermittelt allen ein doppeltes Familiengefühl.”

Bis zu dieser zuversichtlichen Lebenshaltung, bei der, das soll nicht unerwähnt bleiben, nach wie vor die Angst im Nacken sitzt vor dem, was alles noch kommen wird, war es ein harter Weg. “Ja, wir mussten auf allen Ebenen kämpfen – um die richtige Diagnose, um Unterstützung, um Hilfsmittel, um den Pflegegrad … ich glaube, da ist auch erstmal kein Ende in Sicht. Im Widersprüche schreiben sind wir aber immerhin mittlerweile Profis“, stellt Anine mit einer fröhlichen Portion Zynismus klar.

Bezeichnender Weise war es der 09.09.2015, dem offiziellen Tag des alkoholgeschädigten Kindes, an dem der damals sechs Monate alte Liu in das Leben der Kölner Familie trat, und dieses nachhaltig verändern sollte. Anine und ihr Mann spürten von Anfang an Etwas, aber dieses Etwas konnten sie nicht dingfest machen. “Dieser Blick, der irgendwo zwischen ganz tief in die Seele und durch einen durchsehen lag, manchmal neugierig, manchmal teilnahmslos wirkte”, erinnert sich die Sonderpädagogin. Dabei sei es ein augenscheinlich gesunder Junge von normalem Gewicht gewesen. Rückblickend glaubt die Fünffach-Mama, dass man es von Anfang an hätte realisieren können. Vielleicht sei man ja sogar schon vorher über gewisse Auffälligkeiten gestolpert – den starken Tremor nach der Geburt, das bedürfnislose Verhalten des Säuglings, die syndromtypischen Gesichtsmerkmale, die ersten Stereotypen.

Möglicherweise würde es jetzt schon die alles entscheidende Unterschrift der leiblichen Mutter geben, wenn sich “mal jemand getraut hätte, nicht um den heißen Brei herumzureden”, stellt die 37jährige klar. Statt dessen spielten sich zu Hause kräftezehrende Dramen ab. Die Familie lebte im permanenten Ausnahmezustand. Das Kind schrie immer wieder am Tage wie in der Nacht von jetzt auf gleich völlig hysterisch los und ließ sich kaum beruhigen, es schlug mit dem Kopf gegen Wände, es biss sich selbst und riss sich die Haare aus. Der Junge litt unter Schlaflosigkeit und täglich wiederkehrenden Panikattacken. Als er mit zehn Monaten laufen konnte, schmiss er sich dauernd mit dem Gesicht nach vorn ohne Schutzreflex auf die Erde, nichts war vor ihm sicher, er konnte keine Sekunde sich selbst überlassen bleiben. Das arme Kind stand ständig unter hohem Stress, wahrscheinlich die Ursache für seine Stoffwechselprobleme. Sie führen bis heute dazu, dass er bis zu sieben Mal am Tag das große Geschäft in die Windel erledigt. “Wir waren nur noch in Bereitschaft, immer dem Kind hinterher”, beschreibt Anine die Situation. Reaktionen der Außenwelt? “Neben Unverständnis wurde unsere Erziehungsfähigkeit zum Teil in Frage gestellt”, erzählen die beiden und bekamen obendrein unterstellt, dass es mit leiblichen Kindern bestimmt anders laufen würde. Ein Schlag ins Gesicht.

“Nach einem Jahr waren wir an dem Punkt, an dem wir nicht mehr wussten, ob wir das schaffen”, gesteht die 37jährige. Es war eine innerliche Zerreißprobe. Schließlich gab es noch die anderen Kinder und es gab das Ehepaar selbst. Man konnte und wollte nicht riskieren auseinanderzubrechen. “Wir stellten uns noch einmal neu in Frage. Unter Tränen entschieden wir uns ein zweites Mal für Liu”, erzählt Anine. Dies jedoch unter der Prämisse, dass alle Unterstützung und Hilfe mobilisiert werde, die das Sozialsystem hergebe – ohne Wenn und Aber, ohne persönliche Selbstzweifel.

Sagt sich so leicht, war es aber nicht. Es artete in einen kräftezehrenden Ärzte- und Klinikmarathon mit -zig Teildiagnosen aus, denn noch verfügte das Kölner Ehepaar nicht über eine FAS-Diagnose. “Unserem Jugendamt fehlten zeitliche und fachliche Ressourcen, um uns ausreichend zu unterstützen und aufzufangen“, stellt Anine klar, “die Mitarbeiter dort waren zwar persönlich sehr nett, aber mit dem Umfang der für uns notwendigen Unterstützung definitiv überfordert.” Durch Glück gelangten sie an einen kompetenten Arzt in der Frühförderung, der die entsprechenden Weichen stellte. Die nächste gewinnbringende Beratung erhielt das Elternpaar bei dem Verein “Wir für Pänz” in Köln**. Inzwischen sind Anine und ihr Mann bei einem auf das Fetale Alkoholsyndrom spezialisierten Träger angedockt, dem Erziehungsbüro Rheinland***. Hier erhalten sie hilfreiche Supervisionen, gibt es Arbeitsgruppen und Fortbildungen.

Das erleichterte die Herzens-Entscheidung, als es im vergangenen Jahr um die Frage ging, ob man die leibliche Schwester von Liu, die kleine Tia, auch noch aufnehmen solle. “Bauchschmerzen hatten wir schon dabei”, gesteht Anine. Aber zulassen, dass die Geschwister getrennt voneinander untergebracht und aufwachsen würden? Nein!

Das Schicksal hat es am Ende des Tages gut gemeint mit der Kölner Großfamilie: Während Liu immer mit Vollgas unterwegs ist, ist die kleine Schwester ein zartes, eher ruhiges Mädchen. “Sie ist ein Segen”, sagt die Mutter, “sie ruht in sich und nimmt alles ganz gelassen.” Alle Kinder sehen sich als Geschwister an. Niemand genießt eine Sonderstellung. Jeder hat sein Lieblingsgeschwisterkind wie das in anderen Familien auch so ist, wobei die beiden Jüngsten eine ganz besondere Bindung zueinander haben. Und dann gibt es natürlich noch das besondere Band, das die Familie zusammenhält: aufgrund der Schwerhörigkeit von gleich drei Kindern die besondere, bilinguale Kommunikation mit deutscher Laut- und Gebärdensprache untereinander, das wohl wissende Verständnis füreinander aufgrund der verschiedenen Handicaps und der familieneigene Humor, der sich entwickelt hat, um der Tragik des Lebens zu trotzen.

 

Drei leibliche Kinder, zwei Pflegekinder, hörgeschädigte Kinder, Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom – wie wird das Elternpaar Anine und Hannes hinsichtlich der Ihrer Erziehung allen gerecht? Habt Ihr ihn ändern müssen?

“Ja, wir mussten unseren Erziehungsstil ändern, oder eher erweitern. Wir müssen für Liu viele Entscheidungen treffen, die die anderen Kinder in dem Alter selbst getroffen haben. Ein Kind mit FAS bindungsorientiert zu erziehen, ist eine besondere Herausforderung. Liu braucht von uns eine ganz klare Verlässlichkeit, die keine Ausnahmen beinhaltet, oder nur solche, die wir zur Not immer tragen könnten. Er braucht einen klaren, nicht verhandelbaren Rahmen, in dem sicher gestellt ist, dass er andere nicht verletzt, der ihn aber ebenso schützt – vor sich selbst und vor den anderen. Das ist ein ganz besonderer Erziehungsauftrag, der unserer Meinung nach aber leider auch oft genug gegenüber behinderten Kindern zu autoritär ausgeführt wird.

Ein Schlüsselsatz aus dem Buch “Herausforderndes Verhalten vermeiden” von Bo Hejlskov Elven (dänischer Psychologe) ist: “Menschen, die sich richtig verhalten können, werden es auch tun.” Darin steckt so viel Botschaft: Dass herausforderndes Verhalten erst einmal mich herausfordert, und nicht, wie es oft suggeriert wird, automatisch provozierendes Verhalten ist. Nur weil es mich persönlich provoziert, muss es nicht die Intention des Kindes sein mich zu provozieren. Es gilt herauszufinden, was das Kind braucht, um sich anders zu verhalten, und dann darauf aufzubauen zu können. Es ist wichtig, von dem Gedanken wegzukommen, wer denn Schuld trägt an dem Verhalten. In den Augen der Lehrer und Erzieher sind es die unfähigen Eltern; und umgekehrt. Und so dreht man sich im Kreis und wird sicher keine Lösung finden. Kreatives Querdenken ist da definitiv die bessere Lösung.

Dass wir für die beiden Jüngsten klare und strukturierte Verhältnisse schaffen, bedeutet aber nicht, dass wir als Familie einen völlig durchgetakteten Alltag haben. Im übrigen haben die drei Älteren ja das Recht, durchaus auch mal Chaos und Leichtigkeit zu erleben. Wir versuchen es für alle schön zu machen im Leben – da muss eben mal der eine, mal der andere Kompromisse eingehen.”

Was fehlt Euch ganz besonders während des Lebens und für das Leben mit FAS-Kindern?

Anine: “Aufklärung!

Viele Menschen wissen nichts oder sehr wenig über das Fetale Alkoholsyndrom. Die, denen es etwas sagt, können meist nur von gescheiterten Pflegefamilien-Verhältnissen und später suchtkranken und kriminellen Jugendlichen erzählen. Eine Realität, die ich nicht verdrängen möchte, die aber nicht in Stein gemeißelt sein muss.

Insgesamt betrachtet ist FAS eine unglaublich tabuisierte Behinderung. Betroffene werden vorverurteilt und abgelehnt, oder ihre Behinderung als Modeerscheinung degradiert. Das macht sie und ihre Familien zu Einzelkämpfern.

Ich glaube, mit dem richtigen Netz aus Hilfsangeboten können auch FAS-Kinder viel erreichen. Damit meine ich eher Schutz- und Begleitungs-, als Therapiekonzepte. Bei jedem Therapieangebot für FAS-Kinder muss sich immer wieder bewusst gemacht werden, dass die Behinderung durch keine Therapie der Welt ‘wegtherapiert’ werden kann. Wechselnde Therapien, Außer-Haus-Termine – all das ist sehr anstrengend für ein FAS-Kind. Weniger ist oft mehr.”

 

Die Kinder:

+ Der 13 Jahre alte, leibliche Sohn Nono erfreut sich bester Gesundheit, mag Fußball und Volleyball und geht aufs Gymnasium

+ Mäx, leiblicher Sohn, ist 11 Jahr alt und besucht die Realschule für Hören und Kommunikation, denn er ist verschlechternd tieftonschwerhörig. Sein Herz schlägt für Move Artistic.

+ Der dritte leibliche Sohn Feivel ist 6 Jahre alt, besucht die Vorschule einer Förderschule für Hören und Kommunikation. Er hat AVWS (Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung) mit Verdacht auf verschlechternde Tieftonschwerhörigkeit. Außerdem erlitt er unter der Geburt eine Asphyxie (drohender Erstickungszustand durch Absinken des arteriellen Sauerstoffgehalts) aufgrund einer Schulterdystokie. Wenn Feivel nicht gerade draußen spielt, dann schnitzt, hämmert und leimt er mit Vorliebe an seiner Werkbank.

+ Der 3jährige Pflegesohn Liu hat FAS mit folgenden Auswirkungen: autistische Züge, frühkindliche Traumatisierung, entwicklungsverzögert mit Impulskontrollstörungen, selbststimulierendes und selbstverletzendes Verhalten, kaum Gefahrenbewusstsein, Echolalie, Stereotypien, demenz-ähnliche Zustände. Liu erfüllt im diagnostischen Zwei-Säulen-Modell 100 Prozent auf der Verhaltensebene, hat aber wenig äußerliche Auffälligkeiten und kaum körperliche Einschränkungen; lediglich im feinmotorischen Bereich. Er hat FAS-typische Gesichtszüge, aber einen sehr großen Kopfumfang. Er schielt und ist weitsichtig, weshalb er eine Brille trägt. Er ist schwerbehindert mit 80 Prozent und den Merkmalen G,B,H und Pflegegrad 3. Liu spielt gerne Fußball, mag Eisenbahnen und Busse.

+ Pflegetochter Tia ist ein Jahr alt und leidet an Innenohrschwerhöhrigkeit mit Hörbahnreifeverzögerung. Sie durchlitt nach der Geburt einen Amphetaminentzug, der im ersten Jahr monitorüberwacht wurde. Die Beeinträchtigungen durch das Fetale Alkoholsyndrom bisher sind zwei mittlerweile verwachsene Löcher im Herzen, deutliche Nierenvergrößerung, aber mit guter Rückbildung. Tia ist körperlich deutlich hypoton und leicht entwicklungsverzögert. Positiv: Ihr bisheriges Bindungs- und Sozialverhalten ist sehr gesund.

*Namen sind zum Schutz der Familie geändert

** “Wir für Pänz” in Köln ist eine Beratungseinrichtung, die sich seit 25 Jahren um Familien mit Kindern kümmert, die chronisch krank sind, behindert oder entwicklungsverzögert. www.wir-fuer-paenz.de

*** Freier Träger Erziehungsbüro Rheinland: www.erziehungsbuero.de

Autorin: Dagmar Elsen