Wären Sie mal früher gekommen
Wie kann es sein, dass alle gewusst haben, dass meine Mutter Alkoholikerin und drogenabhängig war und das schon vor ihrer Schwangerschaft, und keiner hat etwas unternommen? Das kann und will die 24 Jahre alte Sandra* nicht begreifen. Alle, dass sind für Sandra die Mitarbeiter des Sozialamtes, des Jugendamtes, die Ärzte, die Familie,die Nachbarn; im Grunde alle, die sie sahen und erlebten.
Dass dem so gewesen sein muss, hat sie in den schriftlichen Unterlagen über sich nachgelesen. Erst als Sandra mit gut einem Jahr alt völlig verwahrlost, unterernährt und mit einer schlimmen Kopfverletzung in der Leipziger Kliniknotaufnahme abgegeben worden war, wurde gehandelt. “Ich war in einem so schlechten Zustand, dass man nicht einmal sicher war, ob ich es schaffen würde”, erzählt die Leipzigerin, “meine Mutter hatte mich nur mit Süßigkeiten gefüttert.”
Der kleine Wurm Sandra kämpfte sich durch und landete nach der Klinik zunächst in einem Kinderheim. Von dort ging es zu ihrer Tante, die mit ihrem Mann eigene Kinder hatte. Nach drei Monaten gab sie mit der Situation überfordert auf, denn Sandra benötigt besondere Aufmerksamkeit und Teilnahme. Inzwischen zwei Jahre alt, kam Sandra nun zu Pflegeeltern. Endlich kehrte Ruhe ein. Die Pflegeeltern, die keine eigenen Kinder bekommen konnten, gaben alles, damit es Sandra gut ging und sie sich gut entwickelte. “Ich bin sehr behütet aufgewachsen”, sagt Sandra.
ABER! Da taucht es sofort auf, dieses unausweichliche ABER, wenn es um Alkohol in der Schwangerschaft geht, ob in großen Mengen konsumiert, oder kleinen. “Ich hatte eine Menge Probleme und die sind mit dem Alter immer schlimmer geworden”, berichtet die 24jährige. Es begann mit Verhaltensauffälligkeiten: hohe Aggressivität, extreme Wutausbrüche, emotionale Achterbahnfahrten, schlechtes Kurzzeitgedächtnis, ständige Diskussionen um alles mögliche, Antriebslosigkeit. Hinzu kamen Schlafstörungen, die Schwierigkeit den Fokus zu halten sowie eine gestörte Gefühlswahrnehmung. “Ich habe als Kind gebissen, um meine Zuneigung zu zeigen”, erinnert sich Sandra.
In der Schule zeigte sich alsbald, dass das Mädchen große Schwierigkeiten in Mathe hatte – Kopfrechnen beispielsweise geht bis heute nicht, weil Sandra sich keine Zahlen vorstellen kann. Es wurde eine Dyskalkulie diagnostiziert. Auch das räumliche Denken ist deutlich unterentwickelt, genauso wie das Gefühl für Zeit. Ebensoder Umgang mit Geld wurde zum leidigen Thema. Mal funktioniere es, dann wieder lege sich urplötzlich ein imaginärer Schalter um, sagt sie. Obendrein ecke Sandra gerne an, weil sie über ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden verfüge, vieles anders sehe als andere und das nur allzu deutlich kundtue.
Ahnungslos und wohlmeinend wie die Pflegeeltern seinerzeit waren, setzte vor allem die Mutter, eine Lehrerin, das Mädchen unter Leistungsdruck. Sie sollte doch wenigstens den Hauptschulabschluss schaffen. “Meine Noten hat eigentlich meine Mutter geschrieben”, gesteht die 24jährige.
Der ständige Leistungsdruck blieb nicht folgenlos. Sandra rebellierte immer mehr, war kaum zu bändigen. Die Ärzte äußerten aufgrund “minimaler Anzeichen” den Verdacht auf ADHS.
Das Verhältnis zu ihrer Pflegemutter wurde zusehends schlechter. Hinzu kam, dass Sandra’s leibliche Mutter verstarb. Für die damals9jährige ein heftiger Schlag.Hatte sie doch stets die Hoffnung im Herzen getragen, eines Tages zu ihrer leiblichen Mutter zurückkehren zu können. “Mir ist nie richtig erklärt worden, was mit meiner Mama los ist. Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Und sie haben mich nicht auf meine Weise trauern lassen”, klagt Sandra.
Jetzt erst erfuhr sie, wie sehr drogenkrank ihre Mutter war, dass sie trotz ihrer Sucht noch drei weitere Kinder bekommen und zwei Fehlgeburtenerlitten hatte.“Wir haben alle einen anderen Vater”, weiß die 24jährige inzwischen. “Meine Pflegeelternwolltenmich beschützen”, ist Sandra heute klar, “aber es war der falsche Weg.”
Dieser führte dazu, dass Sandra das Haus ihrer Pflegeeltern verließ. Sie entschied sich für eine betreute Mädchen-Wohngemeinschaft, in der sie blieb, bis sie ihren 18. Geburtstag feierte. Die WG habe ihr gut getan, resümiert die junge Frau, sie habe ihr alle Facetten des Lebens aufgezeigt. Hier habe sie Selbständigkeit, das Erwachsen werden und den Alltag zu meistern gelernt.
Sandra’s persönliche Probleme jedoch blieben. Nur ihre Wutanfälle nahmen ab. Dafür bekam sie starkeDepressionenund Nervenzusammenbrüche, die an Intensität und Quantität zunahmen.Man verabreichte ihr Antidepressiva. Für Sandra ein Horrortrip: “Ich mutierte zu einem Zombie.” Daraufhin verweigerte sie Medikamente.
Die junge Frau kann es selbst kaum glauben, dass sie nach dem Hauptschulabschluss erfolgreich eine Lehre als Verkäuferin absolvierte. “Gefühlt wollte ich wohl fünf Mal abbrechen”, erinnert sie sich. Aber sie kämpfte sich durch und heuerte im Anschluss bei Leiharbeiterfirmen an. Eineinhalb Jahre hielt sie bei der letzten Stelle durch. Dann plötzlich streikte von jetzt auf gleich ihr Körper. Sandra brach während der Arbeit zusammen. “Seitdem bin ich arbeitslos”, berichtet sie, “ich halte keinen Druck mehr aus”.
Inzwischen lebt Sandra alleine mit ihrem Hund in einer Einzimmer-Wohnung. Er hat sie, wie sie sagt, aus ihrer tiefsten Krise geholt. Allein die Verantwortung für ihn motiviert sie, jeden Tag aus der Wohnung zu gehen, selbst wenn es ihr noch so schlecht geht. Und er spüre immer, wenn es ihr nicht gut gehe. Dann gibt er ihr Nähe und Zuneigung und sucht sie aufzumuntern. Gut tue ihr außerdem eine Gesprächstherapie, zu der sie regelmäßig geht. Und schließlich zeichnet sich auch endlich ab, was die Ursache für all ihr Unglück ist. “Ich bin gerade dabei diagnosdiziert zu werden”, erzählt die 24jährige.
Es war ihr Pflegevater, der vor einem Jahr von dem Fetalen Alkoholsyndrom gehört hatte. Er begann sich intensiv damit auseinanderzusetzen, besuchte Seminare und überredete Sandra einen entsprechenden Arzt aufzusuchen: Komm’, wir probieren es, sonst wirst Du immer nur in die Schublade geschoben, dass Du faul, dummund depressiv bist.
Als Erwachsene einen Diagnostiker für das Fetale Alkoholsyndrom zu finden und einen Termin zu bekommen – leichter gesagt als getan. “Wären Sie mal früher gekommen, haben wir zu hören bekommen”, berichtet Sandra verärgert. Inzwischen sind Pflegevater und Tochter in derUniklinik Erlangen angenommen worden und es sieht ganz danach aus, dass sich der Verdacht des Pflegevaters bestätigt. Einer der Tests hat Sandra besonders beeindruckt: “Bei einem Farbtest bin ich mit so vielen verschiedenen Farben gleichzeitig konfrontiert worden, dass ich plötzlich Lila gesagt habe, obwohl da gar kein Lila war. Mein Gehirn war vollkommen überfordert und hat die Notbremse gezogen.”
Ist die Diagnose eine Erleichterung für sie? “Nein”, stellt Sandra klar, “es ist lediglich eine Erklärung. Es ist schwierig, das anzunehmen. Ich bin immer noch am Reflektieren. Das alles zu verarbeiten, das braucht Zeit”. Für die 24jährige wird erst einmal “jeder Tag ein Kampf” bleiben. Sie hofft allerdings, dass ihr eine anstehende Medikation hilft, insbesondere ihre emotionalen Achterbahnfahrten und ihre Schlafprobleme etwas in den Griff zu bekommen.
*Name ist auf persönlichen Wunsch geändert
Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne