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“Ich durfte Schmiere stehen”

Als Dörte K., Mutter von drei Söhnen im Alter von 27, 25 und 14 Jahren, im Jahr 2016 mit ihrem Jüngsten zu einer Untersuchung in die Berliner Charité ging, wurde sie sofort gefragt, ob sie Alkohol in der Schwangerschaft getrunken habe. Ihrem Sohn fehlt nämlich ein Gehörgang, klassisches Indiz für fetale Alkoholschäden. Völlig überrascht wehrte Dörte, die in keiner ihrer Schwangerschaften Alkohol konsumiert hatte, die Vermutung ab. Und völlig überrascht ging sie anschließend mit Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom für sich selbst nach Hause.

Einige Zeit später sollte der Berliner FAS-Experte Professor Hans-Ludwig Spohr diesen Verdacht bestätigen. Da war die Brandenburgerin schon 44 Jahre alt und hatte bis dato immer nur gedacht, dass sie “eben dumm” sei. “Wie soll man sich seine Defizite denn auch sonst erklären?”, fragt sie. Ihrer Seele habe das nicht gut getan, konstatiert Dörte: “Ich habe wenig Selbstwertgefühl. Immer noch. Nicht mehr so schlimm. Es ist besser geworden.”

Was hat die Ärzte veranlasst, den Verdacht auf FAS zu äußern?

Dörte: Sie fragten mich über meine Vergangenheit aus. Ich erzählte ihnen von meinen Gefühlsausbrüchen, meinen Ängsten und Depressionen, von meiner Vergesslichkeit, der Unordentlichkeit und meiner Überforderung. Und ich erzählte von dem Alkoholproblem meiner Mutter.

In welcher Form hatte sie ein Alkoholproblem?

Dörte: Sie hat heimlich getrunken. Sie war unauffällig, weil sie ja alles geschafft hat – den Haushalt, alles familiäre, sich gut um mich zu kümmern.

Wie hast Du es gemerkt?

Dörte: Da war ich zwölf Jahre alt. Eine Freundin hat mich darauf gebracht, als sie sagte, dass meine Mutter immer nach Alkohol rieche. Und dann habe ich zufällig mitbekommen, dass sie Alkohol in Schraubgläser und andere Gefäße in der Küche abgefüllt hat. Als ich sie darauf angesprochen habe, meinte sie. Das ist jetzt unser großes Geheimnis. Auch der Papa darf davon nichts wissen.

Wie war Deine Reaktion?

Dörte: Meine erste Reaktion war positiv. Wie toll, ich habe ein Geheimnis mit meiner Mutter. Im Urlaub durfte ich dann Schmiere stehen auf der Toilette, wo sie Alkohol abgefüllt hat.

Dein Vater muss das doch mitbekommen haben?

Dörte: Ja schon, aber er war Musiker und sehr viel unterwegs. Ich erinnere mich aber, dass er viel mit ihr geschimpft hat. Und er hat mich geschimpft. Er meinte, ich hätte mich zur Co-Alkoholikerin gemacht.

Wann hast Du gemerkt, dass der Alkoholkonsum Deiner Mutter ein großes Problem ist?

Dörte: Sie war morgens, wenn sie nüchtern war, ganz anders als am Abend. Das war eine völlige Wesensveränderung. Das hat mir Angst gemacht.

Trotz Deiner persönlichen Schwierigkeiten und der Situation zu Hause hast Du die Schule geschafft und eine Ausbildung zur Wirtschaftspflegerin gemacht.

Dörte: Weil meine Mutter mich bei allem immer unterstützt hat. Und dann gab es noch meinen Großvater. Da hatte ich immer einen festen Halt.

Wie hast Du die Diagnose aufgenommen?

Dörte: Ich war erst einmal erleichtert. Aha, jetzt weiß ich wenigstens, warum ich so bin. Jetzt weiß ich, dass ich nicht einfach nur dumm bin. Es war gleichzeitig aber auch beschämend. Eine zeitlang hatte ich große Wut auf meine Mutter. Jetzt habe ich ihr aber vergeben. Ich habe meine Mutter ja auch geliebt. Ich hatte einen Jenseitskontakt und das war sehr schön und da kam viel Liebe rüber. Außerdem ist Alkoholsucht eine Krankheit. Noch dazu herrschte in den 70er Jahren noch große Unwissenheit über die Folgen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.

Wie hat Dein persönliches Umfeld auf die Diagnose reagiert?

Dörte: Meine Eltern sind beide schon verstorben. Meine Söhne haben total unterschiedlich reagiert. Am liebevollsten war der Jüngste. Der interessiert sich sehr dafür. Mama, wenn das so ist, ich hätte Dir früher schon viel mehr geholfen und helfe Dir jetzt auf jeden Fall mehr. Mein Ex-Mann, der Vater von den drei Söhnen, sagte: Ach deshalb warst Du so.

Zu meinem jetzigen Mann war ich ganz ehrlich gewesen als wir uns kennen lernten. Er hatte nichts besseres zu tun, als es allen seinen Freunden zu erzählen. Ich habe mich dann gewundert, als eine Frau auf mich zukam und sagte, ich solle doch mal meine Lippen zeigen. Mein Mann und ich hatten daraufhin einen Riesenkrach, weil ich ihm vorwarf, dass er mich doch nicht als behinderte Anschauungspuppe darstellen könne. Für ihn bin ich abgestempelt. Wenn ich mal wütend bin, dann sagt er immer, na siehste, bist halt bekloppt.

Wirst Du ärztlich versorgt?

Dörte: Ich habe eine Neurologin. Die hat auch die Diagnose von Spohr. Aber die glaubt mir nicht. Sie sagt immer, Sie können mehr – weil ich ja auch die Rente beantragt habe. Sie sagt immer, Sie trauen sich zu wenig zu, sie sehen immer so gut und gesund aus. Das kann nicht sein, dass sie krank sind. Ich denke mir, das hat doch nichts mit dem Aussehen zu tun. Das Problem liegt doch innen.

Das Interview führte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Fühlt sich an wie eine Ohrfeige”

Sie hat sich in ihrer Schwangerschaft jede Woche dreimal ein halbes Glas Wein gegönnt, die US-amerikanische Professorin für Ökonomie, Emily Oster, die für Furore sorgt mit ihrem allen Ernstes so genannten Werk: “Das einzige wahre Schwangerschaftshandbuch”. 

Hat die 41jährige doch tatsächlich allein anhand von Studien und Statistiken herausgefunden: Es gibt “keine stichhaltigen Beweise, dass eine geringe Menge Alkohol die kognitive Entwicklung des Ungeborenen beeinträchtigt.” Das lässt für die Akademikerin die für sie logische Schlussfolgerung zu: “Mal ein Glas zu trinken, scheint nicht zu schaden.”

Dergestalt waren die Einschätzungen der Ökonomin jüngst in einem ZEIT-Magazin-Interview zu lesen, garniert mit der Headline “Ein Glas Wein scheint in der Schwangerschaft nicht zu schaden.”

Die kollektive Empörung hierzulande ließ nicht lange auf sich warten. Und so sah man sich hinter den Backsteinmauern des ehrwürdigen Hamburger ZEIT-Verlagshauses genötigt nachzulegen und ein weiteres Interview zum Thema online zu stellen (allerdings nur für sehr kurze Zeit); Vertreter des Hamburger FASD-Zentrums durften zu den Oster-Thesen Stellung beziehen.

Das einzig wahre Ergebnis: “Kein Tropfen, null Komma null!”

Tobias Wolff, Vater dreier Pflegekinder, von denen zwei unter fetalen Alkoholschäden leiden, der obendrein Mitbegründer des Hamburger FASD-Zentrums ist, machte ohne Umschweife deutlich: “Zu lesen, dass das Thema Alkohol in der Schwangerschaft zu streng gesehen werde, fühlt sich an wie eine Ohrfeige. Ich halte oft Vorträge in Jugendämtern oder Schulen zur Fetalen Alkoholspektrumsstörung. Das Unwissen ist riesig. Selbst manche Sonderpädagogen haben noch nie etwas davon gehört.” 

Erst neulich habe ein Gynäkologe einer schwangeren Mitarbeiterin geraten, ruhig ein Glas Sekt zu trinken, wenn der Kreislauf in den Keller geht, untermauerte die Ausführungen auch Dr. Jan Oliver Schönfeld, Neuropädiater und ebenfalls Mitgründer des Hamburger Fachzentrums für fetale Alkoholschäden.

Wie zumindest alle Experten des Fetalen Alkoholsyndroms weltweit wissen: Es gibt keine wissenschaftlich erwiesene Menge Alkohol, die unbedenklich für das Ungeborene wäre. Und, so Schönfeld: “Wie viel Promille Alkohol dann Schäden anrichten, ist bei jedem Baby unterschiedlich. Ich habe kleine Patienten, wo ein Glas Alkohol pro Tag reichte, um schwere Wachstumsschäden hervorzurufen, und kenne Zwillinge, von denen das eine stark alkoholgeschädigt, das andere gesund ist.”

Aber wieso kommen Untersuchungen, auf die sich Emily Oster bezieht, für ein bis zwei Gläser Wein zu weniger beunruhigenden Ergebnissen?, fragt die ZEIT. Denn dort sei kein Zusammenhang gefunden worden zwischen Alkoholkonsum und dem IQ des Kindes*

Der Hamburger Neuropädiater dazu: “Das liegt zum einen an der Methodik dieser erwähnten Studien. Um den Effekt von Alkohol exakt zu untersuchen, reicht keine einfache Befragung, wie sie in den Studien gemacht wurde, auf die Oster sich bezieht. Um wissenschaftlich wasserdicht zu beweisen, ob und wieviel Alkohol schädigt oder nicht, müssen Studien anders konzipiert sein: Eine Gruppe Schwangere müsste jeden Abend Schnaps trinken, eine zweite Gruppe jeden Mittag ein Glas Wein und die dritte Gruppe bliebe zur Kontrolle abstinent. Zusätzlich dürften weder die Probandinnen noch die Wissenschaftler wissen, wer in welcher Gruppe ist. Das nennt man Doppelblindstudie.

Ein solche Studie wäre natürlich völlig unethisch – man würde schwere Alkoholschädigungen bei den ungeborenen Kindern riskieren.”

Hinzu komme, so der Hamburger Arzt, dass Alkohol in der Schwangerschaft ein großes Tabuthema sei. Viele Frauen verschwiegen aus Scham getrunken zu haben. Darüber hinaus seien in den Untersuchungen, die die US-amerikanische Professorin angeführt habe, Fragen gestellt worden, die an den Problemen der FAS-Probleme vorbeigingen. Wie alle FAS-Experten weiß auch Schönfeld: “In den IQ-Tests schneiden Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom häufig sehr gut ab. Selbst in der Schule sind sie häufig überangepasst, tragen dem Lehrer die Tasche hinterher.”

Der FAS-Experte Dr. Reinhold Feldmann aus Münster und Supporter unserer Kampagne ergänzt auf Nachfrage zu Oster’s Studienanalyse: “Es reicht deshalb nicht aus, weil man nicht einfach Forschungsergebnisse durchsehen und dann aufzählen kann, nach dem Motto: drei sind dafür, vier dagegen. Es bedarf durchaus fachlicher Kenntnisse, die Studien im Detail zu verstehen und auch zu werten. 

Tatsächlich gab es in letzter Zeit einige Studien, demzufolge geringere Mengen Alkohol sich später beispielsweise bei den Schulnoten der Kinder nicht negativ auswirkten. Die Autoren der Studien kamen zu dem Ergebnis, dass Alkohol also nicht schädlich sei, solange in geringen Mengen getrunken. Negative Auswirkungen auf die Schulnoten sind aber auch zuvor von niemandem behauptet worden. Bestätigt worden sind hingegen in diesem Kontext, dass es bei geringem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu Verhaltensauffälligkeiten, Unruhe, Konzentrationsmangel und Vergesslichkeit kommt.

Das heißt in der Schlussfolgerung: Man muss genau lesen und genau hinschauen. Man muss auch nichts dramatisieren, das ist klar. Aber es gilt weiterhin, dass es für den Alkoholkonsum in der Schwangerschaft keinen sicheren Schwellenwert gibt, das Kind also sicher sei, wenn ein solcher Schwellenwert nicht überschritten würde.”

Außerdem warnt Feldmann vor Bagatellisierung: “Es ist durchaus sinnvoll, das ‘Gläschen’ Alkohol in der Schwangerschaft nicht zu bagatellisieren. Anders als die Autorin Oster behauptet, ist leider gerade diese Bagatellisierung riskant. Was ein Gläschen sei, versteht wohl jede Schwangere anders. Wenn also von einem Gläschen oder einem Schlückchen bagatellisierend die Rede ist, darf man wirklich zurück fragen, wer denn wohl eine Flasche Bier öffnet, um danach ein Schlückchen zu nehmen oder die restliche Flasche Wein nach einem Gläschen wegkippt.” 

*Pediatric Research: Alati et.al.;2008/ Early Human Development: O’Cullighan et al.;2007 / European Journal of Clinical Nutrition: Parazzini et.al.;2003

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne