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“Mehr Bewusstsein für das Syndrom schaffen”

Nach offiziellen Angaben der bundesdeutschen Drogenbeauftragten beläuft sich die Zahl der vom Fetalen Alkoholsyndrom Betroffenen im Jahr 2018 auf nunmehr 300.000. Für die Dunkelziffer geht die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen von 1,5 Millionen aus. Jedes Jahr kommen in Deutschland wieder 10.000 Babys mit Alkoholschäden auf die Welt. Trotz des hohen Aufkommens ist das Syndrom auch unter Ärzten und Therapeuten wenig bekannt. Entsprechende Diagnosen werden deshalb oft erst im fortgeschrittenen Schulalter gestellt, nachdem die Eltern oder betreuenden Personen mit ihren Schützlingen bereits eine wahre Ärzte- und Therapeuten-Odyssee hinter sich haben.

KinderärztinDozentin für Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in spe, Dr. Nikola Klün aus München, die nicht zuletzt auch engagierte Botschafterin der Kampagne ‘Happy Baby No Alcohol‘ isthat zu dieser Thematik einige Fragen beantwortet:

In welchem Umfang ist das Fetale Alkoholsyndrom während Deines Medizinstudiums thematisiert worden?

Dr. Nikola Klün: Im Rahmen des Pädiatrie Semesterhaben wir das Syndrom in einer Vorlesung gemeinsam mit anderen Fehlbildungen kennengelernt. Leider hat das Studium den Anspruch, einmal die ganze Humanmedizin zu lehren, sodass unsere Ausbildung sehr breitgefächert ist, aber nur jedes Thema einmal kurz berühren kann. Es wird von den Studenten erwartet, dass sie sich in ihren jeweiligen Fachrichtungen während und nach dem Studium selber weiterbilden. Das zu forcieren habe ich mir jetzt vorgenommen. Ich habe das Fetale Alkoholsyndrom in meinen Lehrplan für Pädiatrie an der Münchener Physiotherapieschule aufgenommen.

Wann bist Du persönlich auf das Fetale Alkoholsyndrom und seine Dramatik aufmerksam geworden?

Dr. Nikola Klün: Im Rahmen meiner Tätigkeit auf der neonatalen Intensivstation ist mir das Syndrom ganz am Rande begegnet, im Rahmen meiner Tätigkeit auf pädiatrischen Stationen hatte ich keinerlei Kontakt mit der Diagnose. Die Dramatik und Häufigkeit wurde mir das erste Mal bewusst, als ich die Initiative ‘Happy Baby NAlcohol‘ kennenlernte und begann, mich mehr mit dem Thema zu beschäftigen.

Adoptiv- und Pflegefamilien berichten immer wieder, dass in Geburts- und Arztberichten selten noch nicht einmal der Verdacht auf Alkoholschäden formuliert ist, obwohl diverse Symptome darauf hinweisen würden. Dies ist oft genug sogar dann der Fall, obwohl bekannt ist, dass die Mutter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Wie lässt sich das erklären?

Dr. Nikola Klün: Ich vermute, dass die Kinder und Babys durch das System rutschen. Die Diagnose ist nicht leicht zu stellen, erfordert Expertise in der Thematik, erfordert das Wissen um die wenigen Spezialambulanzen und die Überweisung an diese bei Verdachtsmomenten. Was ich als Arzt nicht kenne, kann ich auch nicht diagnostizieren. Die Diagnose selbst zu stellen, erfordert außerdem mehr Zeit als in der üblichen Kinderarztpraxis pro Patienten der Regel verfügbar ist. Das liegt natürlich nicht nur an den Kinderärztensondern auch an der Politik; generell sind die Kinderarztpraxen in Deutschland überlaufen und die Kinderärzte sehen an die 80 Patienten pro Tag.

Im Mutterleib durch Alkohol geschädigte Babys kommen häufig als Frühchen zur Welt, zumindest körperlich unterentwickelt. Sollte hier nicht generell der Ethylglucuronid-Wert gemessen werden?

Dr. Nikola Klün: Wir wissen, dass die Angaben von mütterlichem Alkoholkonsum oft nicht zu verwerten sind. Der Ethylglucuronid-Wert als direkter Alkoholabbau-Paramter macht eine Aussagekraft hinsichtlich der Abstinenz der Mutter. Allerdings werden Gelegenheitstrinkerinnen (deren Babys genauso geschädigt sein können) durch den Wert nicht delektiert. Außerdem ist die Fragewie ein solcher Parameter in der Praxis tatsächlich einzusetzen ist, da er natürlich das Einverständnis und damit auch das Vertrauen der Mutter voraussetzt. Ich denke, wir müssen auf Prävention und Aufklärung setzen.

Experten auf dem Gebiet des Fetalen Alkoholsyndroms haben beobachtet, dass “klassische” Drogenabhängige und auch Raucher in der Regel zudem Alkohol konsumieren. Selten wird dies aber zugegeben. Wäre hier nicht auch eine Prüfung der Ethylglucuronid-Werte sinnvoll?

Dr. Nikola Klün: Diese Erfahrung habe ich auch gemacht. Aber auch hier frage ich mich, wie die Bestimmung des Wertes in der Praxis aussehen soll. Ich denkeeine gute Zusammenarbeit mit den Familien sollte auf Vertrauensbasis passieren.

Du arbeitest in der Neonatologie. Hast Du persönliche Erfahrungen mit von Alkohol geschädigten Neugeborenen gemacht?

Dr. Nikola Klün: Ich habe Neugeborene betreut, bei denen wir die Verdachtsdiagnose nach der Schwangerschaft gestellt haben. Oft wissen wir auf der Neonatologie von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft, wenn die Mutter andere Substanzen wie Drogen oder Medikamente in der Schwangerschaft eingenommen hat und wir nach der Geburt mit einem Entzugssyndrom rechnen müssen. Von gelegentlichem Alkoholkonsum erfahren wir selten. Die Neugeborenen fielen durch eine ständige Unruhe auf, die sich durch die üblichen Maßnahmen wie saugen, trinken oder Körperkontakt nicht auflösen ließen. Die Säuglinge zeigen einen erhöhten Muskeltonus, ein unregelmäßigeres Schlafverhalten und ein oft unkoordiniertes Saugverhalten. Faziale (zum Gesicht gehörende) Auffälligkeiten sind in dem Alter schwer zu erkennen, oft misst man aber einen zu kleinen Kopfumfang und die Babys neigen eher zu Untergewicht.

Welche Maßnahmen werden unternommen, wenn der Verdacht auf Alkoholschäden beim Baby bestehen?

Dr. Nikola Klün: Akute Maßnahmen am Neonaten bestehen zunächst einmal in einer reizarmen Umgebung, man bezeichnet das auch als sogenanntes Comfort care. Der Säugling soll nicht mit zu vielen Reizen konfrontiert werden. Kangarooing (enger Körperkontakt mit der Bezugsperson) wirkt oft besser als jedes Medikament. Bei Säuglingen, die unter der Schwangerschaft mehreren Substanzen ausgesetzt waren, kann eine medikamentöse Unterstützung notwendig werdenz.B.mit Morphin.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern?

Dr. Nikola Klün: Da habe ich bis jetzt positive Erfahrungen sammeln dürfen. Wir arbeiten viel mit den sogenannten Frühen Hilfen zusammen, die uns wöchentlich auf den Stationen besuchen und sehen, welche Form der Unterstützung für die Familien notwendig werden. Wichtig ist hier aber auchdie entsprechenden Familien zu erkennen und vorzustellen.

Was muss Deiner Meinung nach getan werden, dass sich die Situation für betroffene Kinder ändert?

Dr. Nikola Klün: Ich war völlig überrascht von dem Ausmaß des Syndroms in Deutschland. Wenn man sich damit beschäftigt, sieht man, wieviele Frauen Alkohol in der Schwangerschaft gelegentlich trinken.

Ich denke, dass das A und O Prävention ist. Wenn die Schwangeren ausreichend aufgeklärt werden, dass jeder Tropfen Alkohol in der Schwangerschaft gefährlich ist, wenn mehr Bewusstsein für das Syndrom geschaffen werden würde, wäre schon viel geholfen. Das heisst also, die Schwangeren früh in der Schwangerschaft auf Alkohol anzusprechen und unterstützend mit dem Thema umzugehen. Da liegt viel Potenzial bei den betreuenden Frauenärzten. Wir Kinderärzte müssen mit offenen Augen arbeitenum zu erkennendann aber auch keine Scheu haben, das Thema anzusprechen und Diagnostik zu leisten. Nur durch die gestellte Diagnose ist den Betroffenen geholfen, nur so können sie die entsprechende Hilfe bekommen, die sie dringend benötigen. 

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

 

Erst der Suizidversuch brachte die Diagnose

Das Kind kommt auf die Welt mit nur einem Ohr, der kleine Finger der linken Hand ist verkürzt, der linke Arm fehlgebildet, außerdem wird Skoliose diagnosdiziert, eine Wirbelsäulenverkrümmung.

Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom?

Nein!

“Es war bekannt, das meine Mutter Alkohol in der Schwangerschaft getrunken und Antidepressiva genommen hat”, sagt der Sohn.

Die Mutter streite das ab. Bis heute.

“Aber mein Vater wusste es. Der hat es mir erzählt. Der ist wütend”, sagt der Sohn.

Im Verlauf der Jahre stellt sich heraus, dass der kleine Justin* nicht nur unter körperlichen Beeinträchtigungen zu leiden hat.

Er kann sich nur sehr schlecht konzentrieren, vergisst sehr viel, kann nicht leisten, was er tun soll und fühlt sich oft genug hoffnungslos überfordert. Justin hat Probleme seine Impulse zu kontrollieren und seine Wutausbrüche sind legendär. Hinzu kommen Schlafprobleme, die Nächte empfindet er als Qual. “Gefühlt werde ich 999 Mal wach”, sagt er.

Wird inzwischen mal der Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom geäußert? Bekommt Justin Therapien, Medikamente?

“Nein”, merkt er kurz und knapp an, nur die Skoliose sei operiert worden.

Das Leben nimmt seinen Lauf. Es dauert nicht lange, dass die Eltern sich scheiden lassen. Justin bleibt bei seiner Mutter, einer Erzieherin, bis er 15 Jahre ist. Dann haut er ab und wohnt für fünf Jahre bei seinem Vater, einem selbständigen Unternehmer. Justin ist kreuzunglücklich, das Leben überfordert ihn in jeder Hinsicht, er bekommt Depressionen. Trotzdem schafft er den Hauptschulabschluss und beginnt eine Ausbildung zum Fachlageristen. Drei Monate vor der Prüfung schmeißt er hin. “Wegen der Psyche”, erklärt Justin. Er nimmt ein zweites Mal Anlauf Fachlagerist zu werden. Wieder Abbruch. Begründung dieses Mal: zu sensibel. Auch die Skoliose zollt Tribut.

Justin fängt an sich selbst zu verletzen. Erste Gedanken nicht mehr leben zu wollen befallen ihn. Justin hält es nicht mehr aus beim Vater und flüchtet zur Mutter. Doch auch hier geht es ihm nicht besser. 21 Jahre ist er, als er sich umbringen will. Der Suizidversuch mißglückt, setzt aber auf wundersame Weise innere Kräfte frei. Justin weist sich selbst in die Psychiatrie ein.

“Dort habe ich sehr viel über mich erfahren”, sagt er. Dort stellt man ihm auch endlich die Diagnose: Fetales Alkoholsyndrom im Vollbild, gepaart mit schweren Depressionen.

Wirkliche Hilfe bekommt er offenkundig nicht – es folgen weitere Aufenthalte in einer anderen Psychiatrie. Dort erhält er noch eine Diagnose on top: Borderline.*

Medikation? Begleitende Therapien? “Nur Antidepressiva”, berichtet Justin. Und weiter: ” Ich wollte das nicht. Dann habe ich sie doch genommen und bin voll abgeschmiert. Das ist mir nicht bekommen. Ich habe denen gesagt, dass sie mir Cannabis verschreiben sollen, weil ich damit im Alltag ganz gut zurecht komme.”

Inzwischen lebt Justin allein in einer Wohnung mit zwei Wellensittichen. Ab und an kommt eine Betreuerin vorbei oder er fährt zu ihr. Sie befürwortet einen Umzug in eine betreute Wohngemeinschaft. Bei einem seiner Elternteile zu wohnen ist keine Option mehr. “Sie kommen beide mit meiner Psyche nicht klar”, erklärt Justin. Und Justin möchte es auch selbst nicht: “Sie streiten so viel, das überfordert mich.”

Im August wird Justin ein drittes Mal Anlauf nehmen für eine Ausbildung. Dieses Mal zum Sozialassistenten. Das liegt ihm deutlich mehr: “Ich glaube, das passt gut zu mir, weil ich besonders gut darin bin mich in andere Menschen hineinzuversetzen und zuzuhören.”

Wenn Justin sein bisheriges Leben Revue passieren lässt, dann “wundert es mich schon, dass ich vorher nie in psychologischer Behandlung war” – Diagnose Fetales Alkoholsyndrom hin oder her. Die Beeinträchtigungen hat es ja schließlich gegeben und gibt es bis heute. Aber so, wie die eigene Mutter wider besseres Wissen abstreitet Alkohol während der Schwangerschaft getrunken zu haben, so verständnislos reagiert auch die weitere Verwandtschaft. “Es wird immer wieder gesagt, ich soll mich nicht auf der Diagnose ausruhen. Dabei tue ich das doch gar nicht. Ich habe es ihnen immer und immer wider erklärt, wie das ist mit FAS, inzwischen habe ich keine Lust mehr”, klagt Justin. Sein Vater sei sauer auf Justin’s Mutter, dass sie alles abstreitet. “Aber ich merke ihr an, dass sie ein schlechtes Gewissen hat”, sagt Justin.

Er selbst habe akzeptiert, dass er krank sei: “Ich rede da offen drüber.” Wenn man sich mit den speziellen Beeinträchtigungen auseinandersetze und entsprechend damit umgehe, dann “ist das Leben trotzdem ein schönes”.

Justin möchte möglichst vieles über das Syndrom erfahren. Als er liest, dass in Deutschland jedes Jahr 10.000 Babys mit Alkoholschäden geboren werden, dass inzwischen 300.000 Betroffene damit leben müssen, ist er maßlos entsetzt: “Bitte was? Ich dachte, das haben nicht so viele.”

P. S. Entsetzt ist Justin nicht zuletzt als er erfährt, dass er eine fragwürdige Doppeldiagnose – Fetales Alkoholsyndrom plus Borderline – bekommen hat. Schon seine Betreuerin hatte an der Diagnose Zweifel angemeldet. Nun will sich Justin an ausgewiesene Experten des Fetalen Alkoholsyndroms wenden; dies auch im Hinblick auf eine angemessene Medikation und Unterstützung.

In diesem Zusammenhang wird auf folgenden Beitrag hingewiesen:

https://www.researchgate.net/publication/318707736_FAS_-_die_nicht_gestellte_Diagnose_und_die_Konsequenzen_fur_die_Sozialpsychiatrie

*Name ist geändert

Autorin: Dagmar Elsen

Plötzlich die Schockdiagnose

Steht den Kindern nicht schon bei der Geburt ins Gesicht geschrieben, dass sie das Fetale Alkoholsyndrom haben, oder ist dem Arzt nicht bekannt, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat, dann bleiben alkoholbedingte Behinderungen oft genug bis ins Schulalter hinein unerkannt.

Den Kindern und ihren Eltern, sowie allen anderen Menschen in ihrem Umfeld ist zwar bewusst, dass sie beispielsweise Verhaltens- und Lernstörungen haben, manches nicht gut oder gar nicht können so wie andere. Dennoch führen die Kinder jahrelang ein “normales Leben unter normalen Menschen”. Als behindert gelten andere, eben jene, denen man ihr Handicap sofort ansieht oder anmerkt. Und dann kommt der Tag, an dem die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern plötzlich die Schockdiagnose ereilt: Ihr Kind hat das Fetale Alkoholsyndrom (FAS).

Weder Eltern noch ihren Sprößlingen war dieses Krankheitsbild in aller Regel besonders vertraut. Sie betreten ein Neuland, das obendrein sehr komplex und kompliziert ist. Zudem ist FAS eine Diagnose, die das Leben aller Beteiligten für die Zukunft komplett verändert. Ängste und Sorgen beherrschen die Gedanken aller.

Wie bereiten sie die Kinder und Jugendlichen auf die Diagnose vor? Und welche Reaktionen zeigen sie?

Dr. Murafi: Wir führen ein ausführliches Aufklärungsgespräch mit den Kindern und Jugendlichen, altersgemäß sprachlich angepasst an das Entwicklungsalter und die kognitiven Ressourcen der Betroffenen.

Teilweise nutzen wir dazu auch Videomaterial aus dem Internet, zum Beispiel das Video „Max und das Fetale Alkoholsyndrom (FAS)“https://www.youtube.com/watch?v=zzjxrROycmE.

Die Reaktionen sind zweischneidig. In den meisten Fällen sehen wir auf der einen Seite natürlich emotionale Betroffenheit, gepaart mit dem Gefühl, dass in einer frühen Phase des Lebens etwas schief gegangen ist, dass die Betroffenen keine ausreichende Fürsorge erfahren haben. Dies führt oftmals sowohl zu Kränkungen und Verletzungen, Enttäuschung, Wut und Ärger, als auch zu Schuldgefühlen. Das liegt darin begründet, dass die Kinder meist nicht gut aushalten können, dass andere für sie verantwortlich und sie somit abhängig, hilflos und ohnmächtig waren. Die Folge ist, dass sie das Gefühl haben, dass es nur an ihnen gelegen haben kann, dass die Mutter sie während der Schwangerschaft nicht ausreichend fürsorglich behandelt hat.

Auf der anderen Seite sind viele Kinder auch entlastet. Nach einer späten Diagnose haben die meisten von ihnen lange Jahre sehr mit sich gerungen ihre Defizite zu überwinden. Scham- und Schuldgefühle waren ihre ständigen Begleiter, da sie viele altersgemäße Entwicklungsziele nicht einfach erreichen konnten – zum Beispiel im schulischen Kontext oder durch ihr Verhalten. Dass sie den Ärger und die negative Bewertung ihrer sozialen Umwelt auf sich gezogen haben, gehörte zu ihrem täglichen Brot. Nun endlich erhalten sie erstmalig ein Erklärungsmodell, das für sie eben auch eine entlastende Wirkung hat.

Wie reagieren die Eltern auf die Diagnose?

Dr. MurafiIn den meisten Fällen haben ich in meinem klinischen Kontext mit Adoptiv- und Pflegeeltern zu tun. Diese reagieren zunächst entlastet, da ihnen das neue Verständnis auch die Möglichkeit gibt zu verstehen, warum viele ihrer gut gemeinten und intensiv eingebrachten Hilfestellungen nicht immer ausreichend Wirkung entfalten konnten.

Zumeist dominieren aber Traurigkeit und Verzweiflung die Gefühle. Immerhin wird allen Beteiligten klar, dass ein Teil der entstandenen Probleme hätte verhindert werden können, wenn man gewusst hätte, dass es sich bei den Verhaltensstörungen und -auffälligkeiten um das Ergebnis neurologischer Schäden handelt.

Darüber hinaus und im besonderen macht den Eltern zu schaffen, dass auch der weitere zu begleitende Weg mit Sicherheit nicht einfach sein wird. Hierbei kommt erschwerend hinzu, dass es für FAS keine einfache spezifische Behandlung gibt. Vielmehr ist es so, dass man lediglich versuchen kann, den komplexen individuellen Anforderungen gerecht zu werden, soweit dies eben möglich ist.

Was kann ihnen helfen mit der Diagnose umzugehen? Was raten Sie den Kindern und Jugendlichen persönlich? Was raten Sie den Eltern?

Dr. Murafi: Allen gemeinsam rate ich die vollständige Akzeptanz der Diagnose. Es ist ganz wichtig, dass mit der Diagnose frühzeitig Frieden geschlossen wird, dass akzeptiert wird, dass es eine Entwicklung gab, die eine solche Erkrankung hervorgerufen hat. Die durchaus nachvollziehbaren emotionalen Betroffenheiten und die sich immer wieder darstellenden Schuldthemen sind am Ende des Tages wenig förderlich für den therapeutischen Verlauf.

Das heißt im Klartext: Alle sollten möglichst pragmatisch mit der Diagnose umgehen. Das bedeutet, individuelle Förderpläne zu erstellen und immer wieder im besonderen die kleinen positiven Schritte der Entwicklung des Schützlings in den Vordergrund zu stellen. Dabei sollte sich natürlich immer angemessen an den Defiziten des Schützlings orientiert werden. Frühzeitiges Erkennen der Defizite ermöglicht frühzeitige Behandlung und damit Schutz vor unnötiger seelischer Qual.

Bei den Kindern und Jugendlichen werde ich oft mit dem Thema konfrontiert, dass sie sich die Frage stellen, ob man ihnen in der Öffentlichkeit, zum Beispiel aufgrund der Stigmata im Gesicht, das FAS ansehen könne. Hier kann ich zumeist beruhigend auf die Kinder eingehen und ihnen vermitteln, dass dies nur durch Experten erkannt werden kann. Ich kann wirklich beruhigen: Im allgemeinen ist niemand derartig auffällig und könnte durch die soziale Umgebung zugeordnet werden.

Im übrigen ist mir sehr positiv aufgefallen, dass die betroffenen Kinder in Gruppen sehr offen in den Austausch miteinander gehen, oftmals sogar relativ unbefangen einen Umgang mit dem Thema finden, sich gegenseitig befragen, ob man ihnen FAS ansehen kann.

Welche begleitenden Massnahmen halten sie nach der Diagnose und Erstbehandlung für die Betroffenen und ihre Familien für sinnvoll und erforderlich?

Dr. Murafi: Neben den spezifischen Maßnahmen – zum Beispiel bei Aufmerksamkeitsstörungen, motorischer Entwicklungsverzögerung, Sprachentwicklungsverzögerung, Zahnstatus, organischen Problemen (Herz, Niere, Augen, Ohren) etc., den spezifischen pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen – braucht es mit Sicherheit für die gesamte Familie eine gute stabile psychotherapeutische Begleitung auf dem gemeinsamen langen Weg. Psychotherapeutische Unterstützung hilft im besonderen, die immer wieder stark aufkommenden Emotionen, Frustrationen und Rückschläge einzuordnen. Wichtig ist darüber hinaus, dass alle Familienmitglieder gemeinsam auf einen, die positiven Beziehungsaspekte erhaltenden Weg, begleitet werden. Ein solche, vertrauensvolle langfristig angelegte Beziehung, erscheint mir eines der wirklich hilfreichen Interventionen in der Begleitung von Familien mit FAS-Kindern zu sein.

Autorin: Dagmar Elsen

FAS-Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten

Die Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms ist selbst für Experten in vielen Fällen eine medizinische Herausforderung. Das liegt daran, dass die Diagnose sich nur vordergründig als einfach darstellt, etwa wenn das Kind körperliche Schädigungen aufweist – beispielsweise einen verminderten Kopfumfang, ein stark abgeflachtes Mittelgesicht, schmale Oberlippe oder Lidspalten, ein deformierter kleiner Finger, oder auch nach hinten gedrehte Ohren. Derlei körperliche Beeinträchtigungen müssen aber nicht zwingend im Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) begründet liegen. Sie können durchaus auf andere Ursachen zurückzuführen sein.

Insofern muss eine Diagnose zunächst einmal mit der Frage beginnen: Hat die biologische Mutter während der Schwangerschaft, zu welchen Zeitpunkten und in welchen Dimensionen Alkohol getrunken? Dies im Nachhinein herauszufinden ist beim Großteil der Fälle schon allein deshalb nicht möglich, weil FAS-Kinder in den meisten Fällen nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen.
Und selbst wenn der Alkoholkonsum der Mutter bekannt sein sollte, ist eine gesicherte Diagnose dennoch schwierig. Hierzu bedarf es nicht nur einer eingehenden körperlichen Untersuchung, sondern zahlreicher Tests der Intelligenz, des Gedächtnisvermögens, der Konzentrationsfähigkeit.

Eine weitere, ganz wichtige Rolle bei der Diagnose spielen all diejenigen, die mit dem Kind leben, es großziehen. Das sind im wesentlichen die leiblichen, Pflege- oder Adoptiveltern, Verwandte, Erzieher in Kindergärten sowie Lehrer in Schulen und Sportvereinen. All ihre zusammengetragenen Erfahrungen über das Kind und ihre Beobachtungen sind hinsichtlich der Verhaltensauffälligkeiten und damit der Diagnosestellung von immanenter Bedeutung. Es kostet also erheblich Zeit, die Diagnose stellen zu können.

Zur Erleichterung der Diagnose wurde 2013 die sogenannte S3-Leitlinie erstellt. Sie hat die einheitlich und wissenschaftlich basierten Kriterien gelistet. Erarbeitet wurde die Leitlinie von einer Kommission von Fachleuten der Kinderheilkunde, der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Hebammen, Vorsitzenden von Fachgesellschaften und Elterninitiativen. Die Dokumentation wurde von Dr. Mirjam Landgraf und Professer Dr. Florian Heinen übernommen, unterstützt von der Bundesregierung.

Jenseits der Diagnostik körperlich eindeutiger Symptome – können Eltern von Babys oder Kleinkindern Beobachtungskriterien an die Hand gegeben werden, wie sie FAS am ehesten ausmachen?
Dr. Murafi:
Natürlich zeigen sich schon ganz früh Verhaltensauffälligkeiten. So kann die Reagibilität, das heißt die Reaktionsfähigkeit, wie das Kind mit äußerlichen Reizen umgeht, erhöht sein. Das bedeutet einerseits, dass sie leicht irritabel sind, zu vermehrtem Schreien neigen, das kaum stillbar erscheint. Auch Schlaf kann nicht regelmäßig stattfinden. Außerdem kommt es zu Fütterungsstörungen. Andererseits kann es dazu kommen, dass die Kinder eher schlapp wirken, wenig agil sind. Sie zeigen wenig Spontanmotorik, wenig Mimik, wenig Blickkontakt oder Resonanz.
Oftmals kommen Infekte dazu, fallen Hör- und Sehstörungen auf. Die motorische Entwicklungsverzögerung geht mit muskulärer Spannungsschwäche einher. So zeigt sich in der Folge eine Diskrepanz zwischen allgemeiner notorischer Unruhe und reduzierter, gezielter Fortbewegung der kleinen Kinder.

Was macht die Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern so schwierig? Bei welchen Krankheitsbildern besteht die größte Verwechselungsgefahr?
Dr. Murafi:
Grundsätzlich muss man voranstellen, dass es sich bei dem Fetalen Alkoholsyndrom eben um ein Syndrom handelt, also um die Kombination unterschiedlicher Symptome zu einem immer wieder gemeinsam auftretenden Muster.
Diese Einzelsyndrome können natürlich auch im Rahmen anderer Syndrome, anderer unspezifischer Entwicklungen oder anderer Normvarianten auftreten. Das heißt, die Kriterien von Syndromen sind nur dann erfüllt, wenn eine bestimmte Anzahl der häufig vorkommenden Symtome gleichzeitig zusammentrifft.
Insofern kann es aufgrund der fehlenden Spezifität der Symptome schwierig sein, eine exakte Diagnose zu stellen.
Ganz am Anfang, direkt nach der Geburt, kann auch einmal eine Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) als Verwechselung mit dem Fetalen Alkoholsyndrom auftreten. Diese geht ebenfalls mit Kleinwuchs und Gesichtsdysmorphien sowie schwerer psychomotorischer Entwicklungshemmung einher. Im Verlauf des ersten Lebensjahres ist eine Unterscheidung aufgrund der für Trisomie 18 schlechten Prognosen jedoch relativ eindeutig möglich.

Prinzipiell lässt sich aber sagen: Bei Zusammentreffen einer positiven Sozialanamnese für Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und den beschriebenen syndromtypischen Symptomen sollte heutzutage eine Diagnose relativ gut zu stellen sein.

Ist die Diagnose FAS oder FASD gestellt, welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Welcher Bedeutung kommt der medikamentösen Behandlung zu?
Dr. Murafi:
Die Therapie ist zumeist symptomatisch ausgerichtet, das heißt, dass je nach den körperlichen Beeinträchtigungen am Anfang operative Korrekturen zum Beispiel von Gaumenspalten, Herzfehlern, Hernien (Durchbruch von Baucheingeweiden) oder Korrekturen von Seh- und Hörstörungen im Vordergrund stehen.
Jegliche Förderung des jeweils behinderten Organsystems, zum Beispiel die motorische, die ergotherapeutische Förderung, etc. kann hilfreich sein.

Bezogen auf die Medikation kann sowohl die mitauftretende Hyperaktivität oder Aufmerksamkeit- und Konzentrationsstörung behandelt werden. Im späteren Verlauf gilt das auch für Affekt- und Impulskontrollstörungen, teilweise ebenso bei depressiven Entwicklungen oder vermehrten Stimmungsschwankungen.

Desweiteren ist auf die Komorbiditäten – zusätzliche Grunderkrankungen – zu achten. Nicht selten ist es so, dass Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom erleben mussten, dass ihre Mütter auch mit einer genetischen Disposition für psychiatrische Erkrankungen belastet sind – beispielsweise einer Depression oder einer bipolaren Störung, einer manisch-depressiven Erkrankung. Hier kann es im Rahmen der Krankheitsentwicklung auch nach der Schwangerschaft zu übermäßigem Alkoholkonsum der Mutter kommen.
Dann bedarf es der dringenden differentialdiagnostischen Einschätzung sowie der möglichen spezifischen Behandlung der komorbid vorhandenen Erkrankung.

Autorin: Dagmar Elsen