Beiträge

Damals hat man als Vater kaum eine Chance gehabt

Trotz all ihres empfundenen Unglücks, ihrer Pein und ihrer Sorgen um ihre FASD-Kinder haben Pflegemütter und Pflegeväter einen entscheidenden Vorteil gegenüber leiblichen Eltern: Sie sind frei von Schuldgefühlen, das eigene Kind geschädigt zu haben. Was aber ist mit den leiblichen Eltern? Wie gehen sie mit ihrer Verzweiflung, ihrer Scham und ihrem Kummer um? Es gehört unglaublich viel Mut dazu, sich dieser Thematik Dritten gegenüber zu stellen. Erst recht unter vollem Namen, noch dazu, wenn man nicht ganz unprominent ist. Millionen Deutsche kennen Jasper, den Pinguin, ein Star des Kultprogramms „Die Sendung mit der Maus”. Ganz zu schweigen von der Trickfilmreihe „Werner – das muss kesseln“. Udo Beissel, der Regisseur und Drehbuchautor hat die Gestalten mit zum Leben erweckt. Ja, das ist die glorreiche Seite seines Lebens. Die unrühmliche, die das Leben immer wieder zur Hölle gemacht hat und immer noch macht, der hat er sich, der er sich inzwischen bis aufs Messer für FASD-Betroffene einsetzt, mutig in einem Gespräch gestellt.  

Udo Beissel ist Vater dreier Söhne und will sich gar nicht vorstellen, was wäre, wenn die Mutter seiner beiden älteren Jungs die Diagnose eines Fetalen Alkoholsyndroms beim jüngeren und die Verdachtsdiagnose beim älteren noch erlebt hätte. Denn sie sei zum Zeitpunkt ihres Todes 2015 eine therapieresistente Alkoholikerin gewesen, die ihre Sucht schon immer verharmlost habe. Sie sei weder bereit noch fähig gewesen wäre, ausgerechnet jetzt dafür Verantwortung zu übernehmen. Dass es einen Zusammenhang zwischen fetalen Alkoholschäden und den immer krasser werdenden Schwierigkeiten bei der Verselbstständigung ihrer inzwischen erwachsenen Söhne geben könnte, hätte sie mit Sicherheit geleugnet, vermutet er und sagt: „Ihre Familie tut es bis heute.“ 

Wie viele andere betroffene Angehörige ist auch der in Hamburg lebende Udo Beissel eher zufällig auf diesen Zusammenhang gestoßen. Seine damalige Lebensgefährtin hatte zum ersten Mal einen Verdacht geäußert. Bis dahin hatte es zwar schon allerlei Frühförderungen, Schulprobleme, ADHS-Diagnosen, Einzel- und Familientherapien gegeben. Auch hatte sich – ausgelöst durch Cannabis-Konsum – die psychische Erkrankung des jüngeren schon etabliert, so dass sich viele seiner Probleme allein dadurch erklären ließen. Die Eskalation von Geld- und Drogenproblemen und die zur Regelmäßigkeit werdenden Abbrüche aller Formen von Arbeit und Ausbildung hatten jedoch weder die Lebensgefährtin noch die Mutter mitbekommen. Auch dem Vater wurde erst mit dieser Diagnose bewusst, welchen Anteil der Alkoholkonsum der verstorbenen Mutter daran hat, dass bestimmte irreversible Defizite schon seit Geburt bestanden. 

Nach der Diagnose war die Erleichterung erst einmal groß, endlich zu wissen, warum alles immer so anstrengend gewesen war und dass es noch eine andere Erklärung für die zahlreichen familiären Dysfunktionalitäten gab. Doch schnell folgte die harte Selbsterkenntnis, dass manche Entscheidung hätte anders gefällt werden müssen. Es stellten sich die gnadenlose Fragen: Hätte sich bei intensiverer Fürsorge manches vermeiden lassen? Hat das Unwissen nicht weitere Traumatisierungen bewirkt? Durch permanente Überforderung? Falsche Erwartungen? Beinahe tägliche Überreaktionen auf die typischen Defizite einer solchen Behinderung? Wäre zumindest die Entwicklung von psychischen Erkrankungen, die schon bald im Vordergrund standen und sowohl den Alltag bestimmten als auch regelmäßige psychiatrische Versorgung erforderten, vermeidbar gewesen?  

„Bei aller Erkenntnis, dass man dieses Ausmaß nicht hätte ahnen können“ macht sich der Vater heute trotzdem gelegentlich Vorwürfe: „Hätte ich von fetalen Alkoholschäden gewusst und wäre ich damals so wehrfähig gewesen wie heute, hätte ich schon ein Jahr nach unserer frühen Trennung sagen müssen, ich nehme die Kinder und schmeiß’ meine Karriere. Das habe ich nicht konsequent genug durchgesetzt und da bin ich auch nicht stolz drauf.”

Stattdessen ließ er zu, dass die Kinder in den ersten Jahren hauptsächlich bei der Mutter lebten. Udo Beissel, inzwischen 61 Jahre alt: “Ich war zwar beim Jugendamt und habe die Mutter angeschwärzt, dass sie ständig betrunken ist und die Kinder verwahrlosen. Aber da hieß es immer nur – die Mutter ist die Mutter. Lieber eine “nicht so gute als gar keine.“ Damals stand das ‘Mutter-Argument’ noch über allem, man habe als Vater kaum eine Chance gehabt. 

Erst einen längeren Aufenthalt der Mutter in der Psychiatrie konnte er nutzen, die Kinder dauerhaft zu sich zu holen. Da waren die Kinder bereits gute vier bzw. fünf Jahre alt. Das alleinige Sorgerecht habe er aber trotz psychischer Erkrankung und zunehmenden Alkoholproblemen der Mutter nie bekommen. Noch nicht einmal das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Dadurch “haben die Kinder öfter als es verantwortlich gewesen wäre, den Verfall ihrer Mutter miterlebt.” Und das bis zu ihrem Tod. Da waren die beiden schon erwachsen. Udos bittere Bilanz: “Den Schaden, den allein das angerichtet hat, kann ich mir heute jeden Tag angucken. Das ist nicht einfach.”

Aber zurück auf Start der Familiengeschichte. Man war Anfang dreißig und genoss die Lebenslust und Freizügigkeit der Künstlerszene. Alkohol sei da nichts Besonderes gewesen und geraucht wurde „wie nichts Gutes“. Und dann, ja, wie das Leben so spielt, plötzlich schwanger. Udo: “Es war zwar nicht geplant, aber abhauen gilt nicht. Und warum eigentlich nicht jetzt? Der Job stimmte, die Mutter war eine heiße Liebe, es gab viele Gemeinsamkeiten. Zudem sei sie beim ersten Kind so richtig aufgeblüht und hat sich erst mal verhalten wie die meisten Frauen, die dann zurückschalten, auch mit Kippen und Alkohol.“

Wie immer mehr werdende Väter zu der Zeit ging der werdende Vater mit zum Frauenarzt, der, so Udo, wörtlich meinte: “Wenn Ihre Frau bis jetzt geraucht und getrunken hat, dann sei das okay, aber sie sollte es schon reduzieren. Sie müsste nicht ganz aufhören. Das wäre für das Kind ja auch Stress. Den Stress, den sie selbst hätte, wenn sie ganz aufhören würde, den würde sie ja an das Kind weitergeben.” Aus heutiger Sicht war das für Udo ein Freibrief dafür, dass seine Frau zum Essen oder zur Entspannung mal ein Glas Wein trinken und eine Zigarette dabei rauchen durfte. 

Wie Udo heute weiß, war es wohl meistens wesentlich mehr. Er hatte es beim ersten Kind nur nicht so wirklich mitbekommen: “Ich war beruflich ein halbes Jahr in Korea und durfte alle paar Wochen auf Heimaturlaub, dann wieder sechs Wochen weg, wieder kurz da, wieder weg, usw.” Inzwischen weiß er von einem Freund, der ihm seine Aussage als Unterlage für eine FASD-Diagnose sogar schriftlich gegeben hat, dass sie mehr getrunken hat, als der Arzt wohl erlaubt hätte. “Damals hat man ja noch nicht gewusst, dass man gar nichts trinken sollte.”

Biographie-Sprung wieder zur zweiten Schwangerschaft. “Da hatten wir richtig Stress wegen des Rauchens und Trinkens. Sie wollte dieses Kind nicht. Sie hat es anfangs sogar versucht wegzutrinken. Dass sie es so sehr nicht wollte, das habe ich unterschätzt. Ich hatte ihr dann gesagt, mach‘ es lieber weg. Aber da war es schon zu spät, sie war schon im vierten Monat.“ Als das zweite Kind auf die Welt kam, zeigte die Hebamme dem Vater den schon sehr abgestorbenen Mutterkuchen mit dem Hinweis, der verlöre bei Raucherinnen schneller seine Funktion. Udo wundert sich bis heute, dass von Alkohol überhaupt keine Rede gewesen sei. Und so sei im Gelben Heft lediglich vermerkt worden, dass das Kind anfangs kleiner und schmächtiger war wegen des Rauchens. Das blieb dann so, bis zur Pubertät. Das gelbe Heft ging irgendwann irgendwo verloren.

Mit dem zweiten Kind habe sich relativ schnell herausgestellt, dass die Mutter völlig überfordert war. Ihre psychische Erkrankung brach sich jetzt so richtig Bahn, ebenso der Alkoholkonsum. Es folgte die Trennung und mit den Jungs ein ewiges Hin und Her mit viel Stress. In einer manischen Phase habe sie ihren Traum von einem sonnigen Leben auf Mallorca umgesetzt. Udo wollte sie zunächst verklagen, hat aber dann das halbe Sorgerecht gegen seine Zustimmung getauscht. Mit der kühlen Kalkulation: „Wenn sie da besser leben kann, ist das für die Kinder gut und ich werde mir einen zweiten Wohnsitz basteln. Wenn sie es nicht schafft, sind die Kinder nach ein paar Monaten bei mir.“ Es war letzteres und hatte genau vier Monate gedauert. In einer der Manie folgenden schwer depressiven Phase holte er die schon verwahrlosten Kinder ab, löste die Wohnung auf und schickte die Mutter zu ihrer Familie, die sie zunächst in die Psychiatrie einwiesen. 

Nach einem Jahr kam sie nach Hamburg zurück. Das Gerangel um das Sorgerecht ging wieder los, nur dass die Kinder jetzt beim Vater lebten. Kein therapeutischer Erfolg. Kein Erfolg dabei, sich jetzt wenigstens das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu besorgen. “Irgendwann hat sie sich dann wieder abgesetzt, diesmal nach Teneriffa und ohne die Kinder. Wieder war es die Sonne und überhaupt die südliche Lebensart. Das würde ihr Leben ändern.“ Als das erhoffte Glück nach mehreren Jahren nicht eingetreten war – die Jungs haben sie nur wenige Male besucht – kehrte sie 2015 „recht runtergerockt“ wieder zurück in die Hansestadt und hauste in einem billigen Hotel hinter der Reeperbahn. Ihr Wohnzimmer war die Hotelbar. Da seien dann auch die Kinder hin, wenn sie ihre Mutter hin und wieder sehen wollten. Es habe zwar eher weniger Mutterliebe gegeben, aber dafür einen Extra-Zwanni; meistens. 

„Das war ein einziges Elend”, erinnert sich Udo, “ich habe sie immer mehr gehasst und mich selbst auch, am meisten dafür, weil ich es nicht verhindern konnte. Hass zwischen Eltern ist für Kinder unverdaulich. Das können sie überhaupt nicht verarbeiten. Das kompensieren sie über alle möglichen Sachen. Ich habe zwar mit den Jungs darüber geredet, als sie älter waren. Es gab auch Verständnis. Aber gelöst ist das Ganze nicht.” Immerhin sei mit ihrem Tod endlich der Hass auf sie entschwunden. Trauer habe er keine empfunden, nur Erleichterung. 

Zwischen alleinerziehend und alleinerziehend gab es einige Jahre Patchworkfamilie mit der Frau seines gerade geborenen dritten Sohnes. Udo: “Die Rollen waren dabei klar. Ich gehe schuften und bringe das Geld nach Hause, sie nimmt noch meine beiden anderen Kinder unter die Fittiche.” Die Trennung folgte nach einigen Jahren. „Wir haben es leider nicht hinbekommen, das zu meistern.“ Mit der abrupt einsetzenden Pubertät der Jungs verschlimmerten sich die Verhaltensauffälligkeiten, was unter anderem mehrere Schulwechsel nach sich zog. 

Erst Udos nächste Partnerin, eine Kinderpsychologin, kam auf die Spur, dass es sich nicht nur um soziale Defizite und Traumata handeln könnte, sondern um fetale Alkoholschäden. Sie schleppte den Vater auf ein Fortbildungsseminar. Alles, was er dort hörte, passte auf seine Jungs. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt bei einem der Söhne eine erste Psychose durch Drogenmissbrauch ausgebrochen. “Das hat die folgenden Jahre den Verdacht auf fetale Alkoholschäden verdeckt”, kommentiert Udo. Erst als die Jungs volljährig waren, das dritte Kind mit zwölf Jahren kognitiv und emotional schon reifer war als die beiden älteren, es bei ihnen sogar Entwicklungsrückschritte gab, sei der Groschen gefallen. 

Zu spät für die Jungs. “Wer will schon eine solche Diagnose angehängt kriegen als junger Mann? Zumal der Vater der Einzige zu sein scheint, der das dauernd überall erwähnt. Alle anderen im persönlichen Umfeld haben noch nie davon gehört, finden das Gewese darum übertrieben oder ignorieren es einfach“, beschreibt Udo die Situation. Das sei den Jungs gerade recht gekommen: Man sei doch nicht behindert und hofft, dass der böse Traum irgendwann vorbei ist und der Vater sich ein neues Hobby suche, beschreibt Udo Beissel die Einstellung seiner Söhne. 

Inzwischen sind die beiden Jungs 27 und 28 Jahre alt, arbeitslos, bzw. arbeitsunfähig nach diversen Abbrüchen und Rausschmissen, nehmen dauerhaft wechselnde Psychopharmaka, haben ein Drogenproblem und landen immer wieder in der Psychiatrie. Es gab medizinische Rehas, überforderte gesetzliche Betreuer, ambulante Unterstützungen wären nötig, werden aber von den Söhnen abgelehnt. Die Realität sehe so aus: Ohne Drogentherapie keine Eingliederungsmaßnahmen, ohne Compliance keine Nachsicht in egal welchem Umfeld, wenn wieder mal Regeln nicht eingehalten wurden. Udos ernüchterndes Fazit: „Ziemlich alles wurde versucht, nichts hat funktioniert.“ 

Immerhin, auch wenn es ein schwacher Trost sei, sieht der Vater klarer. Seit dem Wissen um die hirnorganischen Schäden gehe man anders mit den Jungs um. Der Dreifach-Vater: “Wenn man nicht weiß, dass man Kinder mit FASD hat, dann überfordert man sie ja ständig und nimmt Provokationen und Beschimpfungen persönlich. Willst Du nicht oder kannst Du nicht? – das war irgendwann mein Lieblingsspruch, wenn alltäglichste Vereinbarungen wieder wie vergessen waren. Und das hat man ja eher gebrüllt, mit pochender Halsschlagader und Blutrauschen im Ohr. Und wenn ich dann in den Spiegel geschaut habe, habe ich mich gefragt, bin ich das noch, war ich das eben?”

Wie hat die weitere Familie auf die Diagnose reagiert? Udo Beissel: “Die Geschwister der Mutter wussten immer, dass ihre Schwester schwer psychisch krank ist, sie wussten, dass sie ein Alkoholproblem hatte. Als ich dann kam und sagte, die Kinder haben FASD, haben die gesagt, das stimmt nicht. Eigentlich wäre ich schuld. Die Jungs hätten doch die meiste Zeit bei mir gelebt. Du hast versagt. Inzwischen habe ich es aufgegeben sie zu überzeugen. Es gibt kaum noch Kontakt zu den Kindern. Traurig das alles.”

Und wie gehen die Jungs selbst damit um? Udo: “Der Ältere lebt zunehmend in einer Blase, in die bald keiner mehr hineinfindet. Seine Betreuer waren bisher schon damit überfordert, allein seine Lage richtig einzuschätzen. Hilfe bräuchte er keine, zu einer Therapie kommt es erst gar nicht. Seine paranoide Schizophrenie vernebelt zusätzlich seine kognitiven Fähigkeiten. Der Jüngere versucht immer wieder, doch mehr aus seinem Tag zu machen. Ihn frustriert es, wenn er das trotz einiger Ressourcen immer wieder nicht schafft, versucht es aber – chapeaux – immer wieder.“ Er habe inzwischen eingesehen, dass Drogen alles noch schlimmer machten und lasse sich auf vieles ein. Auf jeden Fall eine Chance, die der Vater mit allem unterstütze, weil er fest daran glaubt, dass er mit dieser Einstellung und der richtigen Hilfe ziemlich normal leben könnte, vor allem zufriedener. 

Beide Jungs reden sie nicht gerne darüber, dass sie Probleme haben. Aus Scham, aber auch aus mangelnder Selbsteinschätzung. „Sie lernen nicht wirklich aus ihren Fehlern”, so der Vater. Jeder lebe in einer kleinen Wohnung, finanziert aus einem Erbe, das bald zur Neige geht.” Trotz Mitgefühl und Verständnis seien die Grenzen des Kümmerns erreicht. Udo meint, es würde erst dauerhaft besser und lebenswert für beiden Seiten, wenn sie in einem Umfeld leben, welches die Strukturen eines Dorfes nachahmt und die Geborgenheit einer Großfamilie ausstrahlt: „Vielleicht schaffe ich dahingehend noch was, bevor der Kalk rieselt.“ 

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Du bist volljährig – sieh’ zu, wie Du klar kommst

Jenny, wie sie zumeist genannt wird, mit 25 Jahren eigentlich noch ein Küken, ist „wahrhaftig aber schon eine alte Seele“, wie sie über sich selbst sagt. Im Gespräch mit ihr wird schnell klar, warum sie das meint. Ihre Biografie ist alles andere als mal eben mit ein paar Zeilen beschrieben. Jenny kommt aus sehr gutem hanseatischem Hause. Als ihre Eltern sich in einer Klinik kennenlernen, brennen sie sofort leidenschaftlich füreinander. 1996 erblickt Jenny das Licht der Welt und das Drama, in dem sie die Hauptrolle spielt, beginnt. 

Schon nach der Geburt macht Jenny ihren ersten Entzug durch. „Meine Mutter ist Alkoholikerin“, sagt Jenny, „und will angeblich von der Schwangerschaft nichts gewusst haben bis zum Ende des achten Monats, als der Arzt ihr verkündet, dass sie bald ein Kind bekommen werde. Heißt, ich bin neun Monate im Alkohol geschwommen“, kommentiert Jenny trocken, „für die Verhältnisse bin ich körperlich eigentlich noch gut weggekommen.“ Jennys Zehen sind nicht fertig ausgebildet, sie sind zusammengewachsen, die Zehennägel fehlen fast komplett. Außerdem hat sie drei Nieren, was Jenny „eigentlich ganz praktisch findet“. Und: „Im Gesicht sieht man es mir auch an.“ Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Jenny in Berlin und ist eine gefragte Synchroncutterin und Music-Artist.

Jenny, was weißt Du über Deinen Start ins Leben?

Jenny: Nach der Hochzeit meiner Eltern hat sich mein Vater recht schnell von meiner Mutter getrennt. Ist ja auch nicht leicht, mit einer Alkoholikerin zusammenzuleben. Ich lebte also alleine bei ihr. Sie hat mich logischerweise völlig vernachlässigt. Ich habe nur geschrien, weil ich einen Entzug durchgemacht habe. Nach etwa eineinhalb Jahren hat sich die Nachbarin zum Glück ans Jugendamt gewandt und gesagt, wenn sie jetzt nicht eingreifen, dann stirbt dieses Kind. Meine Mutter hat mich ja auch in Kneipen vergessen. Wie das halt so läuft.

Die vom Jugendamt haben mich dann auch da rausgeholt, von einem zum Nächsten weitergereicht. Ich war wohl ganz süß, aber ich habe nur geschrien. Das war nicht auszuhalten. So bin ich irgendwann in einer Pflegefamilie gelandet.

Was war das für eine Pflegefamilie?

Jenny: Sie war alleinerziehend und hatte einen leiblichen Sohn, vier Jahre älter als ich, und lebte in einer Hamburger Erbsengegend. Natürlich hat sie ihn bevorzugt. Klar, war ja auch ihr leibliches Kind. Aber ich war auch extrem verhaltensauffällig. Sie wusste überhaupt nicht, was mit mir los ist. Sie hat mich von einem Psychologen zum nächsten geschleppt. Bis ich zehn war, bin ich auch da geblieben. Sie sagte mir immer, dass ich widerlich bin und niemals lebensfähig sein werde. Sie wurde mir gegenüber immer wieder gewalttätig.

Mein „Bruder“ hat dann, als ich acht war, angefangen mit sexuellen Übergriffen, was ich damals noch nicht so richtig verstanden habe. Der hat mich immer mit Süßigkeiten bestochen, weil ich damals nicht so viel zu essen bekommen habe. Insgesamt habe ich es vermieden, allzu viel zu Hause zu sein. Ich habe meine Kindheit vor allem auf dem Spielplatz und in der Schule verbracht. Was ganz süß war, waren die Eltern von Freunden, die haben ihre Kinder auf den Spielplatz geschickt und gesagt, hol‘ mal Jenny zum Essen rein‘. Ich habe tatsächlich Unterstützung von Seiten bekommen, wo ich es nie erwartet hätte.

Wie lange ging dieses Martyrium?

Jenny: Als ich zehn war, meinte meine Pflegemutter, sie könne mich sozusagen nicht durch die ganze Pubertät prügeln. Und dann war ich endlich bei der Sitzung mit dem Jugendamt dabei, was ich eingefordert hatte, denn es ging ja schließlich um mich. Bisher hatte mich niemand gefragt, was ich denn eigentlich will. Ich wollte normal sein, irgendwie, auch wenn ich wusste, dass ich nicht normal bin, aber ich wollte in eine normale Pflegefamilie. Das ging aber nicht. Also kam ich ins Kinderheim. Das war dort echt gut. Da waren super Pädagogen. Fünf Jahre lebte ich dort. Die haben mich echt auf Kurs gebracht. Obwohl ich eine schwere Pubertät mit mehreren Selbstmordversuchen hatte.

Trotz der Alkoholkrankheit Deiner Mutter ist niemand auf die Idee gekommen, was mit Dir ist?

Jenny: Aufgrund persönlicher Kontakte bin ich, da war ich 14 Jahre, mit meiner Omi zu Hans-Ludwig Spohr (seinerzeit Professor an der Charité und einer der führenden FAS-Experten mit internationalem Renommee) nach Berlin. Er stellte die Diagnose.

Wie hast Du auf die Diagnose reagiert?

Jenny: Als ich die Diagnose hatte, klar, hatte ich erst einmal Panik. Es wurde von Behinderung gesprochen. Und das wurde von mir gleichgesetzt, weil die Gesellschaft das so suggeriert, gleichgesetzt mit nicht gesellschaftsfähig und nicht lebensfähig und nicht eigenständig. Ich hatte aber auch sofort Angst, mich damit zu entschuldigen. Das wollte ich nicht. Ich habe sofort angefangen, mich selber über das Fetale Alkoholsyndrom schlauzumachen. Sobald dann diese Akzeptanz kam, dieses innere Okay, das ist jetzt nun mal so, hieß es für mich: lernen damit umzugehen.

Wie lange hast Du dafür gebraucht?

Jenny: Das war schon ein Prozess und auch eine spannende Entwicklung meiner Persönlichkeit. Ich habe gar nicht mit so vielen Menschen darüber gesprochen, weil ich das gerne mit mir ausmachen wollte. Ich hatte aber immer wieder die Angst, dass ich mich damit entschuldige, und sage, ja, na und, ich bin nun mal behindert. Das wollte ich nicht. Nie. Ich wollte das Beste daraus machen. Ich habe mir den Prozess gegeben. Ich musste mich jetzt noch einmal neu kennenlernen. Ich habe wirklich noch einmal ganz von vorne angefangen. Das war wirklich ein ganz faszinierender Prozess. Auch jetzt im Rückblick.

Was, denkst Du, unterscheidet Dich von anderen, positiv wie negativ?

Jenny: Was mich klar unterscheidet, ist meine geistige Reife. Ich bin dadurch, dass ich im Grunde keine Eltern hatte, und dadurch mein Weltbild so anders ist, weil ich nichts vorgegeben bekommen habe, dadurch bin ich so unglaublich frei, vorurteilsfrei. Und empathisch bin ich. Das ermöglicht es mir, einen ganz anderen Zugang zu Menschen zu haben. Ich merke es jeden Tag. Ich habe den Vorteil, alle frei und nicht wertend anzunehmen. Man kann nichts be- oder verurteilen, was man nicht probiert hat. Andere haben schon eine Meinung, ohne es je probiert zu haben, und das hängt meiner Meinung nach mit der Beeinflussung durch die Eltern zusammen. Ich bin sehr offen und zugänglich. Nur wenn mir Mitleid entgegengebracht wird, macht mich das eher wütend.

Bist Du leicht zu verleiten?

Jenny: Früher ganz doll. Gruppenzwang war ganz doll. Inzwischen nicht mehr so. Kommt darauf an. Ich habe gelernt, Nein zu sagen. Das kam aber auch über das Thema Selbstliebe, Selbstakzeptanz und Respekt. Ich bin stolz, dass ich mir das im Leben habe erarbeiten können.

Hast Du einen Schulabschluss?

Jenny: Schule war echt schwer. Ich hatte die klare Empfehlung Gymnasium. Aber ich wollte nicht. Ich wollte lieber auf die Gesamtschule, da ich der Überzeugung war, dass dort weniger Leistungsdruck herrschen würde. Aber es kam anders. Ich bin ja dann in Blankenese mit den ganzen Bonzen in die Schule gegangen und dann habe ich auch mehr von meiner eigenen Familie mitgekriegt. Zunächst war ich ja eigentlich in Armut aufgewachsen. In Blankenese habe ich dann erfahren, was Geld ist. Aber auch: dass Geld nicht glücklich macht. Und dass du mit Geld nichts kaufen kannst, was eigentlich wichtig im Leben ist. Das war unglaublich befreiend.

Auch wenn das schwierig war für mich mit den ganzen Bonzen. Aber schließlich hat sich dort eine tolle Clique formiert. Sie sind alle bei mir im Kinderheim ein- und ausgegangen, wir haben alle Geburtstage miteinander gefeiert und uns in den Sommerferien auf Sylt getroffen. Mit einigen von ihnen bin ich heute noch freund- schaftlich verbunden.

Was war eigentlich mit Deiner Verwandtschaft?

Jenny: Meine Verwandtschaft glaubte nicht, dass aus mir mal was wird. Ich komme aus einer sehr alten Familie, da herrscht sehr sehr viel Druck. Im Internat war ich Klassenbeste und wenn ich mit einer Eins minus nach Hause kam, hieß es nur, das hätte aber auch noch besser sein können.

Mit 15 Jahren bin ich ins Internat in die Lüneburger Heide, weil ich dachte, es tut mir gut, so eine Art Bootcamp, dachte, ich brauche ein soziales Gefüge. Hab‘ ich gedacht, aber: Ich bin durch die Hölle gegangen. Heute bin ich mit einigen Leuten von damals gut befreundet. Aber seinerzeit war das für mich wirklich wie ein Bootcamp. Ich hab dann drauf geschissen und habe gedacht, ich werde jetzt mal von der Klassenbesten zu versetzungsgefährdet.

Sie haben mich aber trotzdem versetzt, weil Privatschule und weil alle Lehrer wussten, dass ich es eigentlich alles drauf habe, aber ich das nur wegen meiner Familie mache, weil die mir so einen Druck machen. Nie war denen was gut genug. Ich habe da viel Scheiße gebaut. Mit 18 Jahren bin ich von der Schule geflogen.

Ab da, so geht der Klassiker, hat man Dir gesagt: Du bist volljährig, sieh‘ zu, wie Du klar kommst?

Jenny: Exakt. Dann saß ich da beim Jugendamt. Die sagten, du musst jetzt selber klar kommen. Du musst jetzt selber eine Schule finden, selber sehen, wo du unterkommst und selber sehen, wie du das alles bezahlst, beantrage doch erst mal Hartz IV. Mein Onkel, der bis dato für mich Vormund gewesen war, der sagte zu mir: So Jenny, du bist jetzt 18, dann guck‘, wie du klar kommst. Ich helfe dir gerne bei bürokratischen Dingen, aber ansonsten viel Spaß in deinem Leben. Ich sag‘ dir, ich war echt am Kämpfen. Denn, und das ist ja typisch für FAS, man tut sich schwer, um Hilfe zu bitten, man kapselt sich ab, man igelt sich ein und ist irgendwann nicht mehr erreichbar.

Schwer verständlich für Menschen, die sich mit den Auswirkungen von fetalen Alkoholschäden nicht auskennen. Heute habe ich übrigens wieder ein super Verhältnis zu meinem Onkel. Heute weiß ich auch, dass er immer sein Bestes für mich gegeben hat, und das war nicht immer einfach.

Ich habe mir dann ein Gymnasium gesucht. Gott sei Dank gab es noch meine Omi. Mein Arbeitslosenantrag wurde nämlich erst einmal zweimal hintereinander abgelehnt mit der Begründung, dass meine Familie ja so vermögend sei. Omi hat mir dann meine Unterkunft auf einem Reiterhof bei Uelzen bezahlt. Ich musste morgens um halb fünf Uhr aufstehen, um mit dem Bus in die Schule zu kommen, nachmittags wieder zurück, musste mich bis abends um 21 Uhr um die Pferde kümmern, dann essen, dann ins Bett.

Klar, als FASler bin ich dann irgendwann ausgebrochen. Ich bin zwar morgens noch mit dem Bus los, aber nicht in die Schule, sondern in irgendeine Raucherkneipe und habe da den ganzen Tag Weißwein getrunken, Zigaretten geraucht und täglich so 18 Seiten Tagebuch geschrieben. Es ging mir so schlecht. Das war die härteste Phase meines Lebens.

Wie hast Du die Kurve gekriegt?

Jenny: Ich bin dann zu meiner Omi zurück nach Hamburg gezogen. Außerdem habe ich einen Mann kennengelernt, der mich da rausgeholt hat. Wir waren fast fünf Jahre zusammen. Durch ihn bin ich zum Synchroncutten gekommen. Ich kann meine beiden Hirnhälften gleichzeitig benutzen. Das ist echt krass. Das ist eindeutig mein Ass im Ärmel. Ich staune echt selbst über mich, da ich doch FAS habe. Ich unterschätze mich immer.

Ich war so gut darin, dass mich mein Ausbilder schon während der Ausbildung an Firmen verkauft hat. Ich war dann so überarbeitet, dass ich den schulischen Bereich nicht mehr geschafft habe. Das war echt illegal, was der mit mir gemacht hat. Ein Jahr habe ich das durchgehalten, dann habe ich gesagt, ich kann nicht mehr. Mein FAS schlug durch. Ich wurde unzuverlässig, ich hab dauernd verpennt und kam zu spät zur Arbeit, ich kommunizierte nicht mehr, war nicht erreichbar. Typisch FAS eben – einfach weg.

Ich habe mich dann selbstständig gemacht und machte Projekte. Ich kriegte das alles ganz gut hin. Dann kam Corona und die ganze Branche klappte zusammen. Ich habe dann echt Schulden gemacht. Ich musste meine Wohnung in Berlin auf- geben und bin zu meiner Omi zurück nach Hamburg. Ab Mai 2021 kamen wieder die Jobs rein. Jetzt bin ich wieder in Berlin. Meine Jobs habe ich bis Mai 2022 durchorganisiert. Ich möchte meine Schulden zurückzahlen. Zurzeit komme ich bei Freunden unter, aber ich habe bald wieder eine eigene Wohnung. Ich habe tolle Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Da bin ich so froh drüber.

Was hast Du mit Blick auf Deine fetalen Alkoholschäden gelernt?

Jenny: Wichtig ist, dass man von seinen Problemen nicht überflutet wird. Mit FAS kann man nicht vorausplanen. Man hangelt sich von Monat zu Monat. Da spielen so viele Faktoren eine Rolle, was den psychischen Zustand angeht. Man kann immer nur versuchen, anzugleichen, und versuchen immer wieder Luft raus- zunehmen. Überforderung ist echt Gift.

Es hilft, wenn man lernt, weitsichtiger zu sein, alles etwas besser im Überblick zu haben. Man darf es nicht riskieren, überfordert zu werden. Viele wissen aber nicht, wie sie sich davor schützen können. Außerdem sehen sie immer die anderen, wie die alles auf die Reihe kriegen. Sie selbst aber nicht. Mir ging es auch viele Jahre so. Ich habe mir aber inzwischen ein Mindset aufgebaut und einen Workflow geschaffen. Dennoch: Es bleibt ein Kampf für alle.

Wie ist heute Dein Verhältnis zu deinen Eltern?

Jenny: Meine leibliche Mutter kenne ich bis heute nicht wirklich. Ich war mal lange Jahre verbittert wütend auf sie, jetzt aber nicht mehr. Ich habe ihr verziehen. Sie kann nichts dafür, denn sie ist schwach. Sie würde sich wünschen, es besser zu machen. Es ist schwer zu akzeptieren, dass man niemals eine Mutter haben wird. Sie tut mir inzwischen nur noch leid. Aber ich halte Abstand zu ihr. Es ist leichter, keinen Kontakt zu haben. Ich hatte immer wieder versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie ist immer betrunken.

Meinen leiblichen Vater kenne ich und habe sporadischen Kontakt, was mir sehr schwerfällt. Ich mache das nur für ihn. Er leidet unter Schizophrenie und hat eine Psychose. Das ist nicht leicht für ihn im Leben. Aber er hat es wenigstens versucht mit mir, auch wenn er es irgendwie nicht hinbekommen hat. Für mich wäre es leichter, einfach gar keinen Kontakt zu haben.

Ich mache das für ihn und meine Familie. Ich habe schon Gefühle für ihn. Ich bewundere ihn – für seine Intelligenz und seine vielen Talente. Er ist einer der gefühlvollsten Klavierspieler, die ich kenne und ich kenne viele Musiker. Ich bewundere sein unglaubliches Gedächtnis und es bricht mir das Herz zu wissen, dass er so unglaublich begnadete Talente hat und so intelligent ist, und trotzdem niemals Anschluss in der Gesellschaft finden wird aufgrund seiner Erkrankungen. Aber er hat super Gene. Und wenn er die nicht an mich weitergegeben hätte, wären die Auswirkungen des FAS bei mir noch so viel krasser.

Was bedeutet Deine Omi für Dich?

Jenny: Meine Omi hat mir Mama und Papa ersetzt. Sie ist jetzt 84 Jahre und ich habe so unglaubliche Angst davor, wenn meine Omi eines Tages von mir geht. Sie wünscht sich so sehr, dass sie in Ruhe gehen kann, dass ich mein Leben in geordneten Bahnen habe und dass jemand da ist, der mich unterstützt. Das Problem ist nämlich, dass es außer mir keinen Nachkömmling in meiner Familie gibt. Sie sind alle mindestens 30 Jahre älter. Meine Familie stirbt mir langsam weg. Und dann gibt es irgendwann nur noch mich.

Quelle: “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, erschienen im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein

Wut auf mich. Und Wut auf die Gesellschaft

Der Klassiker: über Wochen hinweg nicht gewusst zu haben, schwanger zu sein. Wie gnadenlos das Schicksal zuschlagen kann, zeigt die Geschichte von Claire (Name geändert). Claire und ihr Mann wünschten sich so sehr ein Kind. Im Lauf der Jahre erlitt die heute 35-Jährige sechs Fehlgeburten. Als dann on top der Arzt eine Krebsdiagnose an den Eierstöcken diagnostizierte und dem Paar eröffnete, dass Claire nicht mehr schwanger werden könne, dachte sie, okay, dann kann ich es ja auch mal wieder krachen lassen. Bislang hatte sich die selbstständige Eltern- beraterin mit Alkoholkonsum zurückgehalten. Aber jetzt? Jetzt konnte sie ordentlich feiern gehen.

Als Claire erzählt, dass sie doch schwanger wurde, füllen sich ihre Augen mit Tränen. Es war ein Wunder und ein Schock zugleich. Claire bemerkte die Schwangerschaft erst spät. Ihr Sohn ist inzwischen sieben Jahre alt. Diagnose im Alter von sechs Jahren: fetale Alkoholschäden. Drei Jahre nach ihrem ersten Kind brachte Claire noch einen zweiten Sohn auf die Welt. Er ist gesund, da sie früh wusste, wieder schwanger zu sein.

Als Du gesehen hast, dass Du doch schwanger bist, was schoss Dir als Erstes durch den Kopf?

Claire: Ich habe sofort gedacht, Scheiße, ich habe gedacht Scheiße, weil ich eine Zigarette in der Hand hatte. In der einen Hand hatte ich den positiven Test und in der anderen die Zigarette. Ich guckte die Zigarette an und guckte diesen Test an, und dann dachte ich, verdammt, du hast letzte Woche noch Alkohol getrunken. In völliger Panik bin ich noch am selben Tag zum Arzt. Der beruhigte mich erst mal mit den Worten: Da brauchen Sie sich keine Gedanken machen, das wird keine Auswirkungen haben. Dabei war ich schon in der 13. Woche plus 3. Ich sah dieses kleine Würmchen im Ultraschall und war voller Angst. Aber der Arzt meinte: Nein, Sie wussten ja nicht, dass Sie schwanger sind, und as Kind hat es ja geschafft. Er ist wohl davon ausgegangen, dass sich das Ei sonst gar nicht eingenistet hätte. Auch weil ich ja schon vorher Fehlgeburten hatte.

Die Vorstellung, was der Alkohol anrichten kann, war zu diesem Zeitpunkt für Dich noch diffus?

Claire: Ja. Ich wusste nur, Alkohol ist nicht gut. Aber was da wirklich passiert, das war mir nicht klar. Und dem Arzt wohl auch nicht.

Hast Du dem Arzt vertraut, dass nichts passiert sein kann, oder hattest Du unterschwellig Sorge während Deiner Schwangerschaft?

Claire: Ich habe es tatsächlich völlig weggeschoben. Wahrscheinlich habe ich deshalb auch Wochenbettdepressionen bekommen, weil ich unterschwellig geahnt habe, dass ich meinem Kind etwas angetan habe. Während der Schwangerschaft war ich immer alleine. Ich durfte nicht arbeiten gehen, weil ich permanent Sodbrennen hatte. Ich hatte keine Freundinnen, die auch schwanger gewesen wä- ren. So war ich wirklich immer auf mich alleine gestellt. Es ist alles so verschwommen in der Erinnerung, so vernebelt. Wie in so einer Blase.

Wann hast Du gemerkt, hier stimmt etwas nicht?

Claire: Nachdem wir von der Entbindung zu Hause waren, ab da hat mein Kind nur noch geschrien. Das ist immer schlimmer geworden. Er hat immer mehr und immer noch mehr geschrien – bis zu zwölf Stunden am Tag.

Wie hat Dein Umfeld reagiert?

Claire: Alle haben immer nur gesagt – na ja, das ist halt so. Und ich war nur noch müde. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich das ausgehalten habe. Selbst mein Mann weiß es nicht mehr, wie wir das alles überstanden haben. Ich weiß nur noch, dass ich mich komplett abgeschirmt habe, dass ich niemand mehr an mich rangelassen habe. Es gab dann auch viel Streit mit meinem Mann.

Warst Du mal in einer Schreiambulanz?

Claire: Ja, die haben mir das Schreien angeraten, ich soll ihn schreien lassen. Später, ab dem 6. Monat kam auch eine Familienhebamme. Die hat dann Druck gemacht. Okay, du musst alles dokumentieren – wie viel Brei isst er, wie viel schläft er, und gab mir auf: Du legst ihn hin und lässt ihn konsequent schreien.

Niemand kam auf die Idee, auch kein Kinderarzt, es könne sich um FAS handeln?

Claire: Nein. Obwohl ich immer wieder darauf hingewiesen habe, dass ich Al- kohol während der Schwangerschaft getrunken habe. Sechs Jahre haben wir gekämpft, bis wir einen Arzt gefunden haben, der die richtige Diagnose gestellt hat. Unfassbar war, dass die Hebamme glaubte, ich sei gewalttätig gegenüber meinem Kind. Ab diesem Zeitpunkt habe ich keine fremde Hilfe mehr angenommen. Dann ging es weiter, dass er in der Krippe verhaltensauffällig war. Er war sehr aggressiv. Immer! Er hat sich auch selbst verletzt. Außerdem ist er auf Zehenspitzen gegangen. In der Krippe meinten sie, er sei Autist.

Alle sagten immer, wir seien schuld, wir würden zu viel klammern, wir würden zu viel streiten. Ja, wir haben uns gestritten. Aber das lag natürlich auch daran, dass wir völlig überlastet waren. Das Kind war immer fordernd. Immer!
Wir haben dann einen Integrationshelfer beantragt. Und wir sind ins Sozialpäd- iatrische Zentrum. Aber wir bekamen ständig nur zu hören: Sie sollten mal Ihre Erziehung ändern. Als mein Sohn zwei Jahre alt war, hieß es, er muss doch jetzt mal trocken sein, und der Schnuller muss weg. Ich sagte nur, wenn der keinen Schnuller haben darf, dann rastet der total aus. Ich bekam nur noch Zweifel an mir selber wegen der Erziehung.

Dann kam die entscheidende Wende. Ich stieß auf Instagram auf die Kampagne „Happy Baby No Alcohol“ und begann zu recherchieren.

Ihr seid zu einem FAS-Spezialisten gegangen. Wie habt Ihr die Diagnose aufgenommen?

Claire: Die Diagnose kam per Post. Der Arzt hatte aber schon die Vermutung geäußert. Ich nahm den Brief mit ins Bad. Dort war gerade mein Mann. Ich setzte mich auf den Badewannenrand. Ich war total aufgeregt. Wie schon bei der Dia- gnostik. Denn ich dachte, jetzt passiert das, was mein Gefühl mir schon immer gesagt hat.

Ich fange an, diesen Brief vorzulesen, und merke, wie mir lautlos die Tränen aus den Augen schießen, ich den Badewannenrand runterrutsche, vor lauter Tränen gar nichts mehr sehen und dann auch nicht mehr sprechen kann. Mein Mann guckt mich an und sagt: Schatz, ja, das ist schlimm, aber du hast keine Schuld. Ich weiß, dass dir das unheimlich wehtut. Aber du kämpfst, und du bist so stark. Es war so unfassbar. Er war so toll zu mir. Aber ich war total verkrampft und nur noch am Weinen.

Ich erlebte solch ein Gefühlschaos, das sich im Kreis drehte: Du hast dein Kind geschädigt, du bist eine schlechte Mutter. Aber du hast es doch nicht mit Absicht gemacht. Sobald du erfahren hast, dass du schwanger bist, hast du sofort aufgehört, du hast penibel drauf geachtet, was du isst. Du hast ja auch bei dem anderen Kind nicht getrunken, weil du viel früher wusstest, dass du schwanger bist. Und der Junge ist gesund. Du musst dir keine Vorwürfe machen. Gott sei Dank haben wir jetzt die Diagnose, die Bestätigung, dass es nicht an mir liegt, dass das Kind nicht so funktioniert, wie die Gesellschaft es gerne möchte. Gott sei Dank haben wir jetzt jemanden, von dem ich weiß, dass ich Hilfe bekomme.

Wer hat Dich aufgefangen?

Claire: Besonders der Arzt. Der hatte mir im Gespräch gesagt: Claire, Sie sind in 15 Jahren die dritte Mutter, die dazu steht, dass sie in der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Alleine schon dafür gebührt Ihnen viel Respekt. Sie haben verdammt viel durchgemacht, jetzt sind Sie aber hier und wir unterstützen Sie. Und ich war so am Heulen. Ich könnte immer wieder heulen, weil der Arzt mich so aufgefangen hat.

Wichtig sind auch mein Mann und meine Mutter. Sie sagen mir immer wieder: Du hast keine Schuld. Du wusstest es nicht.

Du hattest mal mit dem Gedanken gespielt, das Kind wegzugeben, an eine Pflegefamilie. Wie kam es dazu?

Claire: Ich habe immer wieder so Phasen, wo es mir ganz ganz schlecht geht, wo ich so denke, vielleicht ist es doch besser, er lebt woanders, denn ich bin ja schuld, dass er so ist wie er ist. Wieso sollte ich dann gut für ihn sorgen können?

Auch Überforderung war ein Grund und der ständige Druck vom Kindergarten, sowie die Vorwürfe, das Kind falsch zu erziehen. Und dann noch die Sprüche anderer Menschen, von wegen „Wenn man so ein Kind hat, dann kriegt man doch kein zweites“, oder „Du musst dich halt hinten anstellen.“

Wie reagierst Du auf die Attacken?

Claire: Einerseits möchte ich aufklären, möchte ich es in die Welt schreien, wie könnt ihr nur einer Mutter, die einen Fehler gemacht hat, wie könnt ihr ihr auch noch Vorwürfe machen? Andererseits möchte ich das Kind nur beschützen. Es ist so anstrengend.

Wie haben Deine Familie und engere Freunde reagiert, als klar war, das Kind ist schwierig, weil hirnorganisch geschädigt, weil Du Alkohol getrunken hast in der Schwangerschaft?

Claire: Eigentlich gar nicht reagiert. Es gab gar nichts, keine Äußerung wie, oh, schön, dass ihr endlich eine Diagnose habt, schön, dass ihr jetzt Hilfe bekommt.

Auch kein Mitgefühl?

Claire: Nee, gar nicht. Es wird einfach totgeschwiegen!

Aber es ist doch eine Diagnose, die ein ganzes Leben verändert.

Claire: Tatsächlich ist das den Leuten nicht bewusst, was das bedeutet. Die sehen zwar, dass das Kind auffällig ist, aber sie meinen und fragen mich: Ist das nicht alles ein bisschen übertrieben, was du da machst? Suchst du die Aufmerksamkeit?
Es gibt aber auch Leute, die interessiert hinterfragen, warum ich zum Beispiel einen Schulbegleiter für das Kind habe. Es ist sehr sehr unterschiedlich.

Freunde haben wir im Prinzip gar nicht mehr. Eine Freundin gibt es, die ist immer für mich da. Aber sonst, nein. Mitgefühl gibt es gar nicht. Mein Kind ist abgestempelt seit dem Kindergarten und ich auch – dass das Kind verhaltensgestört ist, weil ich es schlecht erziehe.

Wann ist Dir klar geworden, was die Diagnose für Dein Leben bedeutet?

Claire: Das war ein schleichender Prozess, dass mir bewusst geworden ist, dass er sein Leben lang mehr Aufmerksamkeit brauchen wird. Er wird nicht alleine einen Haushalt führen können. Im Laufe der Zeit ist mir bewusst geworden, dass mein Leben anders verlaufen wird als geplant. Ich habe jetzt eine andere Verantwortung. Aber ich habe immer schon in meinem Leben Verantwortung tragen müssen. Ich hatte auch immer ein besonders ausgeprägtes Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein. Nicht umsonst bin ich aktiv bei der Freiwilligen Feuerwehr.

Verspürst Du auch manchmal Wut?

Claire, mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen: Ja, die habe ich. Wut gegenüber der Gesellschaft. Wut gegenüber mir selbst. Also Wut ist ganz prägnant. Ich bin aber dankbar, dass ich so gut damit umgehen kann, dass die Wut einfach nur in Weinen übergeht. Ich bin wütend auf die Tatsache, dass ich gar nicht mit meinem Kind überfordert bin, sondern mit dem ganzen Drumherum – wenn ich sehe, wie Leute mein Kind behandeln, wenn ich sehe, wie Leute mich beschimpfen, die mich nicht kennen.

Realisieren Deine Kinder, dass der eine gesund ist und der andere geschädigt?

Claire: Der Große hat Gespräche mitbekommen. Er hat gefragt: Mama, was ist denn FAS? Oder: Mama, du hast Alkohol in der Schwangerschaft getrunken und deshalb ist mein Hirn kaputt, richtig? Wir haben ihm ganz klar gesagt, dass sein Kopf anders funktioniert als andere. Weswegen das so ist, das haben wir ihm noch nicht erklärt. Ich bin der Meinung, er ist noch nicht so weit, dass wir ihm alles darüber sagen können. Er ist erst sieben Jahre alt. Große Angst davor ihn aufzuklären habe ich nicht. Aber davor, dass er sicherlich in eine Phase kommen wird, in der er mich hassen und mir Vorwürfe machen wird. Ich glaube, das wird die schlimmste Phase in meinem Leben. Aber ich glaube auch, dass er sehen wird, wie ich mich für ihn eingesetzt habe und wie ich für ihn kämpfe.

Merkt Dein Kind, dass es abgelehnt wird?

Claire: Ja, das merkt er schon, weil sich andere verabreden, aber mit ihm nicht. Er bettelt. Wir als Familie können ihn recht gut auffangen. Aber er wird nicht von anderen zum Geburtstag eingeladen, oder er lädt ein und keiner kommt. Meine weitere Familie holt ihn nie zu sich, nur seinen kleinen Bruder. Das trifft auch mich. Obendrein habe ich deshalb null Unterstützung. Du musst mal ruhiger werden. Bekomme dann aber vorgeworfen, ich sei überfordert.

Quelle: “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, von Dagmar Elsen, erschienen im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein

Nichts schön geredet oder bagatellisiert

Rezension des neu erschienenen Buches “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr“ von Nevim Krüger, Vorsitzende des PFAD Landesverbandes Niedersachsen, Adoptiv- und Pflegemutter:

Noch ein Buch über FASD könnten die Leser*innen, die sich bereits in der „FASD-Community“ tummeln, denken. Relativ schnell wird klar, dass es sich um ein bisher in der Form noch nicht vorliegendes Buch handelt. Hier geht es im Kern nicht um die Beschreibung und Entstehung von FASD sondern eher um die großen Fragen zum gesellschaftlichen, politischen und behördlichen Umgang bzw. die Unterlassung mit den Besonderheiten dieser Behinderung und deren Entstehung.
Die Autorin Dagmar Elsen ist Journalistin und durch einen in ihrem unmittelbaren Umfeld mit FASD lebenden Jungen auf das Thema aufmerksam geworden. Eben dieser kluge Junge hat erkannt, dass sie doch genau die Richtige ist, über ihn und seine vermeidbare Behinderung zu schreiben. Er hat sie ermutigt, ja vielleicht sogar aufgefordert, über FASD zu berichten; es darf doch nicht sein, dass noch mehr Kinder von dem gleichen Schicksal ereilt werden. Das ist ein Auftrag, den kann und darf man nicht ablehnen! Und so hat sich Dagmar Elsen auf den Weg gemacht, mit vielen Fragen, Hoffnungen, Wünschen und auch ein bisschen Wut und Unverständnis im Gepäck.

Dagmar Elsen kommt gleich zur Sache! Da wird nichts hinter vorgehaltener Hand schöngeredet oder bagatellisiert, auch die sehr schmerzhaften und kaum erträglichen Geschichten serviert sie schonungslos und einer absoluten Offenheit. Sie hat auf ihrem Weg mit vielen Menschen, die in welcher Form auch immer mit FASD zu tun haben, gesprochen und sich ein Bild gemacht. Da sind die Menschen mit FASD: Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Sozialarbeiterinnen, Therapeutinnen, Psychologinnen, Ärztinnen, Forschende, Eltern einschließlich Pflege- und Adoptiveltern, Ehrenamtliche und Aktivist*innen. Sie beleuchtet sämtliche FASD-betreffende Systeme: Familie, Schule, Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Arbeitsagenturen, Wohnformen und Justiz. Besonders auch den leiblichen Müttern räumt sie wertschätzenden Raum ein.

Die Autorin schafft es wunderbar, die vielen Aussagen und Geschichten so zu sortieren und miteinander zu verweben, weshalb schnell klar wird, dass FASD in Anbetracht seiner weitreichenden, vielschichtigen und gravierenden Folgen, sowohl humanitär als auch monetär, trotz vieler Bemühungen von Selbstvertretungsverbänden und Engagierten Menschen, politisch, gesellschaftlich und im gesamten Behördenapparat fahrlässig unterpräsentiert ist.

Bei allen unterschiedlichen Expertisen, Lebenssituationen und Menschen kommt die Autorin doch immer wieder zu dem Schluss, dass es einfach nicht reicht. Gut, dass Dagmar Elsen mit Experten und Fachleuten spricht, die praxiserprobte Lösungen einbringen und für einen Paradigmenwechsel, gerade in der Pädagogik plädieren. Lösungswege und kreative Ideen liegen auf dem Tisch; sie wollen und müssen umgesetzt werden.

Aktuell gibt es noch nur wenige erfreuliche Einzelfälle, in denen Früherkennung, gutes Helfernetzwerk und soziales Umfeld gut funktionieren und den Menschen mit FASD einen schützenden Rahmen bieten. Eher noch regelhaft ist es der Fall, dass Menschen mit FASD und ihre Bezugspersonen an sämtlichen, das gesellschaftliche Leben betreffende Stellen, vor teils unüberwindbaren Hürden stehen und nicht selten einen lebenslangen Spießrutenlauf durchleiden.

Jedem, der das Buch (hoffentlich) liest, wird unmissverständlich klar, dass sollte sich nicht schnellstmöglich hinsichtlich Prävention, Akzeptanz durch Anerkennung von FASD als Behinderung und verlässlichen Hilfen eine umfassende Veränderung einstellen, wird Millionen Menschen mit FASD ein würdiges Leben nicht möglich sein.

Autorin: Dagmar Elsen. Das Buch erscheint im Schulz-Kirchner-Verlag. Dagmar Elsen ist Journalistin, Buchautorin, Bloggerin, Initiatorin und Vorsitzende des Vereins Happy Baby International e.V.


Die Rezension ist erschienen auf https://www.moses-online.de/hinweis-alkohol-schwangerschaft

Ich dachte – nur noch Wahnsinnige um mich herum

“Im Grunde habe ich zunächst alles illegal gemacht. Ich habe das Pflegekind einfach so behandelt wie ein zweites leibliches Kind”, sagt Maren Kroeske. Erst zwei Jahre später habe ihr völlig überraschend eine Mitarbeiterin des Jugendamtes triumphal eine Vollmacht unter die Nase gehalten mit den Worten: “Das habe ich der leiblichen Mutter aus den Rippen geleiert.” Es war das erste Mal, dass das Jugendamt tätig geworden war. Bis dato hatte es kaum persönliche Kontakte gegeben, keine Auflagen, geschweige denn Fortbildungs- oder Unterstützungsangebote oder gar eine Überprüfung der Pflegefamilie. “Heute weiß ich, dass das schon mit dem ersten Kennenlernen schief gelaufen ist. Aber hinterher ist man immer schlauer. Ich bin da echt naiv reingelaufen”, gesteht die 55jährige.

Und das kam so:

Am 6. Januar 2011, als Maren Kroeske mit ihrem leiblichen Sohn um 13 Uhr nach Hause gekommen war, hatte sie eine Nachricht vom Jugendamt auf dem Anrufbeantworter vorgefunden. Die habe in etwa so gelautet – “wenn Sie wollen, können Sie heute Nachmittag um 15 Uhr einen kleinen Jungen angucken.” Erst dachte die Lehrerin, wie irre das denn sei so aus dem Off. Schließlich hatten sie und ihr Mann vor sage und schreibe sechs Jahren einen Adoptionsantrag gestellt, weil sie dachten keine Kinder mehr bekommen zu können. Seitdem habe sich nie etwas getan. Jedenfalls nicht in Sachen Adoption. Dafür zu Hause bei den Kroeskes. Hier hatte sich nun doch Nachwuchs eingestellt und eine Adoption war gedanklich in den Hintergrund geraten.

Dann, im Sommer 2010, ihr kleiner Sohn war noch nicht ganz drei Jahre alt, kam der erste Anruf des Jugendamtes mit der Frage – ob man sich auch eine Pflegschaft vorstellen könne. An besagtem 6. Januar packte die Lehrerin also ihren Sohn ins Auto, informierte ihren Mann und fuhr zur genannten Adresse der Bereitschaftspflege. Vom Jugendamt vor Ort weit und breit keine Spur. Am nächsten Tag dann wieder nur ein Anruf mit der Nachfrage: Na, hat Ihnen der Junge gefallen? Das hatte er. Obendrein hatte der Kroeske-Mini Lust auf einen kleinen Bruder als Kumpel. Damit war die Sache besiegelt. Schon drei Wochen später zog der 13 Monate alte Jeremie bei den Kroeskes ein.

Die Lehrerin: “Ich bin dorthin gefahren, wieder war kein Jugendamt da. Ich saß danach im Auto, das fremde Kind neben mir, ich guckte es an und dachte, wie irre ist das eigentlich hier? Eine wildfremde Person hat dir gerade ein Kind mitgegeben, überhaupt nichts ist dokumentiert. Wenn Du zu Ikea fährst und holst dir einen Schrank, musst du drei Mal unterschreiben, bis du ihn ausgehändigt bekommst. Ich saß da eine Viertelstunde vor dem Haus der Bereitschaftspflege und konnte nicht losfahren.”

Informationen über die Herkunft des Kindes? Maren Kroeske rekapituliert: “Fünf Monate war Jeremie bei der Bereitschaftspflege gewesen. Das einzige, was ich mal gesagt bekommen hatte, war, die Mutter sei harmlos. Die Mutter sei alleine, käme mit der Lebenssituation nicht klar, sei noch sehr jung, sei im Mutter-Kind-Heim gewesen. Dort habe sie das Kind fast verhungern lassen, denn es sei 17 Stunden ohne Nahrung gewesen. In Tränen aufgelöst hatte die Mutter geglaubt, ihr Kind sei tot. Man sei ins Krankenhaus, weil das Kind völlig dehydriert gewesen sei. Darauf folgte die Entscheidung, das Kind solle besser in Pflege gegeben werden.

Die erste Zeit mit dem Jungen sei vergleichsweise unkompliziert verlaufen, berichtet die Pflegemutter. Im Kindergarten sei er lediglich auffällig gewesen, weil äußerst aktiv. Auch Maren Kroeske erlebte an ihm eine stete Unruhe. Und ungewöhnlich fand sie: “Er konnte durch einen durch gucken.” Die Lehrerin dachte, dass sei die erlittene Traumatisierung. Ja, und die Füße, “die stachen mir von Anfang an ins Auge, die waren quadratisch. Aber ich dachte, naja, es gibt eben Familien, die haben halt solche Füße. Erst später habe ich erfahren, woher das kommt.”

Das FASD-klassische Drama begann, als Jeremie eingeschult wurde. Kroeske: “Er konnte nicht sitzen wie andere Kinder. Er konnte keine Regeln befolgen. Er saß oft unter dem Tisch, kletterte in Spinte, um sich zu verstecken. Mein und Dein kann er bis heute schlecht unterscheiden. Nach dem Stuhlgang auf der Toilette hat er sich entweder mit dem Ärmel abgeputzt, oder die Hose einfach hochgezogen.”Weil immer mehr Auffälligkeiten hinzukamen, begann Maren Kroeske eine Liste zu führen. Die Liste wurde länger und länger – schlechtes Orientierungsvermögen, mangelndes Zeitempfinden, hohe Vergesslichkeit, kognitiv defizitär, heftige Impulsdurchbrüche, wozu gehörte, dass der Junge locker eineinhalb Stunden am Stück “brüllte wie ein Irrer”. Aber keiner kam auf die Idee, was die Ursache für all diese Auffälligkeiten sein könnte. Maren Kroeske machte sich also im Internet auf die Suche. Schnell wurde sie fündig.

Die Zweifachmutter wandte sich sofort ans Jugendamt und forderte eine Diagnose. “Dort bin ich so richtig zurechtgefaltet worden. Es hieß, die leibliche Mutter habe ganz klar gesagt, dass sie nicht getrunken habe und deshalb würde hier gar nichts unternommen.” Besser noch: “Die Mutter und das Jugendamt wollten mir das Kind wegnehmen und in eine Wohngruppe stecken.” Maren Kroeske lässt sich das nicht gefallen. Sie stellt bei Gericht einen Verbleibensantrag. In einem Gutachten wurde festgestellt: Die Herausnahme des Jungen bei der Pflegemutter bedeute eine Kindeswohlgefährdung. Die Retourkutsche des Jugendamtes lässt nicht auf sich warten: Entzug der Vollmacht für Jeremie.

Im Zuge der gerichtlichen Auseinandersetzung kommt es denn aber doch zur Diagnose. Dr. Reinhold Feldmann stellt in der FASD-Ambulanz in Walstedde fest: partielles FASD, reaktive Bindungsstörung, Entwicklungsverzögerung, stark verminderte Merkfähigkeit, Dyskalkulie und einen Gendefekt, dessen Art aber noch nicht geklärt ist. Dadurch, dass Jeremies Intelligenzquotient bei 94 liegt, “merkt er, welche Defizite er hat und sagt immer – mein dummer, dummer Kopf – und ist ganz verzweifelt. Er tut mir so wahnsinnig leid”, sagt seine Pflegemutter. Fünf Dienstaufsichtsbeschwerden muss Maren Kroeske losjagen. Dann erst erkennt das Jugendamt die Diagnose an.

Eine weitere Kampfansage musste die Lehrerin machen, als es um die Wahl der weiterführenden Schule geht – Realschule, Gesamtschule oder Förderschule. Das Jugendamt verfügte, dass die Entscheidung bei der leiblichen Mutter zu liegen habe. Im Schulterschluss mit dem Jugendamt plädiert diese ohne Gespräche mit der Pflegemutter für die Realschule; und zwar ohne Schulbegleiter. Was folgte, ist nicht schwer zu erraten: “Ich musste Jeremie permanent abholen oder ihn suchen gehen, da er das Schulgelände immer wieder einfach verlassen hatte.”

Für die meisten Menschen der Horror, für manche auch ein Segen: Corona! “Mir spielte Corona in die Hände”, sagt Maren Kroeske, “denn es gab den Erlass, dass den Kindern nicht zur Last gelegt werden darf, wenn die Eltern sich weigern das Kind testen zu lassen. Die leibliche Mutter, mit der die Pflegemutter in der Zwischenzeit entgegen den Bestrebungen des Jugendamtes einen freundschaftlichen Kontakt hat aufbauen können, unterschreibt: Ich will nicht, dass mein Kind ständig getestet wird. Maren Kroeske triumphiert: “Daraufhin musste Jeremie zu Hause bleiben.”

Die Lehrerin legt aber keineswegs die Hände in den Schoß. Sie schreibt eine Dienstaufsichtbeschwerde nach der anderen. An das Jugendamt Schwelm, an das Landesjugendamt, an den Bürgermeister, an die Landesbehindertenbeauftragte – keiner der Beteiligten bleibt verschont, sieben werden es insgesamt. Die hartnäckige Aktion zeigt Wirkung. Der Leiter des Jugendamtes winkt die Finanzierung einer Privatschule durch. Und ein Transfer mit dem Taxi wird auch noch obendrauf gepackt. “Übrigens flatterte mir zeitgleich von einer Sachbearbeiterin eine Anzeige über Kindeswohlgefährdung ins Haus”, merkt eine enervierte Pflegemutter an, “man hielt mich beim Jugendamt über Jahre für persönlichkeitsgestört.”

Ah, und nun? Kroeske berichtet atemlos: “Man schickte mir Familienbegleiter. Die erste war schon eine Katastrophe. Die schrie mich an. Der zweite kam hier rein, sagte als erstes, ich hätte keine Ahnung von Pflegekindern, aber er, und außerdem könne er Lehrer nicht ausstehen. Das ich meinem Sohn erlaube, dass er sich mit Stiften Tatoos auf die Haut male, sei Körperverletzung. Ebenso die Tatsache, dass ich ihm die Haare extrem kurz hatte abschneiden lassen, weil Jeremie selbst an sich herumgeschnippelt hatte. Die Friseurin hatte gemeint, da sei leider gar nichts mehr zu machen als ganz kurz zu schneiden. Übrigens: Der Typ hatte einen langen Zopf bis zum Popo.

Ich habe gedacht, ich habe nur noch Wahnsinnige um mich herum. Nun, jedenfalls, als der Typ mir die Körperverletzung nachweisen wollte, hat er Jeremie, als er mit ihm alleine war, ungefragt das T-Shirt über den Kopf gezogen. Jeremie hat mir das aber erzählt. Ich dies dem Jugendamt. Das wiederum behauptete, ich erfände Geschichten, um die Mitarbeiter zu diskreditieren. Zum Glück hatte Jeremie in einer Befragung in der Schule erzählt, was dieser Typ mit ihm gemacht hatte. Das wurde ans Jugendamt weitergeleitet. Ich habe beantragt ihn abzuziehen. Das tat sie dann auch.

Zur Krönung wurde dann ein Psychologe geschickt. Während des Gesprächs mit mir, das ich mit seinem Einverständnis aufzeichnete, erzählte er, dass er den Auftrag bekommen habe: Finden sie das Haar in der Suppe, damit wir das Kind da herausnehmen können. Als ich ihn fragte, warum er das mache, antwortete er, Sie wissen doch – wess’ Brot ich ess’, dess’ Lied ich sing.” Nun, dieses sein Lied kam jedenfalls nicht zustande. Und damit Ende der Kindeswohlgefährdung. Das Spiel mit den Dienstaufsichtbeschwerden allerdings geht weiter seinen Gang. Und fährt tatsächlich wieder einen Erfolg ein. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat sich jetzt des Falles angenommen und möchte diesen endlich und endgültig regeln.

Was steht sonst noch so an? Maren Kroeske: “Anhängige Klage vor dem Verwaltungsgericht, dass mir der 3,5-fache Satz für ein behindertes Pflegekind zusteht. Anhängige Klage beim Sozialgericht um die Anerkennung der Schwerbehinderung und der Merkzeichen.”

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

“Für mich brach mit der Diagnose eine Welt zusammen”

“Die Arroganz und die Ignoranz, die uns von allen Seiten immer wieder entgegenschlägt, macht wütend”, gesteht und klagt Thomas S. , Vater eines leiblichen Kindes und eines zehn Jahre alten Pflegesohnes. Daran erkenne man, dass es immer noch viel zu wenig Aufklärung über das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) gebe – trotz all der Kampagnen, die bislang schon gestartet worden seien. Wie könne es sein, dass immer noch der Glaube vorherrsche, dass ein Gläschen Wein nicht schade, vielmehr den Kreislauf anrege und dem Herzinfarkt vorbeuge? Alles Gründe für den Bundespolizisten, die Stimme zu erheben und seine persönliche Geschichte in einem Gastbeitrag zu erzählen. Denn: “Was uns persönlich sehr weitergeholfen hat, ist der Kontakt zu Gleichgesinnten – seien es Eltern mit FAS-Kindern oder selbst Betroffenen. Da muss man sich nicht erklären, wenn man am Ende ist oder warum man wie reagiert hat. Und man fühlt sich nicht so alleine, wenn man die Geschichten der anderen hört.”

Am 20.01.2012 kam unser Pflegesohn Jonas* im Alter von drei Monaten zu uns in die Familie. Meine Frau und ich hatten Ende 2011 ein Pflegeseminar besucht. Als dies Mitte Dezember 2011 zu Ende ging, sollten wir uns über die Feiertage Gedanken machen, ob wir uns vorstellen könnten, ein Pflegekind aufzunehmen. Leider hielt sich das Jugendamt selbst nicht an die zeitlichen Vorgaben und fragte bereits kurz vor Weihnachten an.

Ein Foto des Säuglings wurde uns umgehend überlassen – ein total süßer Junge mit großen, blauen Augen und einem „Engelchengesicht“. Die Entscheidung fiel in Sekundenschnelle. Er hat uns einfach verzaubert. Zwischen den Feiertagen besuchten wir den Jungen bei seinen Bereitschaftspflegeeltern, nach den Ferien stand schon der Termin im Jugendamt an.

Jonas wurde uns als ‘soweit gesundes Kind’ dargestellt. Er hätte zwar direkt nach seiner Geburt einen Entzug durchgemacht, da seine leibliche Mutter drogenabhängig gewesen sei. Aber den Entzug hätte er gut verkraftet und somit wäre alles in Ordnung. Gegebenenfalls könnten sich im Laufe der Jahre AD(H)S-Symptome zeigen. Das war die einzige Prognose.

Jonas entwickelte sich im Vergleich zu unserem damals 5-jährigen anderen Sohn deutlich zeitverzögert. Das sei normal, hieß es vom Kinderarzt und auch vom Jugendamt. Mit den Jahren wurde Jonas immer wilder und lauter. Seit dem Kindergartenalter ist er ein richtiger Adrenalin-Junkie, dem es nie zu gefährlich sein kann. Einerseits. Andererseits ist er sehr unsicher in einer ihm unbekannten Umgebung. Jonas wollte nie Dinge lernen, er wollte es sofort können. Wenn nicht, hatte er explosionsartige Wutanfälle. Er entwickelte sich weiterhin sehr zeitverzögert und wurde bezüglich Schule ein Jahr zurückgestellt. Im Kindergarten fiel immer deutlicher auf, dass er unter anderem Schwierigkeiten hatte sich zu konzentrieren und aufmerksam bei der Sache zu bleiben. Er brauchte eigentlich immer eine extra Anleitung, eine extra Aufforderung und eine extra Begleitung.

In dieser Zeit hatte meine Frau angefangen, sich über das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) schlau zu machen. Unser Kinderarzt meinte weiterhin, dass das Kind es schon lernen werde, er brauche „einfach nur viel Mama, nach allem, was er schon erlebt hat“. Im Frühsommer 2017 hatten wir dann einen Termin bei Frau Dr. Hoff-Emden in Leipzig. Dort fühlten wir uns zum ersten Mal verstanden und geborgen. Frau Hoff-Emden diagnostizierte schon beim ersten Sehen und den nachfolgend durchgeführten Testungen partielles FAS. Alleine Jonas’ Aussehen sei typisch prägnant für Kinder mit fetalen Alkoholschäden. Da Jonas’ leibliche Mutter in der Zwischenzeit verstorben war, konnte der Alkoholkonsum in der Schwangerschaft nicht endgültig bestätigt werden.

Für mich brach mit der Diagnose eine Welt zusammen. Bis zu diesem Tag hatte ich mich nie ernsthaft mit dem Thema Fetales Alkoholsyndrom auseinandergesetzt. Und jetzt sollte mein kleiner Junge, der so süß aussieht, eine Behinderung haben, von der ich noch nie zuvor etwas gehört hatte? Ich hatte immer noch die Haltung: Es ist nichts! Die Tränen flossen nur so. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und geheult und geheult. Mir wurde auch klar, dass der kleine Zwerg sein ganzes Leben Hilfe brauchen würde. Ohne Aufsicht gehen selbst banale Dinge wie Anziehen und Zähne putzen nicht. Er braucht permanent eine Eins-zu-Eins-Betreuung.

Ein halbes Jahr lang ging es mir richtig schlecht, haderte ich mit dem Schicksal. Dann dachte ich, ich muss es jetzt annehmen. Er kann nichts dafür. Ich würde ihn nicht mehr hergeben wollen. Es ist mein Sohn, ein charming boy, der alle um den Finger wickelt. Mir war und ist aber auch klar, dass es passieren kann, dass ich ihm in vielleicht fünf Jahren gegenübersitze und ich ihn, der ich Polizist bin, festnehmen muss. Er ist jetzt schon so leicht beeinflussbar. Aber, am Ende des Tages bin ich Optimist. Wir werden sehen.

Als ich mich dank Hilfe des Internets, eines Curriculums des Sozialpädiatrischen Zentrums Leipzig und einschlägigen Heften einigermaßen auf Stand gebracht hatte, was es heißt fetale Alkoholschäden zu haben, und was für Auswirkungen es auf Eltern und Kind hat, ging der „Kampf“ mit den Behörden los.

Unser Kinderarzt hat bis heute nicht verstanden, was es bedeutet fetale Alkoholschäden zu haben. Für ihn war Jonas immer ein Kandidat für ADHS mit einer Tendenz in Richtung Autismus. Jonas sei ja so niedlich, zurückhaltend (in fremden Situation, also z. B. beim Arzt) und hätte nicht die an das Down Syndrom erinnernde Gesichtszüge. Jeder Arztbesuch wurde zu einem Gewaltakt an Aufklärung. Entweder wurde unser Anliegen klein geredet oder aufgebauscht und in eine andere Richtung gelenkt.

Mittlerweile haben wir einen Kinderarzt gefunden, dem FAS nicht unbekannt ist und der sich auch weiter aufklären ließ. Es folgten Kämpfe mit der Pflegekasse um den Pflegegrad und Kämpfe mit dem Versorgungsamt um den Grad der Behinderung. Dank hartnäckiger Gespräche hat Jonas einen Pflegegrad 3 und einen Grad der Behinderung von 70 %.

Es ist aber leider so, dass man immer wieder schief angesehen wird, wenn man sagt, dass Jonas behindert ist, denn äußerlich wirkt er nicht so. Dieses Problem hatten wir auch bei der Wahl der Schule. Jonas wurde im Vorfeld von Schulpsychologen getestet und für eine Schule mit dem Förderschwerpunk sozial-emotional (SE) als geeignet angesehen. Im Vorfeld des Schulbeginns wurde Jonas durch Frau Dr. Hoff-Emden medikamentös eingestellt. Dieses Medikament verträgt er bis heute sehr gut.

Wir kommen aus Süddeutschland. Hier scheint das Fetale Alkoholsyndrom nicht zu existieren. Selbst unsere Kinder- und Jugendpsychiatrie wusste am Anfang nichts mit der Diagnose anzufangen und musste durch uns aufgeklärt werden. In der Förderschule ging die Aufklärung wieder von vorne los. Teilweise hatten wir das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Jonas wurde immer wieder aus der Klasse genommen, wenn er nicht so wollte wie er sollte. Dass es eine Überforderung für ihn war, wurde trotz mehrfacher Hinweise von uns an die Schule ignoriert. Erst durch einen von uns Eltern angestoßenen Schulwechsel noch während des ersten Schuljahres auf eine Schule für geistige Entwicklung wurde es besser.

Der Schulleiter kannte und verstand die Diagnose. Auch ließen sich die Lehrer von uns aufklären und nahmen Tipps und Anregungen an. Ein Problem in der Schule ist allerdings der jährliche Wechsel des Schulbegleiters, denn für Jonas ist eine konstante und damit vertraute Bezugsperson sehr wichtig. Leider mussten wir auch in diesem Punkt feststellen, dass nicht jeder Schulbegleiter unsere Aufklärung ernst genommen hat. Es hat dadurch immer wieder viel Kraft gekostet, bis alles seinen gewohnten Gang lief.

In den mittlerweile knapp zehn Jahren, in denen Jonas in unserer Familie ist, haben wir aktuell die vierte Sachbearbeiterin beim Jugendamt. Bis auf die vorletzte wusste keine etwas mit der Diagnose FAS anzufangen. Jedoch muss ich sagen, dass die Mitarbeiterinnen sich aufklären ließen und sich auch erkundigen, was es für Möglichkeiten zur Weiterbildung gibt. Hürden gab es dann allerdings wieder innerhalb der Behörde – Unterstützung für Kinder mit ADHS und ASS sei kein Problem und gängige Praxis, aber FAS? Das sei bisher nicht vorgekommen und daher gäbe es hier keine Unterstützung. Allein schon eine Schulbegleitung zu erhalten, war ein langer, harter Kraftakt.

*Name geändert

Drei FAS-Kinder mit Pflegegrad? – Wir gründen eine Wohngruppe!

“Mein erstes Pflegekind war mit seinen damals drei Jahren wohl Deutschlands jüngster Arbeitgeber”, sagt lachend Anja Bielenberg, Mutter von acht Kindern – fünf leiblichen und drei Pflegekindern. Alle drei Pflegekinder sind vom Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) in den verschiedensten Facetten betroffen. Aber “alle drei gleichermaßen leiden unter der alkoholbedingten Demenz, die sie merklich beeinträchtigt und selbst stört”, wie sie betont. Alle drei haben Pflegegrad 4 und einen Schwerbehindertenausweis mit 60 Prozent und den Merkzeichen B, G, und H.

Das erste sogenannte Milieukind aus einer norddeutschen Großstadt hat Anja, die in ihrem Haus eine Praxis für Geburtsvorbereitung, Mamahilfe, Hypnose, Doula und FASD-Beratung betreibt, vor 17 Jahren bei sich aufgenommen. Ein Hinweis, das Kind könnte fetale Alkoholschäden haben – Fehlanzeige. Anja selbst wusste zu dem Zeitpunkt auch noch nichts über das FAS. Da das Kind aber nicht aufhöhren wollte zu schreien und sich zu übergeben, “dachte ich, hier stimmt etwas nicht.” 

Nach langen Recherchen im Internet stieß die engagierte Pflegemutter auf einen Bericht über FAS, der sie sofort zum Weinen brachte. Mit ihren Erkenntnissen marschierte Anja zum Jugendamt. Die haben aber nur gefragt, was das denn nun wieder sein soll”, erinnert sich die 52jährige nur allzu gut an die ablehnende und missbilligende Haltung. Heißt: Der Kampf konnte beginnen und sollte Jahre dauern. Anja kam sich vor, als sei ihr Kind das einzige mit FAS auf der Welt. Sie selbst sei so dargestellt worden, als sei sie vom Münchhausen-Syndrom* befallen. 

Inzwischen kann der dreifachen Pflegemutter niemand mehr die Butter vom Brot nehmen. Sie muss auch nicht mehr kämpfen. Sie weiß, was zu tun ist: Sie stellt Anträge, benennt klare Quellen, stellt Forderungen, hinterfragt Antragsabweisungen und scheut sich nicht diese einzuklagen. Selbst die Krankenkasse hat klein beigegeben, als die streitbare Pflegemutter die Anerkennung einer Wohngruppe einforderte. Nach einem ersten “Wie? Eine Wohngruppe für Kinder? Das gibt es nicht. Hier gibt es nur Wohngruppen für Senioren”, musste die Krankenkasse zugestehen: Es handelt sich um einen Rechtsanspruch – egal welchen Alters**.

Voraussetzung für den Anspruch ist, dass die betroffenen Personen wenigstens den Pflegegrad 1 haben. “Aber es sind noch andere Auflagen an den Anspruch geknüpft”, erläutert die Pflegemutter. Beispielsweise muss es einen gemeinsamen Zu- und Hauseingang geben. Außerdem erforderlich: gemeinsame Küche, gemeinsamer Essbereich, gemeinsame sanitäre Anlagen.

Und wie sehen die Leistungen aus, die einer Wohngruppe zugute kommen? 

Anja listet auf: “Es gibt einen Investitionszuschuss für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, die die Wohnstätte bedürfnisorientiert dem Pflegegrad entsprechend ausstattet. Pro Bewohner beträgt dieser 4000 Euro. Außerdem gibt es einen einmaligen Zuschuss für die Gründung der Wohngemeinschaft, der bei 10.000 Euro liegt. “Allerdings”, weißt Anja darauf hin, “muss man für die Leistungen in Vorkasse treten und für die Rückerstattung eine detaillierte Abrechnung vorlegen.” 

Weiter geht es mit laufenden Leistungen: “Ich habe im Namen der Kinder drei Assistenzkräfte im Rahmen des persönlichen Budgets nach § 29 SGB IX*** als 1 : 1-Vollzeitschulbegleiter eingestellt”, so Anja. Da habe dann gleich die Berufsgenossenschaft aufgejault und moniert, dass ein Kind kein Arbeitgeber sein könne. “Doch, kann!”, konstatiert Anja triumphierend.

Zusätzliche Betreuung erhält die Wohngemeinschaft, die sich Schneckenhaus nennt, über § 45 SGB XI.**** Die Pflegemutter: “Es muss eine externe Person sein, die hauswirtschaftliche Tätigkeiten übernimmt, zum Arzt, Therapeuten oder Friseur begleitet. Schließlich kommt noch die Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI hinzu, damit auch ich zum Arzt, zum Friseur, etc. gehen kann und die Kinder während dieser Zeit versorgt sind.”

Das Ganze sei eine Lebensaufgabe, gesteht Anja. Nur so ein bisschen integrativ, das werde nichts. Anja: “Ich habe echt lange gebraucht, bis ich das alles hingekriegt habe und habe wirklich viele graue Haare bekommen. Aber jetzt, nach Jahr sechs, fängt das alles an rund zu laufen. Eines der Kinder geht inzwischen schon in die Werkstätten arbeiten und ich musste dafür noch nicht einmal einen Antrag stellen.” Süffisant sagt die Achtfach-Mutter: “Ich war plötzlich ganz hilflos.”

Aber Spaß beiseite. Man müsse an viele grundsätzliche Dinge denken, die von immanenter Bedeutung seien: “Hat die leibliche Mutter noch das Sorgerecht und man klagt gegen Entscheidungen, zum Beispiel, dass die Diagnose nicht anerkannt wird, und benötigt einen Anwalt, dann muss man den aus der eigenen Tasche bezahlen. Ist man gesetztlicher Vormund des Kindes, dann trägt der Staat die Prozess- und Anwaltskosten.”

Inzwischen sind übrigens alle leiblichen Kinder bis auf das jüngste, das so alt ist wie das erste Pflegekind, aus dem Haus. “Wir haben aber von Anfang an viel Platz gehabt”, erzählt die 52jährige. Es mache sehr viel aus, ob man mit solchen Kindern auf dem Land wohne mit viel Platz und Rückzugsmöglichkeiten. Das erleichtere vieles.

*Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bezeichnet das Erfinden, Übersteigern oder tatsächliche Verursachen von Krankheiten oder deren Symptomen bei Dritten. Zumeist handelt es sich dabei um Kinder. Ziel ist es dabei, eine medizinische Behandlung zu verlangen und/oder um selbst die Rolle eines scheinbar liebe- und aufopferungsvoll Pflegenden zu übernehmen.

**§ 38a SGB XI Zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen

(1) Pflegebedürftige haben Anspruch auf einen pauschalen Zuschlag in Höhe von 214 Euro monatlich, wenn1.sie mit mindestens zwei und höchstens elf weiteren Personen in einer ambulant betreuten Wohngruppe in einer gemeinsamen Wohnung zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung leben und davon mindestens zwei weitere Personen pflegebedürftig im Sinne der §§ 14, 15 sind,2.sie Leistungen nach den §§ 36, 37, 38, 45a oder § 45b beziehen,3.eine Person durch die Mitglieder der Wohngruppe gemeinschaftlich beauftragt ist, unabhängig von der individuellen pflegerischen Versorgung allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten zu verrichten oder die Wohngruppenmitglieder bei der Haushaltsführung zu unterstützen, und4.keine Versorgungsform einschließlich teilstationärer Pflege vorliegt, in der ein Anbieter der Wohngruppe oder ein Dritter den Pflegebedürftigen Leistungen anbietet oder gewährleistet, die dem im jeweiligen Rahmenvertrag nach § 75 Absatz 1 für vollstationäre Pflege vereinbarten Leistungsumfang weitgehend entsprechen; der Anbieter einer ambulant betreuten Wohngruppe hat die Pflegebedürftigen vor deren Einzug in die Wohngruppe in geeigneter Weise darauf hinzuweisen, dass dieser Leistungsumfang von ihm oder einem Dritten nicht erbracht wird, sondern die Versorgung in der Wohngruppe auch durch die aktive Einbindung ihrer eigenen Ressourcen und ihres sozialen Umfelds sichergestellt werden kann.

***§ 29 SGB IX Persönliches Budget

(1) Auf Antrag der Leistungsberechtigten werden Leistungen zur Teilhabe durch die Leistungsform eines Persönlichen Budgets ausgeführt, um den Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Bei der Ausführung des Persönlichen Budgets sind nach Maßgabe des individuell festgestellten Bedarfs die Rehabilitationsträger, die Pflegekassen und die Integrationsämter beteiligt. Das Persönliche Budget wird von den beteiligten Leistungsträgern trägerübergreifend als Komplexleistung erbracht. Das Persönliche Budget kann auch nicht trägerübergreifend von einem einzelnen Leistungsträger erbracht werden. Budgetfähig sind auch die neben den Leistungen nach Satz 1 erforderlichen Leistungen der Krankenkassen und der Pflegekassen, Leistungen der Träger der Unfallversicherung bei Pflegebedürftigkeit sowie Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe, die sich auf alltägliche und regelmäßig wiederkehrende Bedarfe beziehen und als Geldleistungen oder durch Gutscheine erbracht werden können. An die Entscheidung sind die Leistungsberechtigten für die Dauer von sechs Monaten gebunden.

(2) Persönliche Budgets werden in der Regel als Geldleistung ausgeführt, bei laufenden Leistungen monatlich. In begründeten Fällen sind Gutscheine auszugeben. Mit der Auszahlung oder der Ausgabe von Gutscheinen an die Leistungsberechtigten gilt deren Anspruch gegen die beteiligten Leistungsträger insoweit als erfüllt. Das Bedarfsermittlungsverfahren für laufende Leistungen wird in der Regel im Abstand von zwei Jahren wiederholt. In begründeten Fällen kann davon abgewichen werden. Persönliche Budgets werden auf der Grundlage der nach Kapitel 4 getroffenen Feststellungen so bemessen, dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wird und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann. Dabei soll die Höhe des Persönlichen Budgets die Kosten aller bisher individuell festgestellten Leistungen nicht überschreiten, die ohne das Persönliche Budget zu erbringen sind. § 35a des Elften Buches bleibt unberührt.

****§ 54 SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe

(1) Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach § 140 und neben den Leistungen nach den §§ 26 und 55 des Neunten Buches in der am 31. Dezember 2017 geltenden Fassung insbesondere1.Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt,2.Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule,3.Hilfe zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit,4.Hilfe in vergleichbaren sonstigen Beschäftigungsstätten nach § 56,5.nachgehende Hilfe zur Sicherung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen und zur Sicherung der Teilhabe der behinderten Menschen am Arbeitsleben.

Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben entsprechen jeweils den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit.

(2) Erhalten behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Menschen in einer stationären Einrichtung Leistungen der Eingliederungshilfe, können ihnen oder ihren Angehörigen zum gegenseitigen Besuch Beihilfen geleistet werden, soweit es im Einzelfall erforderlich ist.

(3) Eine Leistung der Eingliederungshilfe ist auch die Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie, soweit eine geeignete Pflegeperson Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht in ihrem Haushalt versorgt und dadurch der Aufenthalt in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe vermieden oder beendet werden kann. Die Pflegeperson bedarf einer Erlaubnis nach § 44 des Achten Buches.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Eine frühe Diagnose ist der beste Schutz

“Mir ist die Botschaft einfach wichtig. Mir ist wichtig zu sagen, wie schwer Fetale Alkoholschäden zu fassen und verstehen sind. Mir ist wichtig zu sagen, dass ein Dauerkampfmodus nichts bringt und am Ende nur auslaugt. Ich habe schon Pflegeverhältnisse erlebt, wo es am Ende nicht mehr ums Kind, sondern nur noch um den Kampf als solchen ging” – Nevim Krüger, 1. Vorsitzende des Landesverbandes der Pflege- und Adoptiveltern in Niedersachsen, kurz Pfad genannt, wird nicht müde, sich für Familien zu engagieren, die Kinder mit schweren Beeinträchtigungen bei sich aufnehmen. 

Ein Gastbeitrag von Nevim Krüger

FASD – Der große Stolperstein in der Jugendhilfe – wie neue Wege ans Ziel führen können.

„Was soll die Diagnose bringen?“

„Wir können Ihnen nicht mehr zahlen, sie sind keine Fachleute“

„Wenn es zu anstrengend ist, geben wir das Kind in eine Einrichtung““

„Sie kann das doch ganz wunderbar hier, dann liegt es wohl an Ihnen“

„Wenn er sich nur besser anstrengt, dann schafft er das auch“

„Sie können dem Kind nicht alles aus dem Weg räumen, später muss es das auch schaffen.“

„Sie können doch nicht behaupten, dass das Kind behindert ist.“

Das ist nur eine kleine Auswahl an Aussagen, die häufig an Pflege- und Adoptivfamilien oder andere Bezugspersonen gerichtet werden, deren Kinder von FASD betroffen sind.

Laut Drogenbericht der Bundesdrogenbeauftragten von 2019 werden jährlich 10.000 – 20.000 Kinder mit Alkoholschäden in Deutschland geboren. Diese Anzahl ist erschreckend und leider nur die Spitze des Eisberges. Ein großer Teil der betroffenen diagnostizierten Kinder wächst in Pflegefamilien auf.

Wir stellen fest, dass es in Bezug auf diese Behinderung noch immer großen Nachholbedarf an Konzepten für den Umgang dieser Pflegeverhältnisse gibt. Sowohl für die Familien aber auch für die Sachbearbeiter*innen und Vormünder*innen in Jugendämtern ist es nicht immer leicht, den großen Bedarf zu erkennen. Noch immer werden Kinder mit einem berechtigten Verdacht aus Angst vor Stigmatisierung, Angst vor Vermittlungsschwierigkeiten oder vor Kostenerhöhung ohne Information des Verdachts vermittelt. Ebenfalls passiert es immer noch zu oft, dass Pflegeeltern die Diagnose nicht gestattet bzw. erschwert wird. Es ist längst hinlänglich bekannt, dass gerade eine frühe Diagnose der größte Schutz und die größte Hilfe für die Betroffenen ist. Entsprechende Förderungen können somit ermöglicht und Überforderungen vermieden werden.

Wir können nur alle Pflegeeltern und vor allem Sachbearbeiter*innen und Vormünder*innen dazu ermutigen, bei einem Verdacht unbedingt einen Ausschluss/Diagnostik von FASD zu veranlassen. Sollte sich eine FASD bestätigen, gilt es zu berücksichtigen, dass es nicht „die schlimme“ oder „harmlose“ Form von FASD gibt. Die Unterteilungen FAS, pFAS und ARND stellen lediglich diagnostische Varianten dar. Ein Kind mit einem FAS (Vollbild) kann z. B. deutlich weniger psychische Probleme aufweisen als ein Kind mit ARND oder pFAS. Der Leidensdruck von den unsichtbar Betroffenen ist häufig deutlich größer, da das Umfeld wie Schule etc. viel zu hohe Anforderungen an die Kinder und Jugendlichen stellen.

Nachfolgend möchten wir Anregungen und Tips zum besseren Gelingen von Pflegeverhältnissen in Zusammenhang mit FASD bieten:

– Die große und intensive Betreuungsleistung der Familien muss anerkannt und wert geschätzt werden.

– Alle sich im System „Pflegefamilie“ befindenden Akteure benötigen zumindest ein fundiertes Basiswissen zu dieser Behinderung und ihren Besonderheit.

– Schon bei der Auswahl der Pflegeeltern ist das Thema zu beachten. FASD erfordert eine hohe Belastbarkeit, Kreativität im Hinblick auf pädagogische Haltungen, die Bereitschaft zu Fortbildungen und Vernetzung, Supervision usw.

– Ziele in Hilfeplanungen sind der Behinderung und der individuellen Situation des Kindes anzupassen. Es gibt keine Allgemeingültigkeit bei der Erreichung von Zielen. Die Familien brauchen vor allem „Komfortzonen“ und keinen zusätzlichen Druck.

– Die Familien sind in Krisen niederschwellig und wertschätzend zu unterstützen.

– Den Familien müssen unbürokratisch und zeitnah auch Sonderhilfen wie Haushaltshilfen, Schadensausgleiche usw. zuerkannt werden.

– Besonders in der fragilen Phase der Pubertät benötigen die Familien mehr Unterstützung und Entlastung. FASD kann die typischen Symptome der Pubertät deutlich intensivieren. Hinzu kommen traumatische Aspekte. Durch gute und wertschätzende Begleitung der Familien durch die turbulente Phase kann das Pflegeverhältnis deutlich öfter mit einem zufriedenstellenden Ausgang in das Erwachsenenalter übergeleitet werden.

– Unterstützung und Stärkung der Familien bei der Durchsetzung der sozialrechtlichen Leistungen wie Pflegegrad und Schwerbehindertenausweis für die Betroffenen.

Den Familien möchten wir folgendes mit auf den Weg geben:

– Seien Sie gut zu sich und den Betroffenen.

– Vermeiden Sie zu hohe Anforderungen.

– Vermeiden Sie es, sich im ständigen Kampfmodus zu befinden. Treten Sie einen Schritt zurück, tanken Kraft und suchen sich Unterstützung für das Erlangen von Zielen.

– Haben Sie Verständnis für ihr unwissendes Umfeld. Es ist oft keine Absicht sondern tatsächlich Unkenntnis.

– Vernetzten Sie sich, besuchen Sie Selbsthilfegruppen, werden Sie selbst aktiv in der Selbsthilfe.

– Suchen Sie frühzeitig Hilfe und verlagern schwierige Situationen auf mehrere Schultern.

– Verinnerlichen Sie, die Betroffenen können sich nicht anders verhalten.

– Seien Sie stolz auf sich und ihr Kind/Jugendlichen! Sie alle leisten sehr viel.

Für Fragen rund um das Thema steht unsere kompetente FASD-Beratung montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr gern und kostenlos zur Verfügung: 0800 – 0827292

Sie müssen das Kind endlich mal loslassen

„Eines schon vorab“, macht sich Pflegemutter Ilka* aus Niedersachsen Luft: „Ohne umfangreiche Kenntnisse zu rechtlichen und medizinischen Fakten kann man das komplizierte öffentliche Antragsverfahren im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII nicht erfolgreich bewältigen. Wochen und Monate haben wir uns für unser dreizehnjähriges Kind durch den Gesetzes-Dschungel des SGB gekämpft.“ Und immer wieder sei man abgewiesen worden mit dem Hinweis, hierfür sei man nicht zuständig. Immer wieder folgten verständnislose Rückfragen in der Zuständigkeit wechselnder Sachbearbeiter. Unentwegt habe man schriftliche Erinnerungen verschicken müssen, damit das Verfahren nicht in irgendeiner Schublade versandete. Bis schließlich das Jugendamt zu einem persönlichen Termin mit Kind aufforderte. 

Pflegemutter Ilka erinnert sich nur zu gut:

„Zuerst sollte unser Sohn allein einen ellenlangen Fragebogen ausfüllen; schreiben und lesen könne er doch und Antragsteller sei das Kind selbst. Er verstand die Fragen nicht und wollte auf den sozialpädagogischen Helfer lieber gleich verzichten……’die kennen mich doch, die wissen doch, wie ich bin, die haben ja nix verstanden, die spinnen ja, ich lass das ….. ach, nein, ich darf ja endlich unterschreiben’. Ein freches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit und der Halbstarke schmetterte seine Unterschrift in krakeligen Druckbuchstaben und unleserlichen Strichen unter das Formular. So Mutti, jetzt kriege ich aber die Playstation, ne? Hier gelang es ihm sofort, die Belohnung einzufordern. Das Ursache-Wirkungsprinzip klappt gewöhnlicherweise im Alltag nicht. Daher schaute mich der Sachbearbeiter, an dessen Schreibtisch wir noch saßen und dem ich ja zuvor erklärt hatte, wie eingeschränkt die Handlungsplanung bei unserem jungen Wilden ist, bei dieser Bemerkung gleich wieder kritisch hinterfragend an.“

Wieder gingen viele Wochen ins Land, bis, ja bis eine “multiaxiale sozialmedizinische und jugendpsychiatrische Beurteilung und Begutachtung” eingefordert wurde. Die Familie atmete durch. Man hatte durchaus solche Berichte, sogar einen ganzen Stapel. Doch zu früh gefreut. “Nicht älter als sechs Monate”, lautete der schriftliche Hinweis, der erst nach weiteren Wochen eintraf, mitsamt einer Einladung zu einem weiteren Hilfeplangespräch.

„Was wollen die schon wieder von mir. Ich will meine Ruhe haben. Die können mich mal. Na gut, ich gehe mit, wenn du das willst”, war die Antwort des Pflegesohnes.

Ilka weiß noch genau: “Unser Junge saß neben mir, pulte nervös an seinen Fingernägeln und schaute immer wieder verunsichert zu mir rüber. Ich sollte schildern, was bei ihm alles oft misslang, wo die Handicaps liegen, welche Hürden sich immer wieder auftun, wie schräg es oft zuging und wie wir seine Überforderung im täglichen Alltag zu vermeiden suchten.

Und dann das: Der Sachbearbeiter fragte unseren Sohn, ob er denn schon eine Freundin habe, wie die aussehe und ob er sie möge. Ich war entsetzt – alles Fragen, die für einen in der Pubertät befindlichen jungen Wilden eine echte Provokation und Herabwürdigung bedeuteten. ‘Dazu sage ich nichts’, gab mein Pflegesohn die einzig richtige Antwort und ich war stolz auf seine Reaktion.

Um unseren Pflegesohn zu schützen und ihm nicht zuzumuten, alle Unzulänglichkeiten anhören zu müssen, bat ich darum, das Gespräch unter vier Augen fortzusetzen. Der Bitte kam der Sachbearbeiter nach, aber eine Zurechtweisung folgte auf dem Fuße. Ich müsse dieses Kind jetzt endlich mal loslassen. Der Junge sei alt genug und sollte es aushalten, mal eine halbe Stunde stillzusitzen und nicht an den Nägeln zu pulen.

Dann erklärte er mir, dass eine erneute diagnostische Abklärung eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie nötig sei. Es fehlt eine multiaxiale Beurteilung nach den verschiedenen Klassifikationssystemen.

Ilka: “Mein armes Kind, noch einmal diese ganze Prozedur!”

Die Diagnostik wurde dann erneut durch mehrere Testungen bei einem Arzt, der nach den Leitlinien eines wissenschaftlichen Papiers vorgegangen ist, als Mehrbereichsdiagnostik durchgeführt. Diese und die gewünschte multiaxiale Diagnostik als Anlage nach ICF-CY stellte sich dann wie folgt dar:

Nach der ICD-10 (DIMDI)bestehen folgende Diagnosen:

• Alkoholembryopathie/fetale Alkohol-Spektrum-Störung

• als Komorbiditäten hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens

• Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten 

• Hirnorganische Persönlichkeitsstörung

• Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung 

Und nach dem multiaxialen System der Kinder- und Jugendpsychiatrie bestehen folgende Diagnosen:

• Entwicklung/Intelligenz:klinisch-psychiatrisches Syndrom F07,

hirnorganisches Psychosyndrom aufgrund organisch chronischer

hirnorganischer Erkrankung F07.9

Wir haben nach Durchlaufen des umfangreichen Antragsverfahrens tatsächlich einen sozialpädagogischen Einzelfallhelfer genehmigt bekommen, der mit unserem Sohn Freizeitaktivitäten durchführte, die ein Dreizehnjähriger nicht mehr mit Mutti machen wollte.

* Name zum Schutz der Familie geändert

Aufgezeichnet von Dagmar Elsen

Mit etwas Druck wird schon was aus ihr werden

“Als ich als Verantwortliche im Pflegedienst den Notruf wählen musste, wurde mir selbst schwarz vor Augen.” Für Anne* war das der Moment, nach dem ihr endgültig klar war: “Ich fühle mich hoffnungslos überfordert. Ich bin es. Ich kann nicht mehr.”

Von Kindesbeinen an hatte sich die heute 34jährige immer wieder gestresst gefühlt. Sie sei ein ruhiges Kind gewesen, zurückhaltend, introvertiert und schnell reizüberflutet. Im praktischen Leben merkte Anne, dass sie leicht ablenkbar war. Mitten während einer Tätigkeit vergaß sie, sie zu Ende zu bringen. Überall ließ sie Dinge herumliegen und nahm das nicht wahr. “Abläufe, die mehr als drei verschiedene Tätigkeiten erforderten, à la ‘bring den Müll raus, schau nach Frau B. und schließ danach die Türe vom Haupthaus ab’, konnte ich mir nicht merken”, so Anne.

Ihre Pflegemutter wurde mit diesen Herausforderungen oft ungeduldig. “Meine Eltern waren sehr erfolgsorientiert und arbeiteten viel”, berichtet Anne. Dabei habe ein Arzt in ihrer frühen Kindheit zu den Pflegeeltern, beides Pädagogen, mit auf den Weg gegeben: “Wenn ihre Tochter mal den Hauptschulabschluss schafft, ist das schon okay, erwarten sie nicht zuviel.” Das aus gutem Grund. Wussten sie doch, dass Anne auf Fetales Alkoholsyndrom diagnostiziert war, dokumentiert im Arztbericht. “Das haben meine Eltern aber ignoriert, bzw. gedacht, wenn man sie nur oft genug erinnert und etwas Druck macht, wird aus ihr schon was werden. „Wir können doch stolz sein, was aus unserer Tochter geworden ist“ – bis ich 28 Jahre alt war und der endgültige Zusammenbruch geschah.”

Wieso nur ist dem Jugendamt im Laufe der Jahre nichts aufgefallen? Nicht einmal, als Anne von zu Hause abhaut und sich aus lauter Verzweiflung mit 19 Jahren hilfesuchend ans Jugendamt wendet. O-Ton Anne: Es ist doch schon schräg genug, wenn jemand in dem Alter von zu Hause wegläuft.” Optisch habe man ihr FAS kaum mehr angesehen. “Und ich war ja nicht blöd”, lautet ihre Erklärung. Denn dank einer guten täglichen Struktur schaffte Anne sogar das Fachabitur. Die Pflegeeltern konnten dem Jugendamt also stets vermelden: „Die Anne, ja, die macht sich gut.“

Die auf existentielle Sicherheit bedachten Pflegeeltern suchten mit ihr einen vermeintlich krisensicheren Beruf aus. Anne machte eine Ausbildung zur Altenpflegerin, ohne dass bedacht wurde, welch ein immenses Stresslevel dahintersteckt. Der Zeitdruck in der Altenpflege machte ihr von Beginn an zu schaffen. „Dass ich dort bereits massiv überfordert war, war mir da gar nicht bewusst. So habe ich als zurückhaltende Tochter und Kollegin versucht das zu machen, was von mir erwartet wurde, auch wenn ich nach der Arbeit nur noch schlafen konnte, weil ich für nichts mehr Energie hatte.“ Hinterfragt worden sei das von keiner Seite. Später, in der realen Arbeitswelt, sei die Überforderung immer schlimmer geworden.

Eines Tages zog Anne die Notbremse, flüchtete sich in ein Freiwilliges Soziales Jahr und ging nach Augsburg. Dort arbeitete sie im Museum. Hier passierte das genaue Gegenteil. Anne war unterfordert. Ihr seien keine klaren Aufgaben gestellt worden. Aufgaben, an denen sie Interesse zeigte, seien ihr nicht zugetraut worden, weil sie doch nur eine Praktikantin sei. Die 34jährige rückblickend: “Da habe ich krasse Depressionen gekriegt. Ich fühlte mich so hilflos, so ohnmächtig.” Aber ihr war klar, dass sie dringend etwas unternehmen musste. Sie suchte die Grenzerfahrung: “Ich habe mich aufs Fahrrad gesetzt. Bewegung hat mir gut getan. Ich bin in zwei Tagen mit dem Fahrrad nach Nürnberg gefahren und habe alleine in der Wallachei übernachtet. Danach ging es mir besser. Mir hat auch diese Routine auf dem Fahrrad gut getan. Immer dieses Gleichmäßige, das dauernde Treten der Pedale, das die Räder immer weiter drehen lässt. Es geht immer weiter. Es gibt das Gefühl einer gewissen Zuverlässigkeit. Danach hatte ich richtig viel Energie.”

Anne entschied sich für ein Kulturstudium in Lüneburg. Dort war auch erst einmal alles gut. Es gab klare Vorgaben und eine gute Struktur. “Ich habe zwar immer länger gebraucht als die anderen. Aber das war mir egal”, so Anne. Sie wechselte die Universität nochmal und studierte weiter in Hamburg. Nun stand die Bachelorarbeit an. Und die Katastrophe nahm ihren Lauf. In Hamburg sei alles sehr frei und kreativ gewesen, von wegen ‘sucht euch mal ein Thema, was euch interessiert’; dies sehr oft in Gruppenarbeit. Gift für Anne. Sie drohte zu scheitern. Das Scheitern vor Augen wollte Anne nicht verstehen. Sie machte mit diesem Studium doch endlich das, was sie schon immer gewollt hatte. Warum klappte das nicht? Alle hatten sich doch mit ihr gefreut, dass sie endlich ihren Weg gefunden hatte.

Anne war verzweifelt. Dann kam on top eine Blasenentzündung. Der Arzt verschrieb ihr ein Medikament, von dem sie nur noch kränker wurde, so schlimm, dass sie das Studium kurz vor dem Ziel aufgeben musste. Geldsorgen kamen hinzu, denn sie hatte eine Studienkredit aufgenommen.

Anne: “Ich hatte ein Fachabi in der Tasche, war ausgebildete Altenpflegerin und sehe neben mir eine Hauptschülerin, die mehr auf die Reihe kriegt im praktischen Leben als ich. Man fühlt sich total beschissen. Keiner wusste, was mit mir los ist. Keiner konnte mir helfen. Im Jobcenter sind sie sehr nett gewesen. Aber helfen?”

Anne wusste nicht mehr ein noch aus. Ihre Schwester war schließlich die treibende Kraft, sie zu einem Psychiater zu mitzunehmen und sich mit ihr um ambulant-psychiatrische Unterstützung kümmerte. “Und dann saß ich bei der Psychiaterin, die mir aus meiner Akte vorlas, dass meine leibliche Mutter viel Alkohol in der Schwangerschaft getrunken hat, und mir kamen die Tränen”, erinnert sich Anne noch sehr genau an ihre Fassungslosigkeit und ihren Schmerz. Sie konfrontierte ihre Pflegeeltern mit dem Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom, die ihr daraufhin vorschlugen, sich diagnostizieren zu lassen.

Nun ist es amtlich und “ich habe wenigstens eine Diagnose, die mich schützt”, stellt die 34jährige klar. Aber klar ist auch, dass sie seit der Medikamenteneinnahme chronisch krank und arbeitsunfähig ist. Autoimmunerkrankungen werden die junge Frau ihr Leben lang begleiten, ebenso wie Chronic fatigue – chronische Überforderung.

Ihren kleinen Haushalt führen, Anträge stellen, sich mit der Krankenkasse auseinanderzusetzen, alles Dinge, die ihr früher gut von der Hand gingen. Jetzt nicht mehr. Sie hat sich deshalb um eine gesetzliche Betreuung gekümmert, die außerdem die Grundsicherung für Anne beantragt hat. Zusätzlich wird sie von einer Haushaltshilfe im täglichen Leben unterstützt. “Jetzt kann ich zur Ruhe kommen, auch wenn es schlimm ist, was passiert ist”, sagt sie, und auch: “Trotz allem bin ich stark geblieben.”

Und im Rückblick zieht sie folgendes Fazit: “Für mich sind viele Zusammenhänge deutlich geworden, die mit mehr professioneller Unterstützung, Feingefühl und Rücksicht auf FAS vermeidbar gewesen wären.

*Der Name ist auf Wunsch geändert

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne