Mit 18 bin ich trotz FAS kein Kind mehr

Ich merkte es selbst. Das Rad drehte immer schneller. Ich wurde immer aggressiver, fuhr immer schneller aus der Haut, konnte meine Wutausbrüche kaum mehr regulieren. Ich rastete immer wieder so sehr aus, dass ich mich selbst verletzte, indem ich brutal gegen die Wände schlug bis die Handknöchel aufplatzten, oder zumindest der Handrücken blau anschwoll. Ich hatte keine Lust mehr auf die Arbeit in der Küche des Altenwohnheims, ich hatte keine Lust mehr in der Wohngemeinschaft zu leben. Ich hatte keine Lust mehr auf dieses verdammte Leben.

Ich war nur noch selten gut gelaunt unterwegs. Im Grunde war ich dauerwütend. Das bekamen vor allem die Betreuer in der WG zu spüren. Ich war verbal ausfallend, behandelte alle wie Dreck, hielt mich nicht mehr an Regeln, manche hatten sogar Angst vor mir. Immer öfter ging ich nicht mehr zur Arbeit. Wenn ich es vermeiden konnte, blieb ich der WG fern, schlief ständig bei irgendwelchen Freunden.

Warum auf einmal dieser Stimmungswandel, da bisher ja eigentlich alles soweit ganz gut gelaufen war?

Ich war inzwischen 18 Jahre alt geworden und ich fühlte mich immer noch behandelt wie ein Kind. Ständig wurde ich bevormundet. 18 Jahre heißt ja schließlich volljährig, selbst bestimmen, was man tun und lassen will, nicht mehr permanent unter Beobachtung stehen. Ich hatte auch keine Lust mehr auf dämliche Spieleabende in der WG, keine Lust auf Gemeinschaftskochen, keine Lust auf gemeinsames Ausgehen am Samstagabend. Ich hatte kein Bock mehr für alles ständig kontrolliert zu werden. Und ich wollte mich nicht mehr für alles und jedes rechtfertigen müssen. Ich wollte behandelt werden als erwachsener Mensch. Ich wollte insgesamt mehr Freiraum im Rahmen der Betreuung.

Dass ich nicht alles alleine konnte, war mir schon klar. Ich schaffe es zum Beispiel nicht, regelmäßig selbständig aufzustehen und pünktlich zur Arbeit zu kommen. Ich komme einfach mit der Zeit nicht klar, weil mir das Gefühl dafür fehlt. Geld muss ich wöchentlich ausgehändigt bekommen, sonst gebe ich alles auf einmal aus. Meine vielen Arztbesuche, Friseurtermine und solche Dinge kann ich nicht alleine organisieren, da brauche ich Hilfe.

Meine Mutter war im alarmierten Dauereinsatz, die WG-Betreuer zu beruhigen und nach einer Lösung zu suchen. Die Idee war: Einzelzimmer-Appartement im gleichen Haus der Wohngemeinschaft. Das gab es, diese waren aber belegt. Ich sollte mich in Geduld üben. Man arbeite daran, hieß es wieder und wieder. Die Wochen verstrichen, die Monate zogen ins Land. Nichts passierte, gar nichts. Mir riss der Geduldsfaden. Ich beschwerte mich bei meiner Mutter, dass sich nichts ändere. Sie bot mir an, dass sie nach anderen Möglichkeiten schauen könne, was aber mit einem Ortswechsel verbunden sei. Das wollte ich nicht. Veränderungen sind anstrengend für mich, im Grunde überfordern sie mich. Außerdem wollte ich meine Freunde nicht verlieren.

In der WG fing ich wieder an zu randalieren. Die Betreuer unterstellten mir, ich sei gewalttätig. Sie glaubten, ich würde mit Kriminellen abhängen. Heimlich durchsuchten sie mein Zimmer, schauten in meine Schränke. Das ist verboten. Das interessierte sie aber nicht. Was sie fanden, brachten sie zur Polizei und wollten mich wegen Waffenbesitzes anzeigen, um mich schon allein aus diesem Grund rausschmeißen zu können. Der Trick funktionierte aber nicht. Denn was sie der Polizei vorlegten, war schlicht ein Brieföffner, dessen Klinge nicht einmal lang genug war, um als Waffe zu gelten. Den hatte ich mal im Sperrmüll gefunden. Dann unterstellten die Betreuer mir noch, im Supermarkt geklaut zu haben. Auch das war Fake.

Trotzdem, eines Tages kam es blitzartig zum Shutdown. Denn wenn ich mich nicht an die Vorgaben und Regeln der WG hielte, passe ich nicht mehr in den vorgegebenen Rahmen. Zwei Betreuer kamen auf mich zu und sagten: “Pack Deine Sachen. Du bist raus. Maßnahme beendet.” In wilder Hast musste ich zwei Taschen packen. Draußen wartete die Polizei. Ich musste mit auf die Polizeistation. Meine Mutter war über die ganze Aktion nicht informiert. Das hatten die Mitarbeiter der Wohngemeinschaft gemeinsam mit dem Jugendamt heimlich abgestimmt. Der Rausschmiss bedeutete aber auch: Da landet ein volljähriger zu 80 Prozent Schwerbehinderter mit den Merkmalen G,B,H quasi obdachlos auf der Straße. Deshalb hatte die Einrichtung die Polizei verständigt. Sollten die doch sehen, was sie mit mir machen. Wow!

Die Polizisten waren sehr nett zu mir. Sie kannten mich. Einer, der Chef, rief meine Mutter an und ich hörte wie er sagte, dass er nichts schlechtes über mich sagen könne. Er kenne mich aus dem Ort nur freundlich und kooperativ. Dass ich gewaltbereit sei, das könne er nicht bestätigen. Meine Mutter jedenfalls fiel aus allen Wolken und war fassungslos über all das Geschehen.

Jetzt war guter Rat teuer. Aber meine Mutter, ja die kann tatsächlich Berge versetzen. Um es kurz zu machen: Ich kam in eine andere Stadt in eine offene Wohngemeinschaft mit ambulanter Betreuung. Über das Bildungswerk wurde ich für Praktika an Altenwohnheime vermittelt, um dort in der Küche zu arbeiten.

Tja, was soll ich sagen. Zunächst ging das alles einigermaßen gut. Ich genoss vor allem meine neu erworbene Freiheit. In den ersten Wochen kümmerte sich meine Mutter sehr intensiv um mich. Für mich war ja alles neu und fremd. Ich musste so viele neue Menschen kennenlernen. Ich musste so viele Wegstrecken erlernen. Wie oft stand ich irgendwo völlig orientierungslos und wusste nicht weiter, war außer mir, wütend über die Situation, über mich, weil ich mir nicht selber helfen konnte, es hasste, unfähig zu sein. Die Betreuer, die ich vor Ort hatte, konnte ich in solchen Situationen nicht anrufen. Die hatten feste Zeiten mit mir. Das machte mich wütend. Das war schwierig für mich einzusehen. Deshalb musste meine Mutter immer am Telefon herhalten. Das war nervenaufreibend – für sie, für mich.

Ich musste lernen, wo ich was einkaufen und wo ich was im Supermarkt finden konnte. Die Supermärkte hier waren um ein vielfaches größer als das, was ich von vorher gewohnt war. Bis ich dann endlich mal die Produkte, die ich gewohnt war, in den Regalen gefunden hatte, dauerte. Ich vergaß vieles wieder. Anfangs begleitete mich meine Mutter, dann wollte ich allein. Das klappte mehr schlecht als recht, so dass ich häufig entnervt war. Meine Mutter weigerte sich, mich dauerhaft so intensiv wie zu Anfang zu unterstützen. Das sollte die Aufgabe der Betreuer sein. Das wollte ich aber nicht. Ich kannte die doch gar nicht. Ich bockte viel und war unfreundlich. Es dauerte, bis ich mich auf fremde Hilfe einließ.

Dann kam die Pandemie und damit der erste Lockdown, der alles verändern sollte.

Niedergeschrieben von Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne