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FASDplus: Wir haben Kinder, die multipel schwer beeinträchtigt sind

Im Rahmen der Diagnostik tun sich immer wieder, und das sehr oft, hochkomplexe Problemfelder auf. Auf unserem jüngsten FASD-Fachtag haben wir deshalb die Differenzialdiagnostik thematisiert. Dazu antworteten der Moderatorin Dagmar Elsen, Journalistin und Autorin, der Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt der Klinik Walstedde, Dr. Khalid Murafi, und die Psychiaterin vom Sozialpädiatrischen Zentrum und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité Berlin, Dr. Heike Wolter.

Dagmar Elsen: Herr Dr. Murafi, Stichwort FASDplus – Ihr Spezialgebiet – wann ist die Differenzialdiagnostik angesagt? Welche weiteren psychiatrischen Erkrankungen spielen eine Rolle? 

Dr. Khalid Murafi: Wieviel Zeit hab‘ ich jetzt? Ich versuche mal, ein bisschen kompakter zu fassen. Das Entscheidende ist, dass die Risikokonstellation, dass während der Schwangerschaft Alkohol oder andere toxische Substanzen konsumiert werden, einhergeht mit anderen Risikofaktoren, die höher wahrscheinlich sind. Eine häufige Ursache für die Suchtentwicklung bei den betroffenen Frauen sind affektive Erkrankungen. Das können Depressionen sein, bipolare Störungen, Psychosen, Traumafolgeerkrankungen. Es kann sein, dass damit einhergeht – zum Beispiel jetzt ganz lebensgeschichtlich fokussiert -Gewalterfahrung während der Schwangerschaft, vorherige Traumatisierung. Das sind alles Dinge, die sich dann auch auf die Entwicklung mit auswirken. Das heißt, wir haben teilweise Veränderungen, was die Gemütsentwicklungen angeht hinsichtlich Denk- und Verhaltensweisen. Da bin ich bis heute immer wieder verwundert, wie spezifisch manchmal die Veränderungen durch den Alkohol durch das Aussetzen während der Schwangerschaft sind. 

Aber es gibt eben auch diese anderen Risikofaktoren, die hinzukommen – zum Beispiel eine genetische Belastung. Dass hat zur Folge, dass irgendwann eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, mit dem Stressor Intoxikation während der Schwangerschaft oder andere Stressoren während der Schwangerschaft, dass diese Krankheiten – Depressionen, Psychosen, affektive Erkrankungen, bipolare Störungen – eben dann auch niederschwelliger ausbrechen.

Es gibt einen anderen Risikofaktor, der sozusagen nachgeburtlich auftritt. Das heißt in Kombination mit dem niederschwelligen Alkoholkonsum trotz besseren Wissens während der Schwangerschaft geht natürlich auch einher, dass es seelische Belastung auch nach der Geburt geben kann auf Seiten der Mutter. Die ersten 20-24 Monate sind hochrelevant für die Sozialisierung in dem resonanten Begleiten der Neugeborenen und der Säuglinge. Das betrifft die Entwicklung von Impulsregulation, Affektregulation, Selbstbild, wissen, was ich fühle, wie ich damit umgehe und so weiter. Und wenn die Sozialisation ausbleibt aufgrund von sehr schwerwiegenden Defiziten, sei es aufgrund der Alkoholproblematik, einer Suchtproblematik, sei es aufgrund der komorbiden Umstände oder anderen psychischen Erkrankungen, dann haben wir eben das Risiko, dass die Kinder zusätzlich strukturelle Störungen entwickeln. Das kann dann später zu einer Borderline-Störung führen. 

Und das sind ja auch die dramatischen Entwicklungen, die wir dann sehen. Das geht eine Zeitlang gut, zum Beispiel in Pflege- oder Adoptivfamilien, teilweise auch in Heimsituationen. Aber dann spätestens mit Eintritt in die Pubertät, bricht das ganze System. Die Kinder stehen unter schweren Bindungsstörungen, können dann die Beziehungsangebote oft nicht weitertragen. Das sind eben die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen. Außerdem, lassen Sie mich den Satz noch anhängen, haben die Kinder auf unterschiedlichen Ebenen durch die Spezifika zum Beispiel der leichten Beeinflussbarkeit als eines der wichtigen Merkmale in der Gemütsentwicklung. Bei den Jungen habe ich vorhin schon angedeutet, das Risiko, dass sie eine dissoziale Entwicklung einschlagen. Bei den Mädchen eben, dass sie eine promiske Entwicklung einschlagen, also niederschwellig bereit sind, sexuelle Handlungen mit zu tun, weil darüber dann Selbstwert generiert wird und eine schnelle Wirksamkeit erzielt wird. Die nachhaltige Entscheidung über ihr Verhalten, das ist der Unterschied zwischen den Kindern mit und ohne FASD, die jeweils schon eine sehr schwere Störung des Sozialverhaltens und eine dissoziale Entwicklung haben – ich nenne ein Beispiel: Wenn ich die Kinder ohne FASD frage, was hast Du denn da für einen Unfug gemacht? Machst Du das morgen wieder? Dann sagen sie, nein mache ich nicht. Aber sie wissen schon, dass sie es morgen wieder machen. Die FASD-Kinder sagen mir auch, ja mache ich nicht mehr und sie meinen das auch ernst. Sie machen es morgen aber trotzdem wieder. 

Diese ganzen komplexen Zusammenhänge führen dann eben zu den Konstellationen, mit denen wir zu tun haben. Dass wir dann Kinder haben, die multipel schwer beeinträchtigt sind und nicht nur Summationseffekte entstehen. In der Krankheitsentwicklung ist die Schwere der Erkrankung bei dieser FASDplus-Konstellation eben dann auch mehr als die Summe der einzelnen Belastungsfaktoren. Damit sind wir dann beschäftigt und versuchen das zu sortieren. Und da braucht es, wenn sie beispielsweise eine biologisch psychiatrische Erkrankung haben, eine spezifische Medikation. Oder eine spezifische Psychotherapie für die schweren Bindungsstörungen. Obendrein in dieser Gemengelage von FASD an sich, die an sich schon schwierig genug ist, ist es wichtig, sich entsprechend zu orientieren.

Dr. Heike Wolter: Auch hinsichtlich des Themas Schule ist  FASDplus total wichtig. Es reicht nur die Diagnose FASD letztendlich nicht. Es braucht dringend eine ergänzende psychiatrische Diagnostik. Umfassend. Um wirklich zu sehen, wo sind die Stärken und Schwächen. Ich erlebe das im Alltag immer wieder. Es ist dann am Ende des Tages relativ simpel. Die Kinder dürfen nicht überfordert werden. Wenn diese Kinder überfordert werden, dann geht nichts mehr.

Ich habe jetzt nach langen, langen Kämpfen erreicht, der Junge hatte alles in der Schule, Schulbegleitung, Medikation rauf und runter, Tagesklinik, immer wieder Psychiatrie. Jetzt hat er es geschafft, in eine Förderschule zu kommen in Brandenburg oder Potsdam. Und jetzt geht es ihm gut. Jetzt ist er entlastet. Kleine Klassen, Förderschwerpunkt Lernen, obwohl er eigentlich im unteren Durchschnittsbereich vom IQ liegt. Jetzt ist die Aggressivität endlich beendet, oder zumindest weitgehend beendet. Und es war wirklich hochdramatisch. 

“Bin entschlossen, das Thema zu befördern”

Michaela Pries, Landesbehindertenbeauftragte Schleswig-Holstein (Foto links), auf unserem FASD-Fachtag am 9. November in Dagebüll:

„Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, dass Sie mit so einer Vehemenz dieses Thema vorantreiben, dass sie informieren, dass sie all das tun, was Sie tun und das machen sie quasi kostenfrei. Das ist auf der einen Seite großartig und wie gesagt, aller Respekt, alle Wertschätzung dafür. Aber es ist eigentlich auch ein Skandal. Ja, das ist eigentlich eine Aufgabe, die hat jemand anderes zu erledigen.

Natürlich ist Ihre Expertise sehr wichtig. Aber es kann nicht sein, dass sie über einen eingetragenen Verein eine Arbeit leisten müssen, ohne eine Ressource von außerhalb. Dass sie zwar angefragt werden für alles mögliche, aber dafür sozusagen nicht die Ressourcen bekommen, um das dann auch leisten zu können. Das kann eigentlich so nicht sein. Und aus meiner Praxis als Landesbeauftragte haben wir nicht täglich, aber regelmäßig und häufig Fälle, wenden sich Menschen an uns aus unterschiedlichen Zusammenhängen, die Nachfragen haben, die aufzeigen, wo es Probleme gibt, an zum Beispiel eine gute Leistungsgewährung zu kommen, an Diagnostik, an all das, worüber sie eben im Ansatz schon gesprochen haben. 

Aber mein Eindruck und meine Erfahrung ist, je frühzeitiger wir eine klare Diagnose haben und die Zusammenhänge kennen, desto früher gibt es den Zugang auch zu passgenauen Unterstützungsangeboten.

Ein großes Problem haben wir mit jungen Erwachsenen, die mit dieser Diagnose schon lange unterwegs sind, ohne dass es bekannt ist. Die Systeme sind für sie nicht ausgerichtet. Wir sehen das gerade bei den Wohnangeboten. Die haben wir für diese Menschen nicht.

Angesichts der Anzahl der betroffenen Kinder, plus der dazugehörigen sozialen und familiären Systeme, denn das sind ja auch nochmal Menschen, die ganz klar mit in den Blick genommen werden müssen, sind wir tatsächlich in einer absoluten Unterversorgung.

Ich bin gestern bei einer Fachtagung gewesen, eingeladen vom Gesundheitsministerium. Da ging es um Public Health Policy, also eigentlich Bürgerinnen- und Bürger-Gesundheit. Wie geht es den Leuten in Schleswig-Holstein und was müssen eigentlich ein Land und die Politik und die Gesellschaft tun, damit mögliche Faktoren geschaffen werden, damit Menschen in Schleswig-Holstein möglichst gesund leben können. Und wenn ich auf unser Thema heute schaue und wenn ich auf das schaue, was man gestern so ein bisschen identifiziert hat, was sind das für Rahmenbedingungen? Da haben wir richtig viel Luft nach oben. Und ich werde auf alle Fälle aus meiner Rolle heraus ihr Thema mit aufnehmen. Ich werde das alles als Handlungsempfehlungen an die Landespolitik formulieren und an alle anderen Zuständigen. Wir werden an die kommunale Ebene adressieren müssen. Aber, das habe ich gehört, das Bildungsministerium hat im Sinne einer Kooperation mit Aufklärung an Förderzentren schon einmal einen ersten Ansatz gezeigt. Das würde ich gerne unterstützen und wie gesagt, ich bin sehr gespannt, was sie heute hier auch nochmal erarbeiten. Ich finde es großartig, dass so viele heute auch hier sind aus den unterschiedlichsten Bereichen. Ich signalisiere Ihnen dadurch, dass ich heute hier bin, meine Entschlossenheit, das Thema zu befördern.“

Für den ersten Themenblock des Fachtages “Bedeutung frühzeitiger Diagnose – FASDplus /Differenzialdiagnostik /Was Medikation leisten kann /Therapien /Assistenzen /Sinn und >Nutzen des Behindertenausweises”saßen außerdem auf dem Podium: von links Ruth Böttcher-Carstensen (Schulassistenz), Nadine Hess (Koordinatorin Schulbegleitung beim Träger “Soziales mit Herz”), Dr. Khalid Murafi (FASD-Experte, Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt der Klinik Walstedde – Seelische Gesundheit für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene), Kristina Schröder (FDP-Abgeordnete Schleswig-Holstein), Professor Dr. Hans-Ludwig Spohr (internationale renommierter FASD-Experte, Kinderarzt und Neuropädiater), Dagmar Elsen (Journalistin und Autorin), per Videoschalte Dr. Heike Wolter (FASD-Expertin, Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums und Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité Berlin)

“Wir muten keinen anderen Menschen einen derartigen Irrgarten an Zuständigkeiten zu“

Für den 26. Juni hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu einem Runden Tisch in sein Ministerium geladen. Thema war, „die Versorgung Schwerstbehinderter Kinder zu stärken und Familien von Bürokratie zu entlasten.“ Dazu sollen die Bedarfe der Familien ermittelt werden. Mit von der Partie in dieser Runde in Berlin war auch Dagmar Elsen, Journalistin, Autorin und Initiatorin der Kampagne Happy Baby No Alcohol. Es bot sich ihr die Chance, auf das Grundübel für alle Menschen, die unter fetalen Alkoholschäden leiden, hinzuweisen: die fehlende Festschreibung Fetaler Alkoholspektrumstörungen (FASD) in der Versorgungsmedizinverordnung. Hier ihr Bericht aus Berlin:

Werden Eltern von Kindern mit Behinderungen gefragt, was sie sich zur Entlastung ihres Lebens wünschen, so steht an erster Stelle der Ruf nach Entbürokratisierung. Als nächster Punkt wird unzulängliche Beratung genannt. Das ergab unter anderem eine aufwändige Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus den Jahren 2021/2022 mit dem Titel “Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen – Unterstützungsbedarfe und Hinweise auf Inklusionshürden“. Das 123 Seiten starke Forschungsergebnis war denn auch eine Grundlage für den Plan des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach, ein „Barrierefreies Gesundheitswesen“ zu schaffen, das er noch in diesem Sommer vorstellen will. Das Auftaktgespräch dafür fand im April diesen Jahres statt, in dessen Folge von ihm zu diesem Runden Tisch geladen wurde. Ziel war es, auch von Medizinern und Vertretern sozialer Einrichtungen und Verbänden zu hören, wo die Defizite in unserem Gesundheitssystem liegen und wie die Versorgung Schwerstbehinderter Kinder verbessert werden kann. Es handelt sich um „eine sehr vernachlässigte Gruppe unserer Gesellschaft“, konstatierte der Bundesgesundheitsminister. 

Dafür schaffte Lauterbach das Novum einer ressortübergreifenden Runde in Berlin. Denn Ausrichter des Runden Tisches war zwar das Bundesgesundheitsministerium, dies aber in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Arbeit und Soziales. Zudem waren Bundestagsabgeordnete der Koalition vertreten. Und in der Tat – „diese Runde ist ein Meilenstein“, äußerte denn auch Professor Dr. Florian Heinen aus München unter allgemeiner Zustimmung.

Wie schon die genannte Studie gezeigt hatte, wurde auch in der Berliner Runde hervorgehoben, dass eine Entbürokratisierung oberste Priorität haben müsse. „Es ist ein trägerübergreifender Ansatz notwendig“, sagte der Bundesbehindertenbeauftragte Dusel. Viele Eltern wüssten gar nicht um ihre Leistungsansprüche. Und weiter: “Wir muten keinen anderen Menschen einen derartigen Irrgarten an Zuständigkeiten zu.“ Beklagt wurde außerdem, dass sich Betroffene immer als Bittsteller fühlten, die Regeln zu starr seien, mangelnde Wertschätzung, unzureichende Beratung, fehlendes Fachwissen, zu wenig Fortbildung, fehlende Unabhängigkeit von Verfahrenslotsen, Mangel an Fachkräften und vieles mehr. 

In der Runde im Bundesgesundheitsministerium wurde schnell sichtbar, dass, egal in welcher Form und wie schwer die Kinder beeinträchtigt sind, alle mit den gleichen oder ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Ebenso ihre Familien und Betreuer.

Allerdings, trug ich vor, haben Betroffene fetaler Alkoholschäden on top mit der Tatsache zu kämpfen, dass FASD in der Versorgungsmedizinverordnung bislang nicht festgeschrieben sind. Das bedeutet, allein schon die Anerkennung der Diagnose ist ein aufreibender Akt, der leider oft nicht von Erfolg gekrönt ist. Dass diese Festschreibung endlich geschieht, dafür mache mich seit geraumer Zeit stark. Zu meiner wunderbaren Unterstützung habe ich die SPD-Staatssekretärin Kerstin Griese und den Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel gewinnen können. So ist es gelungen, FASD auf die Agenda des Gremiums zu setzen, das aktuell dabei ist, ein Update von der Verordnung zu machen. 

Ich wies darauf hin, dass eine Parallelisierung zu Autismusspektrumstörungen, die bereits in der Verordnung gelistet sind, keine große Sache sei. Ein entsprechender Gesetzestextentwurf von Professor Dr. Hanns-Rüdiger Röttgers aus Münster liege bereits vor. Jetzt fehle noch die Unterstützung des Bundesgesundheitsministerium. Lauterbach stimmte mir ohne Wenn und Aber zu, dass fetale Alkoholschäden thematisch sowohl gesellschaftlich als auch im medizinischen Bereich absolut unterrepräsentiert sind. In anderen Ländern wie beispielsweise Skandinavien oder Kanada sei man da viel weiter. Er bat mich, mein Anliegen und den Stand der Dinge zu verschriftlichen, damit die Sache entsprechend geprüft werden könne.

Endlich sagt es mal jemand!

Ein Leserbrief zum Sachbuch „Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr“ von Dagmar Elsen, erschienen im Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein 2022, ISBN: 978-3824813032:

Ich bin Pflegemutter. Seit 2008. Pflegemutter eines damals gerade zwei Jahre alten Kindes mit dem Vollbild Fetales Alkoholsyndrom (FAS). Blauäugig sind wir in die Pflegschaft gestartet, naiv, unwissend, hoch motiviert. Heute, 14 Jahre später, lese ich das Buch der Autorin Dagmar Elsen und wünschte mir aus vollem Herzen, dieses Buch hätte es schon 2008 gegeben!

Wieso? Weil unserer persönlichen Erfahrung nach einzig Professor Hans-Ludwig Spohr von der Charite´ uns damals auf einige, bei weitem nicht alle Probleme, Sorgen, Auffälligkeiten des fetalen Alkoholsyndroms aufmerksam gemacht hat. Informationen zur Gesundheit des Kindes, zum Ausmaß des bekannten Alkoholkonsums der Mutter, zur Perspektive des Kindes mit seiner angeborenen Behinderung, gab es von Seiten des Jugendamtes nur sehr spärlich. Gut in der Hinsicht, dass wir damals dachten: wird schon! Schlecht, weil wir garantiert aus Unwissenheit, Unsicherheit und aus dem Bauch heraus Entscheidungen getroffen haben, die ich mit meinem jetzigen Wissen natürlich anders machen würde.

Und dabei hätte mir ein Buch wie das der Autorin Elsen sehr helfen können!                                      

Nicht nur, weil sie akribisch zum Thema FASD recherchiert hat und selbst Nichtkenner der Materie hier im Buch alles über die fetalen Alkoholschäden, deren Folgen und Auswirkungen, nachlesen können. Nein, ihr gelingt es, dem rein Fachlichen eine persönliche, gar menschliche Note zu geben, indem sie Kontakt zu Betroffenen aufgenommen hat und deren Geschichten einfühlsam niederschreibt. Und was für Geschichten! Ohne aufdringlich oder reißerisch zu wirken, erzählt sie hier von Alltagsepisoden und Problemlagen, die in den Familien mit FASD- Kindern jederzeit und immer anzutreffen sind.

Oh, wie habe ich mich wiedergefunden: die Seiten über die Schulkonflikte, die Berichte zum Umgang des Jugendamtes mit der von der Charite´ gestellten Diagnose, die Unkenntnisse über die vielen „Gesichter“ von FASD…vieles kenne ich auch aus unserem privatem Umfeld!

Es mag dem einen oder anderen Leser vielleicht vorkommen, als gäbe das Buch zu wenig Zuversicht, zu wenig Mut! Meiner Meinung nach klärt das Sachbuch auf: DAS LEBEN MIT EINEM FASD – KIND IST ANSTRENGEND, HERAUSFORDERND und OHNE HILFE KAUM ALLEIN ZU BEWERKSTELLIGEN.

Endlich sagt es mal jemand! Aufklärung tut Not und Beschönigen der Diagnose hilft niemandem, schon gar nicht dem betroffenen Kind.

Dagmar Elsen schreibt in ihrem Vorwort von „kämpferischen Menschen, die aufstehen, die sich trauen, ihre Rechte zu benennen und einzufordern, die ihre Stimme erheben und an die Öffentlichkeit gehen“. Diese Menschen braucht es, es braucht Initiatoren wie Dagmar Elsen, deren Sachbuch eine notwendige Folge Ihrer Kampagne HAPPY BABY NO ALCOHOL ist. Denn ganz ehrlich, es wird auch in der nahen Zukunft Kinder wie Luca und Max, Erwachsene wie Jenny und Dörte geben.

Menschen, die auf die Aufklärung zum fetalen Alkoholsyndrom angewiesen sind. Damit sie Hilfen bekommen und ein barrierefreies, sicheres Leben leben können. Dieses Sachbuch klärt auf!

Hat mich persönlich das Buch davon abhalten können, mit einem FASD-Kind zusammen zu leben?

Ganz klar: Nein!

Trotz aller familiären Schwierigkeiten, der immer noch vorhandenen Unwissenheit und der Halbwahrheiten über FASD bei Kita, Schule und Behörden, der vielen Unwägbarkeiten im Jugend- und Erwachsenenalter haben mein Mann und ich beschlossen, einem weiteren alkoholgeschädigtem Kind Familie zu sein und Zukunft zu geben.

Gerade weil es solche Bücher wie „Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr“ gibt, dass ich jetzt verschenken kann, um aufzuklären, zu erklären und Hilfe für uns und unser Kinder zu bekommen.

Gerade weil diese Kinder am wenigsten dafür können, als sogenannte „Systemsprenger“ in der Gesellschaft abgestempelt zu werden.

Und gerade weil die Gefahr von Alkohol in der Schwangerschaft immer noch unterschätzt wird.Kathrin Niedermanner, Dozentin für Kindeswohlgefährdung

Neue FASD-Beratungsstelle in Rostock

Und plötzlich kommt der Tag, an dem man offene Türen einrennt. So war es bei Conny Kirsten aus Rostock, als sie nach erfolglosen Versuchen anderswo bei der Rostocker Stadtmission e.V. anklopfte, ihr Konzept für eine FASD-Beratungsstelle vorstellen zu wollen.  „Die haben dort schon eine Wohngruppe, in der Kinder mit FASD leben. Die Chefin ist selbst FASD-Fachkraft. Deshalb war sie für das Thema sehr offen und sehr interessiert“, erzählt Conny, selbst FASD-Fachkraft und Pflegemutter eines Kindes mit FASD. Schnell war entschieden, bei Aktion Mensch e.V. eine Projektförderung zu beantragen. 

Morgen, 29. März, nun, ist die offizielle Eröffnung der FASD-Beratungsstelle für Mecklenburg-Vorpommern, auch wenn die engagierte FASD-Akteurin schon längst tätig ist und reichlich Anfragen zu verzeichnen hat. Diese kommen bislang von Hebammen, Jugendhilfeeinrichtungen, Pflegefamilien und den Gesundheitsämtern. „Aus dem Jugendhilfebereich sind es vor allem die Familienhelfer, die frühen Hilfen, die Landeskoordinierungsstelle Sucht, die Sucht- und Psychiatriekoordinatoren“, listet Conny auf. Es seien die übergeordneten Stellen, die sie auf dem Schirm hätten. In den Jugendämtern herrsche allerdings eher Zurückhaltung – bis auf einige Fallmanager. „Tatsächlich haben sich mehrere Fallmanager für die Eröffnungsveranstaltung angemeldet. Es ist das erste Mal, dass ich merke, die springen an oder auf. Das ist ganz toll, das macht mich glücklich“, freut sich Conny. 

Das Portfolio, das sich die Beratungsstelle auf die Fahne geschrieben hat, ist groß und muss Conny mit Unterstützung einer Assistenz zunächst allein wuppen. Viel Raum nimmt ein die persönliche Beratung, ob vor Ort, telefonisch oder digital; selbstverständlich, wenn gewünscht auch anonym. Dabei kann es um allgemeine Fragen zu FASD gehen, um familiäre Herausforderungen für Angehörige und ihre Bezugspersonen, um FASD-Themen in professionellen Kontexten. Helfen will die Fachfrau aber auch bei der Suche nach pädagogischer, therapeutischer und medizinischer Unterstützung. Nicht zu kurz kommen sollen außerdem Prävention und FASD-Fortbildungen. Bislang seien insbesondere Schulsozialarbeiter, Inklusionsbegleiter und Pflegeeltern geschult worden. „Es ist auch Schulung angedacht für Adoptivbewerber und Menschen, die bereits adoptiert haben“, berichtet Conny. Am schwierigsten sei es, mit der Ärzteschaft in Kontakt zu kommen: „Da stoßen wir auf sehr viel Vorbehalt und Widerspruch.“ Die FASD-Fachfrau macht es an einem Beispiel deutlich. 

Vor einiger Zeit hatte Conny mit ihrem seinerzeit gegründeten Verein eine Broschüre zum Thema entwickelt. Diese verteilten sie an Arztpraxen, Hebammen, Erziehungs-, Schwangeren- und Suchtberatungsstellen. Zwei symptomatische Antworten: „Meine Praxis ist in der Innenstadt. Solche Patientinnen habe ich nicht“, oder, „so viele kranke Frauen behandle ich nicht in meiner Praxis.“

Desinteresse herrsche auch in den politischen Reihen in Mecklenburg-Vorpommern. Zu den Einladungen zur Eröffnungsveranstaltung seien nur Absagen gekommen. Immerhin sitzt Conny demnächst im Ministerium in einigen Arbeitsgemeinschaften, in denen sie sich wird vorstellen dürfen. „Inwieweit das in Politikerkreise vordringt, werde ich sehen“, so Conny.

Beirren von derlei ablehnender Haltung lässt sich Conny Kirsten jedenfalls nicht und treibt ihre Planungen voran: Flyer entwickeln, eine Netzwerkkarte mit Angeboten rund um FASD erstellen, Kunstprojekte, ein Schreib-, ein TikTok-Workshop, eine Wanderausstellung. Einzig hadert Conny ein wenig mit der Tatsache, dass sie noch nicht so viele Kontakte zu erwachsenen Betroffenen hat. Das liege wohl ein bisschen an dem Flächenland Mecklenburg-Vorpommern. Conny: „Die Informationen fließen hier noch schlechter als anderswo. Und es ist ja auch so, dass viele die Diagnose noch gar nicht haben. Die Zahl ist vermutlich sehr hoch, da wir ja traurige Spitzenreiter bei vielen alkoholbezogenen Studien sind.“

Wer Lust hat, bei der Eröffnung mit von der Partie zu sein – es gibt zwei Vorstellungsrunden: um 9 Uhr und um 10.30 Uhr. 

Wer außerdem Kontakt knüpfen möchte: Cornelia Kirsten, Bergstraße 10, 18057 Rostock, Tel. 0381-4613616, mobil 0151-22420953 

Autorin: Dagmar Elsen

Seit 13 Wochen illegale Inobhutnahme

Keine Telefonate, keine Mails, geschweige denn irgendwelche Besuche vom Pflegekinderdienst. Keine Vormundschaft für niemand, keine Ausstattung, keine Ausweise, keine U3-Untersuchung, kein Geld. Seit einiger Zeit liegt wenigstens das gelbe Heft vor, später kam noch eine Kopie der Geburtsurkunde hinzu. 

Das ist der Faktencheck von Carla (Name geändert), die als Pflegemutter von zwei Kindern mit fetalen Alkoholschäden im Spätherbst des vergangenen Jahres vom Jugendamt gefragt worden war, ob sie jemanden kenne, der im Dezember ein Kind mit FASD aufnehmen würde. Die schwangere Frau habe selbst FASD, ihr geschädigtes Erstgeborenes sei ihr seinerzeit auch schon weggenommen worden. Wochen später ein Anruf, ob Carla bereit sei den Säugling aufzunehmen. Man würde jetzt zur Mutter fahren und das Gespräch suchen. „Eineinhalb Stunden später riefen sie mich erneut an und sagten, dass sie sich jetzt auf den Weg machen zu mir“, erzählt die Pflegemutter. Und weiter: „Ich habe schnell Windeln geholt. Alles andere werden die ja wohl dabeihaben, dachte ich mir.“

Von wegen. Nur eine Tüte mit wenigen Klamotten, ein Fläschchen und ein halbes Paket Milchpulver. Carla regt sich noch immer auf: „Sie erzählten, der Säugling habe zum letzten Mal vor fünf Stunden getrunken.“ So schnell wie die Damen vom Jugendamt gekommen waren, so schnell verschwanden sie auch wieder. „Ich habe immer wieder den Kontakt gesucht“, klagt Carla. Nur der Allgemeine Soziale Dienst, der das Kind zunächst in Obhut genommen hatte, habe reagiert und seine Verzweiflung gezeigt, dass man einfach nicht weiterkomme. Obwohl es Vorschrift sei, dass der Pflegekinderdienst innerhalb von drei Wochen überprüfen müsse, wo das Kind hingekommen sei. Das sei definitiv eine illegale Inobhutnahme, habe der Pflegekinderdienst verlauten lassen.

Selbst das Gericht, das innerhalb von vier Wochen über den weiteren Verbleib hätte entscheiden müssen, zucke desinteressiert mit den Achseln. Man sei sich der Tatsache, dass es sich um unrechtmäßige Inobhutnahme handele, bewusst. Man habe aber schlicht keine Zeit. Man könne doch froh sein, dass die Pflegemutter das Kind genommen habe, sonst wäre es tot. Die leibliche Mutter sei sowieso unauffindbar. Außerdem überlege man, ob man den Fall an das örtliche Gericht abgebe, wo sich das Baby nun aufhalte. 

Carla empört über die lapidare Haltung des Gerichts engagierte dann einfach auf eigene Faust die Hebamme, marschierte zum Kinderarzt und buchte für den Säugling, der inzwischen zu einem propperen Baby geworden ist, Physiotherapiestunden. „Die würden das Baby gar nicht mehr erkennen“, sagt die Pflegemutter. Deshalb schickt sie sicherheitshalber immer wieder Fotos ans Amt.

Finanziell sieht es nicht minder düster aus. Die aufgelaufenen Kosten betragen inzwischen fast 4000 Euro. Carla hat noch nicht einen Cent gesehen. Sie weiß von Pflegeeltern, die schon seit 18 Monaten auf das Pflegegeld warten. Carla überlegt nun, ob sie eine Untätigkeitsklage einreicht.

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Ein MUST-Read für alle, die mit Kindern arbeiten

Rezension des 2022 im Schulz-Kirchner Verlag erschienen Sachbuches “Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, der Autorin Dagmar Elsen – von Annika Rötters, @psychotrainment, Diplom-Psychologin und Gesprächstherapeutin

Das Buch beginnt mit einem Knall. Eine Fallbeschreibung, deren Dramatik und Tragik die Ernsthaftigkeit der Lage so deutlich machen, dass ein Wegschauen unmöglich ist.

Schritt für Schritt arbeitet Dagmar Elsen anschließend heraus: Bei vorliegenden Alkoholfolgeschäden – wie stehen sich Kindesrecht und Elternrecht gegenüber? Welche Stigmatisierung kommt mit der Diagnose? Wie leicht wird es Fachpersonal gemacht, wegzuschauen (durch z.B. einen fehlenden Standard an Informationen zur fetalen Alkohol-Spektrum-Störung).

Das Buch ist leicht zu lesen – und schwere Kost. Es wirft Fragen auf, wie etwa die Frage nach der echten/vermeintlichen/vielleicht in manchen Fällen möglicherweise gar wissentlich vorgetäuschten Unwissenheit, mit der im Nachhinein oft argumentiert wird.

Neben weiteren Fallbeispielen geht Dagmar auf den aktuellen Stand des wissenschaftlichen Wissens ein – FASD und Abgrenzungen zu ADHS, gibt einen kurzen geschichtlichen Abriss und beantwortet noch einmal prägnant und schlüssig argumentiert, warum Aufklärung „auch heute noch“ bzw. GERADE heute zwingend notwendig ist.

Das Buch enthält viele sinnvolle Informationen über FASD, Wirkungen von Alkohol, erste Anzeichen und Ansätze, um Verständnis für Menschen mit fetalen Alkoholschäden zu schaffen.

Aus verschiedenen Perspektiven zeigt Dagmar einfühlsam, jedoch stets auch klar und prägnant, wie gesellschaftlich verwurzelt, stigmatisiert und stigmatisierend und gleichzeitig lebensbedeutend die Diagnose und die damit verbundene Hilfestellung ist. Dabei kommen sowohl Betroffene zu Wort als auch in einem Kapitel eine Mutter, die selbst Alkohol in der Schwangerschaft konsumiert hat. 

Anhand des Roten Fadens der Lebensentwicklung eines Kindes geht Dagmar auf frühzeitige Diagnosen, frühe Hilfen und fehlende Konzepte ein, beschreibt Therapien, diskutiert das Thema Schwerbehindertenausweis, zeigt verschiedene Perspektiven für Schule, Ausbildungs- und Berufswege auf.

Immer wieder gibt es echte Fälle, Beispiele mitten aus dem Leben, die zeigen: Deutschlandweit ist der Umgang mit (Verdacht auf) FASD momentan leider Glückssache. Und gleichzeitig zeigt Dagmar Wege auf, stets mit dem Fokus: Wie stoppen wir Syndrom, Stigmatisierung und Ausgrenzung?

Dieses Buch ist ein MUST-Read für alle, die mit Kindern arbeiten.

“Alkohol in der Schwangerschaft – Die unterschätzte Gefahr”, Dagmar Elsen, Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein 2022

Tauscht euch im Team aus, holt euch Hilfe durch Experten, seid offen für die Ideen der Eltern, vermeidet Besserwisserei!

Immer wieder machen Eltern von Kindern mit fetalen Alkoholschäden die für sie erstaunliche Erfahrung, dass selbst Sonderpädagog:innen auf Förderschulen FASD nicht auf dem Schirm haben. Statt dass Lehrer:innen ihnen Glauben schenken, dass ihre Kinder einen entlastenden Umgang benötigen, müssen sich fassungslose Eltern immer wieder anhören, sie seien unfähig ihre verhaltensauffälligen Kinder zu erziehen. So ist es auch der Lehrerin und Mutter einer Adoptivtochter und eines Pflegesohnes mit fetalen Alkoholschäden Anne-Meike Südmeyer ergangen. Nach reichlich negativen Erfahrungen wuchs in ihr der Wunsch mitzuhelfen, die Schullandschaft zu verändern. Sie machte eine Ausbildung zur FASD-Fachkraft. Seitdem hält sie Vorträge und gibt Workshops in Förderschulen und Schulen für Behinderte. Positiv FASD-Wissen zu vermitteln ist der Schlüssel: Wird Anne-Meike gebucht, seien die Lehrer:innen in aller Regel sehr interessiert an der Thematik. Zugute komme ihr als Referentin dabei, dass sie sowohl Lehrerin als auch Pflegemutter sei. In dieser Doppelrolle kann sie authentisch punkten. Wir haben sie dazu im Rahmen eines Interviews eingehender befragt.

Anne-Meike, welche Erfahrungen waren es, die Dich dazu bewogen haben, eine Ausbildung zur FASD-Fachberaterin zu machen?

Anne-Meike: Als unser Pflegesohn bei uns einzog, stellte ich schnell fest: Alles, was ich bisher über Pädagogik gelernt hatte, funktionierte bei ihm nicht. Als Mutter habe ich noch einmal neu angefangen mich damit auseinanderzusetzen, wie ich ihm durch mein erzieherisches Handeln helfen könnte. Dabei bin ich nicht der Auffassung, dass Kinder mit FASD gar nicht erziehbar sind – vielleicht in Teilbereichen, aber nicht grundsätzlich. Nach meinen Erfahrungen braucht es oft deutlich mehr „Umdrehungen“, bis es zu einer Veränderung kommen kann. Von entscheidender Bedeutung ist ein wohlwollendes und der Behinderung entsprechend förderliches Umfeld.

Mein Mann und ich sind von Anbeginn an sehr offen mit den Besonderheiten unseres Sohnes umgegangen. Leider sind wir in Institutionen wie Kindertagesstätte, Schule und Jugendhilfe oft nur so lange auf Verständnis gestoßen, bis nichts Schlimmeres passierte. Sobald unser Pflegesohn andere Menschen unkontrollierbar beschimpfte oder seine Impulsdurchbrüche sich auch in körperlichen Attacken ausdrückten, kam man mit der Geduld schnell ans Ende.

Eine besondere Krise erlebten wir mit der Einschulung. Das Jugendamt war vom ersten Schultag an bereit, für zehn Stunden in der Woche eine Schulbegleitung zu finanzieren. Die Schule lehnte dies ab, man wollte es erst einmal allein versuchen. Nach einem Vierteljahr forderten seine Lehrer*innen von jetzt auf sofort rund um die Uhr eine Integrationskraft. Immer wieder hieß es: „Reden Sie mit Ihrem Sohn, so kann es nicht weitergehen.“ Ich verstehe bis zum heutigen Tag nicht, weshalb drei verschiedene Sonderpädagog*innen plus Kinderarzt plus Schulärztin unseren Pflegesohn ausgiebig getestet haben, aber niemand auf die Idee kam, dass eine fetale Alkoholschädigung vorliegen könnte.

In dieser Zeit ist mein Wunsch entstanden, in meinem schulischen Umfeld dazu beizutragen, dass mehr Menschen über FASD Bescheid wissen. Deshalb habe ich Jahre später eine Ausbildung als FASD-Fachberaterin gemacht. Mit Hilfe dieser Ausbildung ist es mir möglich, Vorträge und Workshops anzubieten. Ich habe in der Ausbildung sehr viel gelernt und beeindruckende Menschen kennen gelernt. 


Untersuchungen in der USA zufolge gibt es in einer Gruppe von zwanzig Personen mindestens einen, der an fetalen Alkoholschäden leidet. Das bedeutet, dass in jeder oder jeder zweiten Klasse ein Schüler ist, der betroffen ist?

Anne-Meike: Ganz genau, das erzähle ich in meinen Moderationen auch. Auf der einen Seite kann man davon ausgehen, dass der Anteil in den noch verbliebenen Förderschulen vermutlich höher ist. Andererseits dürfen wir auch die Dunkelziffer der nicht Diagnostizieren nicht vergessen. Und die Kinder, die einigermaßen „sozial verträglich“ sind, finden wir auch in Grundschulen und weiterführenden Schulen. ADHS kennt jeder Lehrer und jede Lehrerin, über FASD ist noch viel zu wenig bekannt. 

Erfahrungsgemäß stößt man selbst bei Förderschullehrer*innen auf große Unwissenheit, was das Thema FASD angeht. Eltern von diesen Kindern wird deshalb selten geglaubt, was sie über ihre Kinder erzählen. Eher wird davon ausgegangen, sie seien erziehungsinkompetent. Wie sind Deine Erfahrungen mit Lehrerkolleg*innen an der Schule Deines Sohnes? 

Anne-Meike: Meine Erfahrungen sind ganz unterschiedlich. Dass wir erziehungsinkompetent seien, hat man uns anfangs auch unterschwellig unterstellt. Deshalb war ich so froh, als wir die Diagnose hatten!

Förderschullehrer*Innen beanspruchen gerne für sich, sich mit FASD auszukennen. Da hört man dann schon einmal Sätze wie „Ich hatte bisher in jeder Klasse mindestens ein Kind mit FASD“. Die Kenntnis darüber, dass es FASD gibt, führt jedoch nicht automatisch dazu, dass sich ein adäquates Handlungswissen ausbildet. Da sind mir Menschen lieber, die ehrlich bekennen, überhaupt keine Ahnung von FASD zu haben, mir dann aber voller Interesse zuhören und ihr eigenes Handeln überdenken. Sicherlich dürfen wir auch nicht vergessen, wie herausfordernd das Verhalten eines Menschen mit FASD sein kann. Als Mutter merke ich selbst, dass auch ich nach all den Jahren noch in die „FASD-Falle“ tappe.

Es braucht viel, um diesen Menschen in der Schule gerecht zu werden: kleine Lerngruppen, ein vertrauensvolles Miteinander im Kollegium, eine gute Zusammenarbeit mit Eltern, eine Fehlerkultur, die Bereitschaft sich selber in Frage zu stellen, ein gutes Krisenmanagement, Kraftquellen im Alltag, vielleicht Supervision, Humor, Gelassenheit, Phantasie und auf jeden Fall das Verlassen eingefahrener, angeblich „bewährter“ Pfade, ganz im Sinne von: „Der Kopf ist rund, damit das (pädagogische) Denken die Richtung wechseln kann.“ (Francis Picabia). Was auf keinen Fall hilft ist die Annahme, dass gelernte Maßnahmen zur Verhaltensregulierung  auch bei diesen Kindern helfen. Auch Ordnungsmaßnahmen erhöhen oft nur den Druck auf das ohnehin schon sehr belastende Familiensystem. 


Wie ist der Umgang mit Dir diesbezüglich an Deiner Schule? 

Anne-Meike: Ich habe im Sommer die Schule gewechselt. An meiner neuen Schule wissen noch gar nicht alle Kolleg*innen im Detail über unsere Kinder Bescheid. Die Kollegin, mit der ich am engsten zusammenarbeite, äußert sich mir gegenüber sehr wertschätzend. Neulich meinte sie, in der Zusammenarbeit mit mir würde sie spüren, dass ich in manchen Situationen aufgrund der Erfahrungen mit meinen nicht so ganz einfachen Kindern anders handeln würde. Davon hätte sie schon sehr profitiert. Ich freue mich, wenn ich dazu beitragen kann, Kindern mit einem anderen Verständnis zu begegnen. 

Wo siehst Du die größten Problemfelder im Umgang mit Schulkindern, die FASD haben?

Anne-Meike: Das größte Problemfeld sind für mich die Impulsdurchbrüche, unter denen viele Kinder mit FASD leiden. Es erfordert ein besonderes Standing, wüste Beschimpfungen nicht persönlich zu nehmen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Schule kein entspanntes Arbeitsfeld ist. Im Unterricht bin ich als Lehrerin in der Regel hoch konzentriert; diverse unerwartete Reize prallen gleichzeitig auf mich ein. In allgemeinbildenden Schulen stehe ich oft noch allein in einer Klasse. Das Kind beschimpft ja nicht nur mich, sondern auch seine Mitschüler*innen, die es zu schützen gilt. Nicht jede Integrationskraft ist in der Lage mit einem „hochexplosiven“ Kind umzugehen. Unser Pflegesohn hat manchmal in der Schule in Stresssituationen die Selbstkontrolle verloren. Mir hat es sehr weh getan, dass es den Pädagog*innen nicht gelungen ist, deeskalierend auf ihn einzuwirken. Statt beruhigend vorzugehen, haben sie manchmal seinen Wutanfall provoziert.

Es gehört sicherlich zur Königsdisziplin der Pädagogik, auf herausforderndes Verhalten nicht sogleich mit Konsequenzen zu reagieren, sondern unaufgeregt und geduldig dafür zu sorgen, dass der Betroffene wieder zur Eigensteuerung zurückfindet. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass wir uns in der Schule verstärkt mit diesem Thema auseinandersetzen und entsprechende Kompetenzen erwerben müssen. Gewalt geht nicht nur von Schüler*innen aus, sondern auch Lehrer*innen verhalten sich zuweilen übergriffig. 

Natürlich gibt es auch die anderen Schulkinder mit FASD, die sich den Vormittag über extrem zusammenreißen. Sie schaffen es mit letzter Kraft in das Auto der abholenden Pflegemutter. Dort entlädt sich dann ihre Wut. Lehrer*innen fällt es manchmal nicht leicht, sich das vorzustellen. Anerkennende Worte sind hier gegenüber den Pflegeeltern auf jeden Fall wichtig. Viele Pflegeeltern berichten davon, wie viel Konfliktpotential das tägliche Anfertigen der Hausaufgaben bedeutet. Ich wünsche mir, dass Lehrer*innen offener werden für alternative Lösungen. Hausaufgaben sind nicht der Nabel der Welt.

Vielen Kindern mit FASD tut eine gleichbleibende, enge Struktur sehr gut. Veränderungen können nur behutsam ertragen werden. Dieses enge Gerüst schränkt andere Kinder in ihrem explorativen und entdeckendem Lernverhalten ein. Sie genießen offenere Lernsituationen. Hier gilt es, einen guten Mittelweg zu finden. Ich wünsche mir, dass wir Schule ganz neu denken und endlich von einer Defizitorientierung hin zu einer Stärkenorientierung kommen. Ohne unser tradiertes Leistungssystem, mit kleineren Lerngruppen und mehr Personal könnten wir endlich dem Anspruch nach individueller Förderung gerecht werden. So lange viele Kinder mit FASD auf Förderschulen besser aufgehoben sind, haben wir den Anspruch auf Inklusion nicht annähernd erfüllt. 

Wann ist welche Schulform für FASD-Kinder geeignet?

Anne-Meike: Darauf gibt es keine generelle Antwort, so unterschiedlich sind die Begabungen und Besonderheiten bei Kindern mit FASD ausgeprägt. Es gilt für jedes Kind individuell zu gucken. Allgemein lässt sich wohl sagen: Je kleiner die Lerngruppe, desto besser. Überforderung tut auf keinen Fall gut. Aber gilt das nicht im Grunde genommen für jedes Kind? Allerdings könnten Kinder mit einer Hirnschädigung wie FASD schwierige Lernbedingungen wie Lautstärke, Reizüberflutung, häufige Lehrerwechsel etc. deutlich weniger gut kompensieren. Sehr viel hängt mit Sicherheit von der Persönlichkeit der Lehrer:innen ab, die das Kind unterrichten. Begegnen sie dem Kind mit Verständnis und Wertschätzung, ist das die halbe Miete. Leider ist das nicht selbstverständlich.

In welcher Form können die meisten FASD-Kinder grundsätzlich unterstützt werden?

Anne-Meike: Ich glaube, dass sich das so grundsätzlich nicht sagen lässt, denn es gibt solche und solche Kinder mit FASD. Wenn wir aufhören würden, den Kindern bösen Willen oder Absicht zu unterstellen, wenn sie sich nicht an vorgegebene Regeln halten, und begreifen würden, dass sie oft nicht anders können, wäre schon viel gewonnen.

Welchen persönlichen Rat gibst Du Deinen Lehrerkolleg*innen im Umgang mit FASD-Kindern?

Anne-Meike: Einen besonderen Rat gibt es nicht. Ich versuche aufzuzeigen, wie diese Kinder ticken, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Ausprägungen ganz unterschiedlich sein können. Nach meinen Erfahrungen sind die Betroffenen selbst die besten Experten für sich. Deshalb sollten wir nicht nur über sie sprechen, sondern sie aktiv in unsere Überlegungen mit einbeziehen. Ich selbst habe viel von unserem Pflegesohn im Umgang mit ihm lernen können und dies in meinem Buch ‚Schulkinder mit FASD‘* zum Ausdruck gebracht. 

Darüber hinaus kann ich nur empfehlen, sich frühzeitig Hilfe zu holen. Für einen Lehrer:in allein kann es nur sehr schwer möglich sein, die besonderen Herausforderungen zu bewältigen, die Kinder mit FASD mit sich bringen können. Mein Rat: Tauscht euch im Team aus, holt euch Hilfe durch Experten, seid offen für die Ideen der Eltern! 

Was sollten Lehrer*innen im Umgang mit den Eltern vermeiden?

Anne-Meike: Besserwisserei!!! Eine Lehrerin oder ein Lehrer muss nicht alles wissen; Pflege- und Adoptiveltern bringen oft einen großen Schatz an Expertenwissen mit. Sie freuen sich, wenn Lehrer*innen ihnen zuhören! Auch Moralisieren und Vorwürfe sollten Lehrer*innen vermeiden. Die Mutter eines Kindes mit FASD ist zunächst einmal eine Mutter. Und welche Mutter möchte nicht nur Gutes über ihr Kind hören? Pflege- und Adoptiveltern leisten oft täglich Schwerstarbeit. Es darf nicht sein, dass sie sich in Elterngesprächen wie auf der Anklagebank fühlen. 

Außerdem finde ich es wichtig, als Lehrerin auch eigene Fehler einzugestehen. Niemand kann mit solch einem Kind alles richtig machen. Das wissen die Eltern nur zu gut aus jahrelanger Erfahrung: Wenn es Eltern und Lehrer*innen gelänge, vertrauensvoll, den anderen achtend, humorvoll, kreativ und sich gegenseitig ermutigend zusammenzuarbeiten, wenn jeder dem anderen zugesteht, auch einmal an seine Grenzen zu kommen, und das offen kommunizieren darf, wenn keiner meint, die einzig richtige FASD-Weisheit zu kennen, dann kann eine Erziehungspartnerschaft entstehen, unter der auch ein Kind mit FASD wachsen und gedeihen kann.

*”Schulkinder mit FASD”, Anne-Meike Südmeyer, Schulz-Kirchner-Verlag, Idstein 2021

Das Interview führte Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Happy Baby-Kampagne

Damals hat man als Vater kaum eine Chance gehabt

Trotz all ihres empfundenen Unglücks, ihrer Pein und ihrer Sorgen um ihre FASD-Kinder haben Pflegemütter und Pflegeväter einen entscheidenden Vorteil gegenüber leiblichen Eltern: Sie sind frei von Schuldgefühlen, das eigene Kind geschädigt zu haben. Was aber ist mit den leiblichen Eltern? Wie gehen sie mit ihrer Verzweiflung, ihrer Scham und ihrem Kummer um? Es gehört unglaublich viel Mut dazu, sich dieser Thematik Dritten gegenüber zu stellen. Erst recht unter vollem Namen, noch dazu, wenn man nicht ganz unprominent ist. Millionen Deutsche kennen Jasper, den Pinguin, ein Star des Kultprogramms „Die Sendung mit der Maus”. Ganz zu schweigen von der Trickfilmreihe „Werner – das muss kesseln“. Udo Beissel, der Regisseur und Drehbuchautor hat die Gestalten mit zum Leben erweckt. Ja, das ist die glorreiche Seite seines Lebens. Die unrühmliche, die das Leben immer wieder zur Hölle gemacht hat und immer noch macht, der hat er sich, der er sich inzwischen bis aufs Messer für FASD-Betroffene einsetzt, mutig in einem Gespräch gestellt.  

Udo Beissel ist Vater dreier Söhne und will sich gar nicht vorstellen, was wäre, wenn die Mutter seiner beiden älteren Jungs die Diagnose eines Fetalen Alkoholsyndroms beim jüngeren und die Verdachtsdiagnose beim älteren noch erlebt hätte. Denn sie sei zum Zeitpunkt ihres Todes 2015 eine therapieresistente Alkoholikerin gewesen, die ihre Sucht schon immer verharmlost habe. Sie sei weder bereit noch fähig gewesen wäre, ausgerechnet jetzt dafür Verantwortung zu übernehmen. Dass es einen Zusammenhang zwischen fetalen Alkoholschäden und den immer krasser werdenden Schwierigkeiten bei der Verselbstständigung ihrer inzwischen erwachsenen Söhne geben könnte, hätte sie mit Sicherheit geleugnet, vermutet er und sagt: „Ihre Familie tut es bis heute.“ 

Wie viele andere betroffene Angehörige ist auch der in Hamburg lebende Udo Beissel eher zufällig auf diesen Zusammenhang gestoßen. Seine damalige Lebensgefährtin hatte zum ersten Mal einen Verdacht geäußert. Bis dahin hatte es zwar schon allerlei Frühförderungen, Schulprobleme, ADHS-Diagnosen, Einzel- und Familientherapien gegeben. Auch hatte sich – ausgelöst durch Cannabis-Konsum – die psychische Erkrankung des jüngeren schon etabliert, so dass sich viele seiner Probleme allein dadurch erklären ließen. Die Eskalation von Geld- und Drogenproblemen und die zur Regelmäßigkeit werdenden Abbrüche aller Formen von Arbeit und Ausbildung hatten jedoch weder die Lebensgefährtin noch die Mutter mitbekommen. Auch dem Vater wurde erst mit dieser Diagnose bewusst, welchen Anteil der Alkoholkonsum der verstorbenen Mutter daran hat, dass bestimmte irreversible Defizite schon seit Geburt bestanden. 

Nach der Diagnose war die Erleichterung erst einmal groß, endlich zu wissen, warum alles immer so anstrengend gewesen war und dass es noch eine andere Erklärung für die zahlreichen familiären Dysfunktionalitäten gab. Doch schnell folgte die harte Selbsterkenntnis, dass manche Entscheidung hätte anders gefällt werden müssen. Es stellten sich die gnadenlose Fragen: Hätte sich bei intensiverer Fürsorge manches vermeiden lassen? Hat das Unwissen nicht weitere Traumatisierungen bewirkt? Durch permanente Überforderung? Falsche Erwartungen? Beinahe tägliche Überreaktionen auf die typischen Defizite einer solchen Behinderung? Wäre zumindest die Entwicklung von psychischen Erkrankungen, die schon bald im Vordergrund standen und sowohl den Alltag bestimmten als auch regelmäßige psychiatrische Versorgung erforderten, vermeidbar gewesen?  

„Bei aller Erkenntnis, dass man dieses Ausmaß nicht hätte ahnen können“ macht sich der Vater heute trotzdem gelegentlich Vorwürfe: „Hätte ich von fetalen Alkoholschäden gewusst und wäre ich damals so wehrfähig gewesen wie heute, hätte ich schon ein Jahr nach unserer frühen Trennung sagen müssen, ich nehme die Kinder und schmeiß’ meine Karriere. Das habe ich nicht konsequent genug durchgesetzt und da bin ich auch nicht stolz drauf.”

Stattdessen ließ er zu, dass die Kinder in den ersten Jahren hauptsächlich bei der Mutter lebten. Udo Beissel, inzwischen 61 Jahre alt: “Ich war zwar beim Jugendamt und habe die Mutter angeschwärzt, dass sie ständig betrunken ist und die Kinder verwahrlosen. Aber da hieß es immer nur – die Mutter ist die Mutter. Lieber eine “nicht so gute als gar keine.“ Damals stand das ‘Mutter-Argument’ noch über allem, man habe als Vater kaum eine Chance gehabt. 

Erst einen längeren Aufenthalt der Mutter in der Psychiatrie konnte er nutzen, die Kinder dauerhaft zu sich zu holen. Da waren die Kinder bereits gute vier bzw. fünf Jahre alt. Das alleinige Sorgerecht habe er aber trotz psychischer Erkrankung und zunehmenden Alkoholproblemen der Mutter nie bekommen. Noch nicht einmal das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Dadurch “haben die Kinder öfter als es verantwortlich gewesen wäre, den Verfall ihrer Mutter miterlebt.” Und das bis zu ihrem Tod. Da waren die beiden schon erwachsen. Udos bittere Bilanz: “Den Schaden, den allein das angerichtet hat, kann ich mir heute jeden Tag angucken. Das ist nicht einfach.”

Aber zurück auf Start der Familiengeschichte. Man war Anfang dreißig und genoss die Lebenslust und Freizügigkeit der Künstlerszene. Alkohol sei da nichts Besonderes gewesen und geraucht wurde „wie nichts Gutes“. Und dann, ja, wie das Leben so spielt, plötzlich schwanger. Udo: “Es war zwar nicht geplant, aber abhauen gilt nicht. Und warum eigentlich nicht jetzt? Der Job stimmte, die Mutter war eine heiße Liebe, es gab viele Gemeinsamkeiten. Zudem sei sie beim ersten Kind so richtig aufgeblüht und hat sich erst mal verhalten wie die meisten Frauen, die dann zurückschalten, auch mit Kippen und Alkohol.“

Wie immer mehr werdende Väter zu der Zeit ging der werdende Vater mit zum Frauenarzt, der, so Udo, wörtlich meinte: “Wenn Ihre Frau bis jetzt geraucht und getrunken hat, dann sei das okay, aber sie sollte es schon reduzieren. Sie müsste nicht ganz aufhören. Das wäre für das Kind ja auch Stress. Den Stress, den sie selbst hätte, wenn sie ganz aufhören würde, den würde sie ja an das Kind weitergeben.” Aus heutiger Sicht war das für Udo ein Freibrief dafür, dass seine Frau zum Essen oder zur Entspannung mal ein Glas Wein trinken und eine Zigarette dabei rauchen durfte. 

Wie Udo heute weiß, war es wohl meistens wesentlich mehr. Er hatte es beim ersten Kind nur nicht so wirklich mitbekommen: “Ich war beruflich ein halbes Jahr in Korea und durfte alle paar Wochen auf Heimaturlaub, dann wieder sechs Wochen weg, wieder kurz da, wieder weg, usw.” Inzwischen weiß er von einem Freund, der ihm seine Aussage als Unterlage für eine FASD-Diagnose sogar schriftlich gegeben hat, dass sie mehr getrunken hat, als der Arzt wohl erlaubt hätte. “Damals hat man ja noch nicht gewusst, dass man gar nichts trinken sollte.”

Biographie-Sprung wieder zur zweiten Schwangerschaft. “Da hatten wir richtig Stress wegen des Rauchens und Trinkens. Sie wollte dieses Kind nicht. Sie hat es anfangs sogar versucht wegzutrinken. Dass sie es so sehr nicht wollte, das habe ich unterschätzt. Ich hatte ihr dann gesagt, mach‘ es lieber weg. Aber da war es schon zu spät, sie war schon im vierten Monat.“ Als das zweite Kind auf die Welt kam, zeigte die Hebamme dem Vater den schon sehr abgestorbenen Mutterkuchen mit dem Hinweis, der verlöre bei Raucherinnen schneller seine Funktion. Udo wundert sich bis heute, dass von Alkohol überhaupt keine Rede gewesen sei. Und so sei im Gelben Heft lediglich vermerkt worden, dass das Kind anfangs kleiner und schmächtiger war wegen des Rauchens. Das blieb dann so, bis zur Pubertät. Das gelbe Heft ging irgendwann irgendwo verloren.

Mit dem zweiten Kind habe sich relativ schnell herausgestellt, dass die Mutter völlig überfordert war. Ihre psychische Erkrankung brach sich jetzt so richtig Bahn, ebenso der Alkoholkonsum. Es folgte die Trennung und mit den Jungs ein ewiges Hin und Her mit viel Stress. In einer manischen Phase habe sie ihren Traum von einem sonnigen Leben auf Mallorca umgesetzt. Udo wollte sie zunächst verklagen, hat aber dann das halbe Sorgerecht gegen seine Zustimmung getauscht. Mit der kühlen Kalkulation: „Wenn sie da besser leben kann, ist das für die Kinder gut und ich werde mir einen zweiten Wohnsitz basteln. Wenn sie es nicht schafft, sind die Kinder nach ein paar Monaten bei mir.“ Es war letzteres und hatte genau vier Monate gedauert. In einer der Manie folgenden schwer depressiven Phase holte er die schon verwahrlosten Kinder ab, löste die Wohnung auf und schickte die Mutter zu ihrer Familie, die sie zunächst in die Psychiatrie einwiesen. 

Nach einem Jahr kam sie nach Hamburg zurück. Das Gerangel um das Sorgerecht ging wieder los, nur dass die Kinder jetzt beim Vater lebten. Kein therapeutischer Erfolg. Kein Erfolg dabei, sich jetzt wenigstens das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu besorgen. “Irgendwann hat sie sich dann wieder abgesetzt, diesmal nach Teneriffa und ohne die Kinder. Wieder war es die Sonne und überhaupt die südliche Lebensart. Das würde ihr Leben ändern.“ Als das erhoffte Glück nach mehreren Jahren nicht eingetreten war – die Jungs haben sie nur wenige Male besucht – kehrte sie 2015 „recht runtergerockt“ wieder zurück in die Hansestadt und hauste in einem billigen Hotel hinter der Reeperbahn. Ihr Wohnzimmer war die Hotelbar. Da seien dann auch die Kinder hin, wenn sie ihre Mutter hin und wieder sehen wollten. Es habe zwar eher weniger Mutterliebe gegeben, aber dafür einen Extra-Zwanni; meistens. 

„Das war ein einziges Elend”, erinnert sich Udo, “ich habe sie immer mehr gehasst und mich selbst auch, am meisten dafür, weil ich es nicht verhindern konnte. Hass zwischen Eltern ist für Kinder unverdaulich. Das können sie überhaupt nicht verarbeiten. Das kompensieren sie über alle möglichen Sachen. Ich habe zwar mit den Jungs darüber geredet, als sie älter waren. Es gab auch Verständnis. Aber gelöst ist das Ganze nicht.” Immerhin sei mit ihrem Tod endlich der Hass auf sie entschwunden. Trauer habe er keine empfunden, nur Erleichterung. 

Zwischen alleinerziehend und alleinerziehend gab es einige Jahre Patchworkfamilie mit der Frau seines gerade geborenen dritten Sohnes. Udo: “Die Rollen waren dabei klar. Ich gehe schuften und bringe das Geld nach Hause, sie nimmt noch meine beiden anderen Kinder unter die Fittiche.” Die Trennung folgte nach einigen Jahren. „Wir haben es leider nicht hinbekommen, das zu meistern.“ Mit der abrupt einsetzenden Pubertät der Jungs verschlimmerten sich die Verhaltensauffälligkeiten, was unter anderem mehrere Schulwechsel nach sich zog. 

Erst Udos nächste Partnerin, eine Kinderpsychologin, kam auf die Spur, dass es sich nicht nur um soziale Defizite und Traumata handeln könnte, sondern um fetale Alkoholschäden. Sie schleppte den Vater auf ein Fortbildungsseminar. Alles, was er dort hörte, passte auf seine Jungs. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt bei einem der Söhne eine erste Psychose durch Drogenmissbrauch ausgebrochen. “Das hat die folgenden Jahre den Verdacht auf fetale Alkoholschäden verdeckt”, kommentiert Udo. Erst als die Jungs volljährig waren, das dritte Kind mit zwölf Jahren kognitiv und emotional schon reifer war als die beiden älteren, es bei ihnen sogar Entwicklungsrückschritte gab, sei der Groschen gefallen. 

Zu spät für die Jungs. “Wer will schon eine solche Diagnose angehängt kriegen als junger Mann? Zumal der Vater der Einzige zu sein scheint, der das dauernd überall erwähnt. Alle anderen im persönlichen Umfeld haben noch nie davon gehört, finden das Gewese darum übertrieben oder ignorieren es einfach“, beschreibt Udo die Situation. Das sei den Jungs gerade recht gekommen: Man sei doch nicht behindert und hofft, dass der böse Traum irgendwann vorbei ist und der Vater sich ein neues Hobby suche, beschreibt Udo Beissel die Einstellung seiner Söhne. 

Inzwischen sind die beiden Jungs 27 und 28 Jahre alt, arbeitslos, bzw. arbeitsunfähig nach diversen Abbrüchen und Rausschmissen, nehmen dauerhaft wechselnde Psychopharmaka, haben ein Drogenproblem und landen immer wieder in der Psychiatrie. Es gab medizinische Rehas, überforderte gesetzliche Betreuer, ambulante Unterstützungen wären nötig, werden aber von den Söhnen abgelehnt. Die Realität sehe so aus: Ohne Drogentherapie keine Eingliederungsmaßnahmen, ohne Compliance keine Nachsicht in egal welchem Umfeld, wenn wieder mal Regeln nicht eingehalten wurden. Udos ernüchterndes Fazit: „Ziemlich alles wurde versucht, nichts hat funktioniert.“ 

Immerhin, auch wenn es ein schwacher Trost sei, sieht der Vater klarer. Seit dem Wissen um die hirnorganischen Schäden gehe man anders mit den Jungs um. Der Dreifach-Vater: “Wenn man nicht weiß, dass man Kinder mit FASD hat, dann überfordert man sie ja ständig und nimmt Provokationen und Beschimpfungen persönlich. Willst Du nicht oder kannst Du nicht? – das war irgendwann mein Lieblingsspruch, wenn alltäglichste Vereinbarungen wieder wie vergessen waren. Und das hat man ja eher gebrüllt, mit pochender Halsschlagader und Blutrauschen im Ohr. Und wenn ich dann in den Spiegel geschaut habe, habe ich mich gefragt, bin ich das noch, war ich das eben?”

Wie hat die weitere Familie auf die Diagnose reagiert? Udo Beissel: “Die Geschwister der Mutter wussten immer, dass ihre Schwester schwer psychisch krank ist, sie wussten, dass sie ein Alkoholproblem hatte. Als ich dann kam und sagte, die Kinder haben FASD, haben die gesagt, das stimmt nicht. Eigentlich wäre ich schuld. Die Jungs hätten doch die meiste Zeit bei mir gelebt. Du hast versagt. Inzwischen habe ich es aufgegeben sie zu überzeugen. Es gibt kaum noch Kontakt zu den Kindern. Traurig das alles.”

Und wie gehen die Jungs selbst damit um? Udo: “Der Ältere lebt zunehmend in einer Blase, in die bald keiner mehr hineinfindet. Seine Betreuer waren bisher schon damit überfordert, allein seine Lage richtig einzuschätzen. Hilfe bräuchte er keine, zu einer Therapie kommt es erst gar nicht. Seine paranoide Schizophrenie vernebelt zusätzlich seine kognitiven Fähigkeiten. Der Jüngere versucht immer wieder, doch mehr aus seinem Tag zu machen. Ihn frustriert es, wenn er das trotz einiger Ressourcen immer wieder nicht schafft, versucht es aber – chapeaux – immer wieder.“ Er habe inzwischen eingesehen, dass Drogen alles noch schlimmer machten und lasse sich auf vieles ein. Auf jeden Fall eine Chance, die der Vater mit allem unterstütze, weil er fest daran glaubt, dass er mit dieser Einstellung und der richtigen Hilfe ziemlich normal leben könnte, vor allem zufriedener. 

Beide Jungs reden sie nicht gerne darüber, dass sie Probleme haben. Aus Scham, aber auch aus mangelnder Selbsteinschätzung. „Sie lernen nicht wirklich aus ihren Fehlern”, so der Vater. Jeder lebe in einer kleinen Wohnung, finanziert aus einem Erbe, das bald zur Neige geht.” Trotz Mitgefühl und Verständnis seien die Grenzen des Kümmerns erreicht. Udo meint, es würde erst dauerhaft besser und lebenswert für beiden Seiten, wenn sie in einem Umfeld leben, welches die Strukturen eines Dorfes nachahmt und die Geborgenheit einer Großfamilie ausstrahlt: „Vielleicht schaffe ich dahingehend noch was, bevor der Kalk rieselt.“ 

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne

Viele Ärzte und Hebammen empfehlen immer noch Wehencocktail mit Alkohol

Immer wieder berichten uns verunsicherte Schwangere, dass ihnen von medizinischem Fachpersonal ein Wehencoktail mit Alkohol angetragen worden ist. Manche lehnen das ab, weil sie wissen, dass Alkohol immer schädigend für das Kind sein kann. Viele vertrauen ihrem Arzt, der Hebamme, dass sie wissen, was sie tun und trinken brav.

Nicht nur unsere Happy Baby-Botschafterin, Ergotherapeutin und Stillberaterin Bärbel alias @stillenentdecken reagiert darauf mit Entsetzen: „Ist es zu fassen? 2022 und sie empfehlen es noch!?“

Es umtrieb sie herauszufinden, in welchen Ausmaßen das stattfindet. Sie startete eine Umfrage: Hattest Du einen Wehencocktail mit Alkohol empfohlen bekommen? Wann?

Hier ein paar Antworten:

Habe keinen bekommen, aber wenn nötig, hätten sie einen mit Wodka! gegeben😡 August ’22

Wurde von Hebammen empfohlen und von Gynäkologin bestätigt, Februar ’22

2021, mit Sekt, noch als Hausmittel zur Einleitung auf dem Handzettel der Hebammen im Kreissaal

Hab keinen bekommen, aber Hebamme 09/22 hat ihn noch empfohlen

Ich hab meinen Wehen-Cocktail 31.07.2017 bekommen. Ein Piccolo Sekt war drin.

Juni 2021 im babyfreundlichen Krankenhaus nach Blasensprung ohne Wehen

April ’21, sollte 13 Tage nach Einleitung Sekt trinken, (Hebamme sagte das), ich habe mich geweigert

Die prozentuale Auswertung aller Antworten :

+ Ja, habe abgelehnt  – 7%

+ Ja, habe ihn auch getrunken   – 4%

+ Nein, wurde nicht empfohlen. – 83%

+ Bin noch vor der Geburt/nicht schwanger  – 6%

Die Auswertung brachte außerdem die Erkenntnis: 60 Frauen wurde Alkohol zur Geburtseinleitung angeboten, 37 haben ihn getrunken. 

Bärbel: “Das ist verstörend zu viel.”

Wozu soll der Alkohol im Wehencocktail eigentlich nötig sein?

Das hat uns unsere Happy Baby-Botschafterin Christine, die @hebammewaldshut anschaulich erklärt:

“Schaut man auf die Wirkungsweise des Wehencocktails, ist das darin enthaltene Rizinusöl der Hauptbestandteil. Es regt den Darm an und fördert die Peristaltik, also die Darmtätigkeit. Diese Darmtätigkeit wiederum wirkt wehenanregend, da sie die Muskulatur der Gebärmutter aktiviert.

Dafür ist der Alkohol nicht notwendig. Er dient allerdings als Emulgator. Was ist ein Emulgator? Es ist ein Hilfsstoff, zwei nicht miteinander vermischbare Flüssigkeiten – beim Wehencocktail das Rizinusöl und der Fruchtsaft – doch mischen zu können.

Jeder, der schon einmal zu Hause ein Salatdressing gemacht hat, wird sich jetzt denken: Aber Moment mal … Flüssigkeit mit Öl mischen .. . ohne Alkohol …. geht das nicht auch…? Genau: mit einem Mixer. 

Mixt man Öl mit Flüssigkeit, entsteht eine Öl-in-Wasser-Emulsion. Und das ganz ohne Alkohol als Hilfsmittel. Exakt das Gleiche funktioniert so auch bei dem Wehencocktail.”

Mehr dazu auch im Blogbeitrag: https://www.happy-baby-no-alcohol.de/2020/09/16/alkohol-hat-im-wehencocktail-nichts-verloren/