Mit etwas Druck wird schon was aus ihr werden

“Als ich als Verantwortliche im Pflegedienst den Notruf wählen musste, wurde mir selbst schwarz vor Augen.” Für Anne* war das der Moment, nach dem ihr endgültig klar war: “Ich fühle mich hoffnungslos überfordert. Ich bin es. Ich kann nicht mehr.”

Von Kindesbeinen an hatte sich die heute 34jährige immer wieder gestresst gefühlt. Sie sei ein ruhiges Kind gewesen, zurückhaltend, introvertiert und schnell reizüberflutet. Im praktischen Leben merkte Anne, dass sie leicht ablenkbar war. Mitten während einer Tätigkeit vergaß sie, sie zu Ende zu bringen. Überall ließ sie Dinge herumliegen und nahm das nicht wahr. “Abläufe, die mehr als drei verschiedene Tätigkeiten erforderten, à la ‘bring den Müll raus, schau nach Frau B. und schließ danach die Türe vom Haupthaus ab’, konnte ich mir nicht merken”, so Anne.

Ihre Pflegemutter wurde mit diesen Herausforderungen oft ungeduldig. “Meine Eltern waren sehr erfolgsorientiert und arbeiteten viel”, berichtet Anne. Dabei habe ein Arzt in ihrer frühen Kindheit zu den Pflegeeltern, beides Pädagogen, mit auf den Weg gegeben: “Wenn ihre Tochter mal den Hauptschulabschluss schafft, ist das schon okay, erwarten sie nicht zuviel.” Das aus gutem Grund. Wussten sie doch, dass Anne auf Fetales Alkoholsyndrom diagnostiziert war, dokumentiert im Arztbericht. “Das haben meine Eltern aber ignoriert, bzw. gedacht, wenn man sie nur oft genug erinnert und etwas Druck macht, wird aus ihr schon was werden. „Wir können doch stolz sein, was aus unserer Tochter geworden ist“ – bis ich 28 Jahre alt war und der endgültige Zusammenbruch geschah.”

Wieso nur ist dem Jugendamt im Laufe der Jahre nichts aufgefallen? Nicht einmal, als Anne von zu Hause abhaut und sich aus lauter Verzweiflung mit 19 Jahren hilfesuchend ans Jugendamt wendet. O-Ton Anne: Es ist doch schon schräg genug, wenn jemand in dem Alter von zu Hause wegläuft.” Optisch habe man ihr FAS kaum mehr angesehen. “Und ich war ja nicht blöd”, lautet ihre Erklärung. Denn dank einer guten täglichen Struktur schaffte Anne sogar das Fachabitur. Die Pflegeeltern konnten dem Jugendamt also stets vermelden: „Die Anne, ja, die macht sich gut.“

Die auf existentielle Sicherheit bedachten Pflegeeltern suchten mit ihr einen vermeintlich krisensicheren Beruf aus. Anne machte eine Ausbildung zur Altenpflegerin, ohne dass bedacht wurde, welch ein immenses Stresslevel dahintersteckt. Der Zeitdruck in der Altenpflege machte ihr von Beginn an zu schaffen. „Dass ich dort bereits massiv überfordert war, war mir da gar nicht bewusst. So habe ich als zurückhaltende Tochter und Kollegin versucht das zu machen, was von mir erwartet wurde, auch wenn ich nach der Arbeit nur noch schlafen konnte, weil ich für nichts mehr Energie hatte.“ Hinterfragt worden sei das von keiner Seite. Später, in der realen Arbeitswelt, sei die Überforderung immer schlimmer geworden.

Eines Tages zog Anne die Notbremse, flüchtete sich in ein Freiwilliges Soziales Jahr und ging nach Augsburg. Dort arbeitete sie im Museum. Hier passierte das genaue Gegenteil. Anne war unterfordert. Ihr seien keine klaren Aufgaben gestellt worden. Aufgaben, an denen sie Interesse zeigte, seien ihr nicht zugetraut worden, weil sie doch nur eine Praktikantin sei. Die 34jährige rückblickend: “Da habe ich krasse Depressionen gekriegt. Ich fühlte mich so hilflos, so ohnmächtig.” Aber ihr war klar, dass sie dringend etwas unternehmen musste. Sie suchte die Grenzerfahrung: “Ich habe mich aufs Fahrrad gesetzt. Bewegung hat mir gut getan. Ich bin in zwei Tagen mit dem Fahrrad nach Nürnberg gefahren und habe alleine in der Wallachei übernachtet. Danach ging es mir besser. Mir hat auch diese Routine auf dem Fahrrad gut getan. Immer dieses Gleichmäßige, das dauernde Treten der Pedale, das die Räder immer weiter drehen lässt. Es geht immer weiter. Es gibt das Gefühl einer gewissen Zuverlässigkeit. Danach hatte ich richtig viel Energie.”

Anne entschied sich für ein Kulturstudium in Lüneburg. Dort war auch erst einmal alles gut. Es gab klare Vorgaben und eine gute Struktur. “Ich habe zwar immer länger gebraucht als die anderen. Aber das war mir egal”, so Anne. Sie wechselte die Universität nochmal und studierte weiter in Hamburg. Nun stand die Bachelorarbeit an. Und die Katastrophe nahm ihren Lauf. In Hamburg sei alles sehr frei und kreativ gewesen, von wegen ‘sucht euch mal ein Thema, was euch interessiert’; dies sehr oft in Gruppenarbeit. Gift für Anne. Sie drohte zu scheitern. Das Scheitern vor Augen wollte Anne nicht verstehen. Sie machte mit diesem Studium doch endlich das, was sie schon immer gewollt hatte. Warum klappte das nicht? Alle hatten sich doch mit ihr gefreut, dass sie endlich ihren Weg gefunden hatte.

Anne war verzweifelt. Dann kam on top eine Blasenentzündung. Der Arzt verschrieb ihr ein Medikament, von dem sie nur noch kränker wurde, so schlimm, dass sie das Studium kurz vor dem Ziel aufgeben musste. Geldsorgen kamen hinzu, denn sie hatte eine Studienkredit aufgenommen.

Anne: “Ich hatte ein Fachabi in der Tasche, war ausgebildete Altenpflegerin und sehe neben mir eine Hauptschülerin, die mehr auf die Reihe kriegt im praktischen Leben als ich. Man fühlt sich total beschissen. Keiner wusste, was mit mir los ist. Keiner konnte mir helfen. Im Jobcenter sind sie sehr nett gewesen. Aber helfen?”

Anne wusste nicht mehr ein noch aus. Ihre Schwester war schließlich die treibende Kraft, sie zu einem Psychiater zu mitzunehmen und sich mit ihr um ambulant-psychiatrische Unterstützung kümmerte. “Und dann saß ich bei der Psychiaterin, die mir aus meiner Akte vorlas, dass meine leibliche Mutter viel Alkohol in der Schwangerschaft getrunken hat, und mir kamen die Tränen”, erinnert sich Anne noch sehr genau an ihre Fassungslosigkeit und ihren Schmerz. Sie konfrontierte ihre Pflegeeltern mit dem Verdacht auf Fetales Alkoholsyndrom, die ihr daraufhin vorschlugen, sich diagnostizieren zu lassen.

Nun ist es amtlich und “ich habe wenigstens eine Diagnose, die mich schützt”, stellt die 34jährige klar. Aber klar ist auch, dass sie seit der Medikamenteneinnahme chronisch krank und arbeitsunfähig ist. Autoimmunerkrankungen werden die junge Frau ihr Leben lang begleiten, ebenso wie Chronic fatigue – chronische Überforderung.

Ihren kleinen Haushalt führen, Anträge stellen, sich mit der Krankenkasse auseinanderzusetzen, alles Dinge, die ihr früher gut von der Hand gingen. Jetzt nicht mehr. Sie hat sich deshalb um eine gesetzliche Betreuung gekümmert, die außerdem die Grundsicherung für Anne beantragt hat. Zusätzlich wird sie von einer Haushaltshilfe im täglichen Leben unterstützt. “Jetzt kann ich zur Ruhe kommen, auch wenn es schlimm ist, was passiert ist”, sagt sie, und auch: “Trotz allem bin ich stark geblieben.”

Und im Rückblick zieht sie folgendes Fazit: “Für mich sind viele Zusammenhänge deutlich geworden, die mit mehr professioneller Unterstützung, Feingefühl und Rücksicht auf FAS vermeidbar gewesen wären.

*Der Name ist auf Wunsch geändert

Autorin: Dagmar Elsen, Journalistin und Initiatorin der Kampagne